Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Erläuterungen zum Gewaltbegriff
3. Rechtliche und geschichtliche Entwicklung von körperlicher Bestrafung in der Erziehung
3.1 Wandel der Erziehungspraktiken im Laufe des 20. Jahrhunderts
3.2 Konsequenzen des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung zu Beginn des 21. Jahrhunderts
4. Erklärungsansätze für die Entstehung aggressiver Verhaltensweisen und gewalttätigen Handelns
4.1 Banduras sozialkognitive Theorie des Lernens am Modell als Erklärungsansatz für das Erlernen aggressiver Verhaltensweisen im familiären Umfeld
4.2 Multikausale Erklärungsansätze für die Entstehung von Gewalt
5. Auswirkungen von Gewalt in der Erziehung
5.1 Körperliche Bestrafung als Disziplinierungsmittel in der wissenschaftlichen Diskussion
5.2 Kurz- und langfristige Folgen von Gewalterfahrungen in der Kindheit
5.3 Einfluss von Schutzfaktoren
6. Präventions- und Interventionsansätze
7. Fazit
1. Einleitung
„Eine Ohrfeige hat noch keinem geschadet“. Dieses alte Sprichwort veranschaulicht, wie lange Zeit körperliche Bestrafungen als probates Erziehungsmittel angesehen wurden. Auch heutzutage teilen immer noch einige Eltern die Auffassung, dass zumindest leichtere Formen der Gewalt in der Erziehung akzeptabel sind. Worauf sich ein solches Erziehungsverständnis begründet und welche Folgen sich daraus ergeben können, wird im Rahmen dieser Arbeit untersucht.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, körperliche Gewalt in der Erziehung aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten sowie Zusammenhänge und Entwicklungsprozesse aufzuzeigen, wofür im Folgenden auf die geschichtliche Entwicklung, die Entstehungsbedingungen, die Folgen und Möglichkeiten der Prävention und Intervention von Gewalt eingegangen wird.
Bevor jedoch eine intensivere Betrachtung dieser Punkte erfolgen kann, ist es im zweiten Kapitel erforderlich, einen Überblick über die Komplexität des Gewaltbegriffes zu gewinnen, um den Begriff der Gewalt näher bestimmen zu können.
Der geschichtliche Hintergrund von Gewalt in der Erziehung wird im dritten Kapitel dieser Arbeit beschrieben, um den gesellschaftlichen Wertewandel von der legitimen Züchtigung eines Kindes bis hin zum Verbot jeglicher Gewalt in der Erziehung nachvollziehen zu können. Hierbei werden verstärkt die letzten hundert Jahre in den Blick genommen.
Im vierten Kapitel werden die Entstehungsbedingungen von körperlicher Gewalt in der Erziehung betrachtet. Dabei werden unterschiedliche Erklärungsansätze herangezogen, um die Entwicklung von Gewalt aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven zu untersuchen. Im ersten Unterpunkt wird auf die sozialkognitive Theorie Albert Banduras eingegangen, da mithilfe dieser gezeigt werden kann, wie bereits im Kindesalter die Auffassung von Gewalt als probates Erziehungsmittel am elterlichen Beispiel erlernt wird. Im zweiten Unterpunkt wird im Rahmen multikausaler und integrativer Erklärungsmodelle auf unterschiedliche Risikofaktoren eingegangen, welche zur Entstehung körperlicher Gewalt in der Erziehung beitragen.
Im fünften Kapitel werden die Auswirkungen körperlicher Gewalt behandelt. Im ersten Unterpunkt wird anhand mehrerer Studienergebnisse evaluiert, ob sich körperliche Bestrafungen unter bestimmten Voraussetzungen als positiv für die kindliche Entwicklung und als effektives Disziplinierungsmittel erweisen. Im zweiten Unterpunkt werden die kurz- und langfristigen Folgen von physischer Gewalt dargestellt, wobei insbesondere die Rolle der Risikofaktoren in den Fokus genommen wird. Im dritten Unterpunkt wird betrachtet, inwiefern Schutzfaktoren die negativen Effekte von körperlicher Gewalt beeinflussen können.
Im sechsten Kapitel wird anschließend untersucht, wie insbesondere der erlernbare Schutzfaktor „Erziehungskompetenz“ dazu beitragen kann, der Entstehung von Gewalt in der Erziehung vorzubeugen. Zudem wird anhand verschiedener Präventions- und Interventionsmaßnahmen darauf eingegangen, wie zukünftig Gewalt in der Erziehung verhindert oder abgewendet werden kann.
Die vorliegende Bachelorthesis ist als Literaturarbeit konzipiert, weshalb die methodische Vorgehensweise hermeneutisch ist. Die Bearbeitung des Themas erfolgt durch die Auswertung wissenschaftlicher Studien und fachgebundener Literatur. Es wird auf aktuelle Bezüge geachtet, wobei auch ältere Veröffentlichungen verwendet werden, insofern sie für die Bearbeitung der Thematik geeignet erscheinen oder Bezüge zu aktuelleren Erkenntnissen hergestellt werden können.
2. Erläuterungen zum Gewaltbegriff
Da „Gewalt in der Erziehung“ der Gegenstand der Arbeit ist, wird im Folgenden definiert, was unter den Begriffen Erziehung und Gewalt verstanden wird, wobei der Schwerpunkt dieses Kapitels auf der komplexen Bestimmung des Gewaltbegriffes liegt.
Angelehnt an Erich Webers Definition, wird unter Erziehung eine soziale Interaktion verstanden, welche zum Ziel hat, einem Menschen dazu zu verhelfen, sich neue Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen sowie Werte und Normen zu verinnerlichen (vgl. Weber 1974, S. 15). In dieser Arbeit wird dabei ein Fokus auf die Erziehung von Kindern durch deren Eltern gelegt.
Für die Definition von Gewalt existiert keine universell gültige Version. Das jeweilige Verständnis von Gewalt ändert sich nicht nur im Laufe der Geschichte, sondern es kann sich auch je nach Gesellschaft und Kultur erheblich voneinander unterscheiden. Da der Gewaltbegriff mehrere Sinngehalte besitzt, ist es notwendig genau zu bestimmen, was unter Gewalt verstanden wird (vgl. Gugel 2006, S. 282). So kann unter Gewalt sowohl die Ausübung von Staatsgewalt verstanden werden als auch die Anwendung von physischer Gewalt auf andere Personen, in deren Folge sie körperliche Verletzungen erleiden (vgl. ebd., S. 48). Bei der Bestimmung von Gewalt muss dabei der jeweilige gesellschaftliche Hintergrund miteinbezogen werden, da dieser einen entscheidenden Einfluss darauf ausübt, was als Gewalt angesehen wird und was nicht (vgl. Mertens, Pankofer 2011, S. 16f.). Der Gewaltbegriff der Weltgesundheitsorganisation hat die größten Aussichten auf internationale Anerkennung, womit eine weltweite Grundlage für die Prävention von Gewalt geschaffen werden kann (vgl. Gugel 2006, S. 282). Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gewalt als die absichtliche Verwendung oder die Ankündigung von körperlicher Dominanz und physischem Zwang gegen einen anderen Menschen, was tatsächlich oder mit großem Risiko in physischen oder psychischen Schäden, dem Eintreten des Todes oder in einer Fehlentwicklung der betreffenden Person resultiert (vgl. Weltgesundheitsorganisation 2003, S. 6). Gewalt ist damit eine schädigende Verhaltensweise, bei welcher ein Machtanspruch gegenüber einer anderen Person geltend gemacht wird (vgl. Korn, Mücke 2000, S. 15f.).
Im wissenschaftlichen Diskurs existiert ein weites und enges Verständnis von Gewalt. Gewalt im engen Sinne beschreibt ausschließlich die physische Verletzung, während ein weiteres Verständnis von Gewalt auch seelische und strukturelle Gewalt miteinschließt (vgl. Andersch 2009, S. 6). Gewalt im Hintergrund von Präventionsarbeit wird meist enger definiert, womit sich Gewalt hierbei nur auf körperliche Gewalt bezieht (vgl. Gugel 2006, S. 14).
Da in dieser Arbeit der Fokus auf körperlicher Gewalt liegt, wird der Gewaltbegriff entsprechend eng gefasst.
Jedoch ist zu beachten, dass bei der Anwendung von physischer Gewalt eine eindeutige Trennung von psychischer Gewalt kaum möglich ist, da körperliche Bestrafungen stets psychische Konsequenzen haben (vgl. Mertens, Pankofer 2011, S. 26f.). Seelische Gewalt ist laut Nicole Andersch ein Bestandteil aller Formen von Misshandlung, womit die Übergänge zwischen physischer und psychischer Gewalt fließend verlaufen (vgl. Andersch 2009, S. 11).
In der aktuellen wissenschaftlichen Debatte wird zur physischen Gewalt zunehmend auch die körperliche Bestrafung gezählt, da die Ansicht zunimmt, dass jede Form von körperlicher Gewalt Kindern schadet (vgl. Heilmann, Mehay, Watt, Kelly, Durrant, van Turnhout, Gershoff 2021, S. 355). Davon ausgehend werden in dieser Arbeit die Begriffe „körperliche Bestrafung“ und „körperliche Gewalt“ synonym verwendet.
Bei körperlichen Bestrafungen in der Erziehung existieren leichtere und schwerere Formen der Gewaltanwendungen, wobei sich diese Arbeit sowohl mit leichten als auch schweren Formen von körperlicher Gewalt in der Erziehung befasst. Was als leichte und was als schwere Form von Gewalt eingestuft wird, ist jedoch individuell unterschiedlich. Exemplarisch ist die Definition der Stärke von Gewalt in den beiden Studien von Christina Bentrup und Dirk Enzmann zu nennen. Sie zählen zu den leichteren Formen von Gewalt in der Erziehung Stoßen, härteres Anfassen und einmaliges Schlagen mit der Hand, während zu den schwereren Formen das Schlagen mit der Faust und Gegenständen sowie Prügel gerechnet werden (vgl. Bentrup 2020, S. 108 und Enzmann 2018, S. 460).
Neben der individuell unterschiedlichen Einstufung was als harte und was als sanfte Form von körperlicher Erziehungsgewalt anzusehen ist, zeigt sich auch die Abgrenzung zwischen einer nicht-misshandelnden und einer misshandelnden körperlichen Bestrafung als problematisch. Was als Misshandlung eingestuft wird, ist von gesellschaftlichen Normen abhängig, wodurch sich die Auffassung, was unter Gewalt und Misshandlung von Kindern zu verstehen ist, in den letzten Jahrzehnten stark geändert hat (vgl. Mertens, Pankofer 2011, S. 27). Auch im wissenschaftlichen Umfeld existiert kein Konsens darüber, was im Bereich körperlicher Strafen als Misshandlung anzusehen ist, da es ist nicht möglich ist zu bestimmen, was einen „sicheren“ Schlag ausmacht. Die Abgrenzung hin zur Misshandlung erfolgt deshalb meist durch eine Beurteilung der Häufigkeit und der Intensität der angewendeten körperlichen Gewalt (vgl. Smith 2006, S. 115).
Frank Neuner versteht unter Kindesmisshandlung elterliche Verhaltensweisen, welche zu einer Schädigung des Kindes führen. Es werden allgemein vier Arten von Kindesmisshandlung unterschieden: körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung und seelische Misshandlung (vgl. Neuner 2012, S. 36f.). Seit einigen Jahren wird zudem von Organisationen wie dem Weißem Ring das Miterleben von häuslicher Gewalt als eine fünfte Form der Misshandlung angesehen (vgl. Weisser Ring 2017, S. 3f.).
Unter körperlicher Misshandlung werden elterliche Handlungen verstanden, welche durch die Anwendung physischer Gewalt beim Kind körperliche und seelische Schäden bewirken bzw. dessen gesunde Entwicklung beeinträchtigen oder mit hoher Wahrscheinlichkeit diese Folgen verursachen (vgl. Mertens, Pankofer 2011, S. 31). Diese Arbeit fokussiert sich auf die physische Erscheinungsform von Gewalt in der Erziehung und bedient sich deshalb Mertens und Pankofers Definition, um körperliche Gewalt gegen Kinder zu beschreiben.
Nachfolgend werden jedoch auch die restlichen Ausprägungsformen von Gewalt kurz beschrieben, um den Unterschied zwischen körperlicher Gewalt und anderen Gewaltformen deutlich zu machen.
Sexuelle Gewalt bezeichnet die Durchführung bzw. den Versuch sexueller Handlungen eines Erwachsenen an einem Kind (vgl. Allroggen u. a. 2018, S. 9). Der Erwachsene begeht dabei einen Machtmissbrauch, da zwischen dem Kind und dem erwachsenen Erzieher eine asymmetrische Machtdynamik besteht, wodurch das Kind dem Willen des Erwachsenen unterworfen ist (vgl. Nieke 2014, S. 24f.). Die körperliche und seelische Entwicklung von Kindern ist zudem noch nicht abgeschlossen, weshalb sie nicht fähig sind, in sexuelle Handlungen einzuwilligen (vgl. Allroggen u. a. 2018, S. 10).
Unter physischer Vernachlässigung wird unterlassene Betreuung und Pflege des Kindes verstanden, woraus gesundheitliche Nachteile für das Kind erwachsen können, wie ein schlechter Ernährungszustand des Kindes (vgl. Neuner 2012, S. 36).
Seelische Misshandlung beinhaltet Verhaltensweisen, welche beim Kind Gefühle erzeugen, dass es ungewollt, störend, belanglos oder nicht geliebt ist, wodurch die Entwicklung der sozialen Integrität des Kindes gefährdet wird (vgl. ebd., S. 37).
Im Allgemeinen tritt keine der vier Gewaltformen lediglich als einmaliges Geschehen auf, sondern meist folgt eine Reihe von gewaltsamen Ereignissen aufeinander, welche sich im Laufe der Zeit immer weiter verstärken, hinsichtlich ihrer Frequenz und Intensität. Im Rahmen von Kindesmisshandlung können sowohl mehrere als auch alle der genannten Gewaltarten auf einmal auftreten, wobei die physische Gewalt bei jeder der anderen Formen immer mit vorhanden ist (vgl. Mertes 2013, S. 32). Bei misshandelten Kindern ist damit nicht nur von der Schädigung durch ein einzelnes Gewalterlebnis auszugehen, sondern von einer komplizierten Wechselwirkung verschiedener Misshandlungen über eine längere Zeitspanne hinweg (vgl. Neuner 2012, S. 37).
3. Rechtliche und geschichtliche Entwicklung von körperlicher Bestrafung in der Erziehung
Beim Blick in die Geschichte wird bewusst, dass die heute als normal geltenden erzieherischen Anschauungen erst seit Kurzem bestehen, woraus geschlossen werden kann, dass vor allem im vergangenen Jahrhundert ein deutlicher gesellschaftlicher Wandel bezüglich geltender Erziehungsvorstellungen stattgefunden hat: körperliche Strafen, wie das Erteilen einer Tracht Prügel, wurde vor einigen Jahrzehnten allgemein als legitime Erziehungsmaßnahme angesehen, heute jedoch gilt eine solche erzieherische Maßnahme juristisch als Straftat (vgl. Hafeneger 2011, S. 117). Beim 20. Jahrhundert handelt es sich damit um eine der wichtigsten Ären hinsichtlich der Entwicklung der Rechte von Kindern (vgl. Schlang 2006, S. 11).
Im Folgenden sollen deshalb zunächst die wichtigsten Veränderungen im Bereich der Erziehungspraktiken im 20. Jahrhundert skizziert werden, bevor im zweiten Unterpunkt darauf eingegangen wird, wie sich nach und nach daraus das heutige Verständnis bezüglich körperlicher Strafen in der Erziehung herausgebildet hat.
3.1 Wandel der Erziehungspraktiken im Laufe des 20. Jahrhunderts
Geschichtlich betrachtet stellen körperliche Züchtigungen seit jeher ein wesentliches Mittel dar, um Überlegenheit zu demonstrieren sowie eine hierarchische Ordnung herzustellen und aufrechtzuerhalten (vgl. Mertens, Pankofer 2011, S. 18). Schon vor Beginn des 20. Jahrhunderts, wird die als korrekt anzusehende Art zu Erziehen in Deutschland über viele Jahrhunderte hinweg von der Kirche stark beeinflusst. Jahrhundertelang wird mit der Bibel begründet, dass es die Pflicht und das Recht der Eltern sei – besonders aber des Vaters, der als Mann in der Familie eine Vormachtstellung innehabe – ihr Kind körperlich zu bestrafen (vgl. ebd., S. 23f.). Im Alten Testament der Bibel werden harte Körperstrafen empfohlen, weshalb aus Erziehungsgründen selbst schwere körperliche Gewalt angewandt wird, um Kinder zur Gehorsamkeit zu erziehen und die in ihnen angelegten schlechten Eigenschaften auszumerzen (vgl. Zenz 1979, S. 35). Eine strenge, strafende und autoritäre Erziehungshaltung dem Kind gegenüber wird als christliche Pflicht angesehen (vgl. Hafeneger 2013, S. 14). Auch im ausgehenden 19. Jahrhundert stellt die Prügelstrafe sowohl im familiären als auch schulischen Kontext eine häufig praktizierte Erziehungsmaßnahme dar. Mit der Anwendung körperlicher Gewalt sollte eine Einschüchterung des Kindes erreicht werden, sodass es nachfolgend unerwünschte Verhaltensweisen unterlässt (vgl. Tolusso, Luginbühl 2017, S. 58f.). Im Jahr 1896 tritt das bis ins Jahr 1958 geltende Züchtigungsrecht des Vaters in Kraft, wodurch dieser offiziell dazu berechtigt wird, sein Kind aus Erziehungsgründen körperlich zu bestrafen (vgl. Müller-Münch 2012, S. 262).
Zu der gesellschaftlichen Erziehungsdebatte zählt bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von Erziehungsliteratur und -ratgebern, welche sich primär an Eltern und Pädagogen richten. Die hohen Auflagen der Ratgeber weisen darauf hin, dass ihnen für die Erziehungsrealität der Familien im 20. Jahrhundert ein hohes Gewicht zukommt (vgl. Hafeneger 2011, S. 58). Einen thematischen Schwerpunkt der Ratgeber bildet die elterliche Strafpraxis. Hierbei lautet bis in die 1960-er Jahre der Grundtenor, dass für eine gelingende Erziehung Strafen notwendig sind. Das Strafsystem reicht dabei von Appellen über leichtere körperliche Strafen bis hin zur Prügelstrafe. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erlangen vor allem solche Ratgeber den Rang von Bestsellern, welche einen autoritären Erziehungsstil vertreten. Zu den größten Erfolgen unter der deutschen Erziehungsliteratur gehört Johanna Haarers 1934 erschienenes Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, welches eine konservativ-autoritäre Erziehungsauffassung propagiert. Sowohl zur Zeit des Nationalsozialismus als auch ab 1954 unter leicht geändertem Titel wird Haarers Buch in Deutschland breit rezipiert (vgl. ebd., S. 59f.). Haarers nationalsozialistische Weltanschauung zeichnet sich auch in ihrem Ratgeber ab (vgl. Uebelhart, Forcella 2017, S. 97). Das Kind soll zu absolutem Gehorsam und Einfügung unter Autoritäten erzogen werden, wobei Haarer das gezielte Einsetzen von körperlichen Bestrafungen für das Gelingen der Erziehung für notwendig hält (vgl. ebd., S. 99).
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ist die führende Meinung, dass die Erziehungsmethode der körperlichen Bestrafung unerlässlich ist, um Disziplin und Fügsamkeit beim Kind zu erreichen. Die bestrafende Person ist dabei meist der Vater, welchem traditionsgemäß das Züchtigungsrecht vorrangig zusteht. Die körperliche Bestrafung soll nach allgemeiner Ansicht in Stärke und Dauer so bemessen sein, dass die Disziplinierung vom Kind als schmerzhaft empfunden wird, jedoch nicht in dem Maße, dass es dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen davontragen würde (vgl. Hafeneger 2013, S. 22). In der Nachkriegszeit ist das vorrangige Ziel der Eltern, ihre Kinder zur Folgsamkeit zu erziehen, wie Umfragen aus den 1950-er und 60-er Jahren ergeben, was sich auch schon damals in Teilen der Elternschaft in übermäßigen körperlichen Bestrafungen ihrer Kinder äußert. Vor diesem Hintergrund wird im Jahr 1953 der Deutsche Kinderschutzbund in Hamburg gegründet (vgl. Müller-Münch 2012, S. 94f.). Dieser setzt sich fortan für misshandelte Kinder und deren Rechte ein (vgl. Schlang 2006, S. 10).
Nachdem im Jahr 1958 die Frau dem Mann gesetzlich gleichgestellt wird, wird der seit dem Jahr 1896 geltende §1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches in seiner bis dahin geltenden Fassung gestrichen, welcher dem Vater das alleinige Züchtigungsrecht seiner Kinder zuspricht. Trotzdem gilt in den folgenden Jahrzehnten das Züchtigungsrecht gewohnheitsrechtlich weiterhin (vgl. Müller-Münch 2012, S. 263). In den 1950-er und 60-er Jahren wird eine repräsentative Befragung in der Bundesrepublik durchgeführt, welche zu dem Ergebnis gelangt, dass das autoritäre Vorgehen in der Erziehung von den 1950-er in die 60-er zwar leicht abnimmt, jedoch noch im Jahr 1965 70% der befragten Eltern angeben, dass autoritäre Erziehungsziele wie Fügsamkeit und Unterordnung als von ihnen als zentral angesehen werden. Eine weitere Untersuchung kommt im Jahr 1965 zu dem Ergebnis, dass 85% der Eltern Prügel mit einem Stock als essenzielles Erziehungspraktik ansehen (vgl. Weber 1974, S. 27f.).
In der Fachliteratur der 1960-er Jahre findet derweil eine Auseinandersetzung über die pädagogischen Voraussetzungen von Strafen statt. Heinrich Rombach plädiert dafür, dass lieber zu viel als zu wenig gestraft werden sollte (vgl. Rombach 1967, S. 30). Strafen sollten dabei jedoch auch immer einen pädagogischen Hintergrund haben, also auf die Besserung einer fehlerhaften Verhaltensweise des Kindes aus sein (vgl. ebd., S. 25). Auch Richard Fackler beschäftigt sich mit Disziplinierungsmethoden in der Erziehung und kommt zu dem Schluss, dass zu den legitimen Formen elterlicher Strafgewalt die körperliche Züchtigung und selbst schwerere Formen dieser miteinzuschließen sind (vgl. Fackler 1967, S. 74). Im Gegensatz zu diesen konservativeren Stimmen gibt es jedoch auch schon in den 1960-er Jahren Pädagogen, die sich gegen die strafende Pädagogik jener Zeit, die körperliche Bestrafungen befürwortet, ausspricht. Gottfried Heinelt sieht die harte Strafpraxis der vorangegangenen Jahrzehnte mit ihren Prügelstrafen aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse als überwunden an und warnt bereits vor den Gefahren, die mit körperlicher und seelischer Gewalt in der Erziehung einhergehen (vgl. Heinelt 1967, S. 65f.). Franz Pöggeler weist darauf hin, dass besonders bei der körperlichen Züchtigung von Kindern eine starke Selbstkontrolle des Strafenden notwendig ist, um die Körperstrafe nicht in Misshandlung ausarten zu lassen. Zudem rät Pöggeler davon ab, Kinder zu häufig zu schlagen, da dies langfristige Schäden bei Kindern hervorrufen und eine Spirale der Gewalt auslösen kann, wenn körperlich misshandelte Kinder als Erwachsene ebenfalls an Kinder Gewalttaten begehen (vgl. Pöggeler 1967, S. 99f.). Allgemein empfiehlt Pöggeler Kinder selten zu bestrafen und nur extrem selten körperlich zu bestrafen. Er erkennt jedoch auch an, dass der Erziehungsalltag anders aussieht und Kinder häufig gezüchtigt werden (vgl. ebd., S. 107).
In den darauffolgenden 1970-er Jahren werden Strafen auch in der allgemeinen Gesellschaft zunehmend kritisch betrachtet (vgl. Richter 2018, S. 111).
Der Hintergrund dieser neuen Auffassung liegt in den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen begründet, welche im Laufe der 1960-er Jahre stattfinden und dazu führen, dass der autoritäre Erziehungsstil an Popularität verliert und sich im Zuge dessen auch die ehemals patriarchalisch organisierte Familie vermehrt in eine partnerschaftliche Familie übergeht (vgl. Hafeneger 2011, S. 64).
Eine grundlegende gesetzliche Änderung gibt es zudem im Jahr 1968, als das Bundesverfassungsgericht das in Artikel 6, Absatz 2 des Grundgesetzes beschrieben „Elternrecht“ in „Elternverantwortung“ abändert. Im Rahmen dieser Gesetzesänderung sind Eltern nun dazu verpflichtet, Erziehungsmaßnahmen am Kindeswohl auszurichten. Dabei wird dem Kind auch ein Anspruch auf Schutz durch den Staat eingeräumt, wenn dessen Eltern ihren Erziehungsauftrag nicht zu seinem Wohle ausrichten (vgl. Müller-Münch 2012, S. 264f.).
Schweden beschließt im Jahr 1979 ein zukunftsweisendes Gesetz, welches körperliche Bestrafungen in der Erziehung verbietet. Obwohl sich zunächst 70% der Bevölkerung gegen ein solches Gesetz und für Gewalt in der Erziehung aussprechen, findet in den folgenden Jahrzehnten in der schwedischen Bevölkerung ein Einstellungswandel statt, sodass in den 1990-er Jahren bereits über 90% der Schweden dem Gesetz zur Gewaltfreiheit in der Erziehung positiv gegenüberstehen. Um die gesellschaftliche Akzeptanz trotz anfänglicher Abneigung des Gesetzes zu erlangen, startet Schweden schon 1975 umfangreiche Aufklärungskampagnen in der Bevölkerung, wobei Eltern mit alternativen, gewaltfreien Erziehungsmethoden vertraut gemacht werden (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2003, S. 8f.). Die mehrjährige Dauer der öffentlichen Akzeptanz eines gewaltverbietenden Gesetzes in Schwedens Beispiels zeigt auch, dass es eine gewisse Zeit braucht, bis sich ein solches Gesetz auch in der Erziehungsrealität niederschlägt. Dies ist auch teilweise in den stattfindenden intergenerationalen Weitergabeprozessen der betreffenden Erziehungsmethoden begründet (vgl. Bentrup 2020, S. 116).
In Deutschland ist man zu dieser Zeit von einem Gesetz zur Gewaltfreiheit in der Erziehung noch weit entfernt. Im Jahr 1980 wird lediglich im §1626 des Bürgerlichen Gesetzbuches die „elterliche Gewalt“ durch die „elterliche Sorge“ ersetzt (vgl. Richter 2018, S. 49). Zudem sind „entwürdigende Erziehungsmaßnahmen“ untersagt. Jedoch ist es Eltern weiterhin erlaubt ihre Kinder in einem angemessenen Maß körperlich zu züchtigen, insofern die erteilte Strafe der vorherrschenden sittlichen Einstellung entspricht (vgl. Weisser Ring 2017, S. 8). Was dies konkret bedeutet, zeigt sich in einem Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 1986, als das Gericht entscheidet, dass das Schlagen eines Kindes mit einem Gegenstand – in diesem Fall ein stabiler Wasserschlauch – rechtlich zulässig ist und keine entwürdigende Erziehungsmaßnahme darstellt, ungeachtet dessen, dass dem betreffenden Kind dabei Striemen an seinen Oberschenkeln und Hintern zugefügt wurden (vgl. Müller-Münch 2012, S. 267f.).
Indem die Bundesrepublik im Jahr 1992 die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen anerkennt, verpflichtet sie sich damit Gesetze zu veranlassen, welche Kindern den Schutz vor physischer und psychischer Gewalt zusichern. Mit der Kindschaftsrechtsreform wird im Jahr 1998 im §1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches die Formulierung eingefügt, dass neben entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen auch körperliche sowie seelische Misshandlungen fortan verboten sind (vgl. ebd., S. 268f.). Das damit nur noch eingeschränkt geltende Züchtigungsrecht der Eltern kann fortan nur noch in den Fällen angewendet werden, in welchen die Bestrafung als nicht entwürdigend für das Kind angesehen wird (vgl. Bentrup 2020, S. 99).
3.2 Konsequenzen des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Erst im Jahr 2000 wird das elterliche Recht auf Züchtigung ihres Kindes offiziell abgeschafft, da die in Deutschland im Jahr 1990 in Kraft getretene Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen besagt, dass Kinder vor jeglichen Formen von Gewalt in der Erziehung zu schützen sind. Somit wird §1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches ein weiteres Mal abgeändert, sodass er bis heute besagt, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Dabei wird ausdrücklich festgestellt, dass körperliche Bestrafungen in der Erziehung von nun an untersagt sind (vgl. Bentrup 2020, S. 99f.). Seit Inkrafttretens des Gesetzes sind jegliche Formen körperlicher Gewalt zu Erziehungszwecken verboten, darunter auch leichte Formen von Gewalt wie Klapse und Ohrfeigen (vgl. Bussmann 2005b, S. 259). Der Verstoß gegen §1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches führt allerdings nicht zu strafrechtlichen Konsequenzen, da es sich lediglich um eine zivilrechtliche Regelung handelt. Daher wird zum einen bei Nichteinhaltung des Gesetzes keine Strafverfolgung eingeleitet und zum anderen besteht auch keine Klagemöglichkeit für betroffene Kinder, wenn das Gesetz nicht eingehalten wird (vgl. Weisser Ring 2017, S. 10). Nach den Rechtswissenschaftlern Wessels und Beulke gilt dies vor allem, wenn die ausgeführte Gewalt unerheblich ist, wie z. B. bei einem leichten Schlag auf den Hintern des Kindes (vgl. Richter 2018, S. 50). Erst wenn die Anwendung der körperlichen Gewalt einen gewissen Intensitätsgrad erreicht, drohen den Eltern strafrechtliche Konsequenzen, da in solchen Fällen der Straftatbestand des §223 des Strafgesetzbuches zur Körperverletzung greift. Jedoch wird auch hierbei nur in besonders schweren Fällen der Gewaltausübung die Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft eingeleitet. Anstelle von strafrechtlichen Konsequenzen wird präferiert die betreffende Familie durch sozialpädagogische und therapeutische Hilfen zu unterstützen (vgl. Müller-Münch 2012, S. 272). Durch die Novellierung des §1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches verändert sich auch die Feststellung der Kindeswohlgefährdung nach §1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches, die nun auch bei Zwang und körperlicher sowie seelischer Gewalt in der Erziehung greift. Ebenso werden die Eingriffsmöglichkeiten des Jugendamts und Sozialdienstes erweitert, wenn Gewalt in der Erziehung vorkommt, wodurch auch die Strafverfolgung der Eltern gemieden werden soll. Nur wenn §8a des achten Sozialgesetzbuches greift, also Gefahr im Verzug ist und es erforderlich ist, das Kind aus einer gefährlichen Situation zu entfernen, wird die Polizei benachrichtigt (vgl. Bentrup 2020, S. 100). Das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung besitzt damit mehr eine symbolische Funktion, durch welche es in der Gesellschaft zu einer allgemein anerkannten Tatsache werden soll, dass Kinder die Träger von Rechten sind – auch im Rahmen ihrer Erziehung. Denn tendieren Eltern umso öfter zur Anwendung seelischer und körperlicher Gewalt, wenn sie ihre Kinder als rechtlos und ihr Eigentum ansehen (vgl. Bussmann 2005b, S. 260).
Um das Recht auf gewaltfreie Erziehung auch in der Praxis zu realisieren, werden verschiedene Regelungen getroffen. Zum einen wird im Rahmen der Änderung des §1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches wird auch das Kinder- und Jugendhilfegesetz erweitert. Der Absatz 1 des §16 des achten Sozialgesetzbuches besagt nun, dass die Jugendhilfe eine gewaltfreie Erziehung in der Familie fördern soll, indem sie die Eltern mithilfe von Angeboten darin unterstützen problematische Situation gewaltfrei zu lösen. Dabei wird auch auf die Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz gesetzt, damit diese auch in Krisensituation mithilfe gewaltfreier Erziehungsalternativen ihre Kinder erziehen können (vgl. Bundeskonferenz für Erziehungsberatung 2000, S. 3).
Zum anderen begleitet von September des Jahres 2000 bis zum Jahr 2002 die Kampagne „Mehr Respekt vor Kindern“ die Gesetzesänderung. Sie hat zum Ziel, das Gesetz zur Gewaltfreiheit in der Erziehung in der breiten Bevölkerung bekannt zu machen und besonders die Eltern auf die Gefahren von Gewalt in der Erziehung zu verweisen. Die Kampagne soll dabei einen gesellschaftlicher Einstellungswandel gegenüber Gewaltanwendung zu Erziehungszwecken mitbewirken. Ein weiterer Aspekt der Kampagne ist es, Eltern gewaltfreie Alternativen in Konfliktsituationen nahe zu bringen. Die Rückmeldungen aus der Bevölkerung zeigen, dass die Kampagne erfolgreich verlaufen ist. Laut einer Untersuchung von Kai Bussmann zeigen sich 85% der Bevölkerung der Gesetzesänderung gegenüber aufgeschlossen und halten eine gewaltfreie Erziehung für ein wichtiges Ziel. Zudem geben 57% der Befragten an, dass sie ihre Kinder nicht aus Überzeugung körperlich bestrafen, sondern aus Hilflosigkeit. Doch auch trotz dieser das Gesetz begleitenden Regelungen, findet körperliche Gewalt in der Erziehung immer noch statt: zum einen bei der Gruppe der Pro-Gewalt eingestellten Eltern, zum anderen bei der Gruppe, der aus Überforderung und Alternativlosigkeit schlagenden Eltern. Deshalb sind für diese Gruppen auch weiterhin Unterstützungsmaßnahmen notwendig, damit auch bei diesen das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung Anwendung finden kann (vgl. Dwertmann 2003, S. 51f.).
Zwar vermag allein das gesetzliche Verbot der Gewalt in der Erziehung nicht direkt die Verhaltensweisen von Menschen beeinflussen, jedoch kann es indirekt beeinflussen, was Eltern unter „Gewalt“ verstehen und sie für die gewalthaltigen, nun verbotenen Handlungen sensibilisieren. Bussmanns Studie untersucht im Langzeitvergleich zwischen den Jahren 1994 und 2001, wie sich die Auffassungen von Eltern gegenüber Gewalt ändern. Es zeigt sich, dass im Jahr 2001, also ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Gewaltfreiheit in der Erziehung, statt 37% nunmehr 48% der Befragten eine Tracht Prügel als Gewalt ansehen. Somit kann davon ausgegangen werden, dass aufgrund der symbolischen Wirkung der Reform Gewaltkonzepte von Eltern strenger gefasst werden und dadurch ihre Hemmungen gegenüber Gewaltanwendungen zunehmen (vgl. Bussmann 2005a, S. 253f.). Bussmann weist darauf hin, dass die Rechtsreform ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten noch nicht bewirken kann, dass die Gewalt in der Erziehung signifikant absinkt, was jedoch aufgrund der kurzen Zeit, in der das neue Gesetz besteht, auch nicht zu erwarten ist. Dafür bewirkt die symbolische Wirkung des Gesetzes, dass die Gesellschaft für die Wahrnehmung körperlicher Bestrafungen als Gewalt sensibilisierter ist und damit ein besseres Problembewusstsein gegenüber körperlicher Gewalt in der Erziehung erreicht werden kann (vgl. Bussmann 2005a, S. 256f.).
Um zu sehen, wie das Verbot von Körperstrafen, weltweit betrachtet, Auswirkungen auf eine Gesellschaft hat, führt Dirk Enzmann eine internationale Studie in 30 Ländern auf den europäischen, asiatischen und amerikanischen Kontinenten durch. Die Studienergebnisse zeigen einen Zusammenhang zwischen dem in einem Land geltenden Verbot von Körperstrafen in der Erziehung und dem Ausmaß elterlicher Gewalt, wobei auch der Migrantenstatus und das Niveau des Human Development Index (HDI), welches sich aus dem Einkommen, dem gesundheitlichen Status und dem Bildungsniveau einer Gesellschaft berechnet, eine Rolle spielt (vgl. Enzmann 2018, S. 456). Insofern der Migrantenstatus und der HDI der Länder statistisch kontrolliert werden, zeigt sich in der Studie, dass in Ländern mit einem Verbot körperlicher Gewalt in der Erziehung die Prävalenz von Körperstrafen deutlich niedriger ist als in Ländern, in welchen kein Verbot herrscht. Ein besonders deutlicher Zusammenhang zwischen dem niedrigeren Vorkommen von Körperstrafen und dem Verbot dieser, zeigt sich dabei in Ländern, in welchen das Verbot schon seit längerer Zeit gilt (vgl. ebd., S. 471f.).
Besonders in Fällen von Gewalt in der Erziehung existiert nur eine geringere Anzeigebereitschaft, was unter anderem der Grund dafür ist, dass bei behördlichen Statistiken die Hellfelddaten nur wenig aussagekräftig sind und von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Deswegen ist es für das Erhalten eines repräsentativen Bildes notwendig, sich auf Selbstberichte von Befragten zu beziehen. Im Fall der Untersuchung von Gewalt in der Erziehung werden dabei Eltern und Kinder zu ihren Erfahrungen befragt. Aufgrund von groß angelegten, bundesweiten Studien durch Kai Bussmann und des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens, ist die Datenlage in Deutschland zu leichten und schweren Formen von Gewalt in der Erziehung als gut anzusehen (vgl. Bentrup 2020, S. 100). Die durch das Bundesministerium geförderte Evaluationsstudie von Bussmann anlässlich der Rechtsreform im Jahr 2000 zeigt, dass von den Jahren 1992 zu 2002 ein deutlicher Rückgang von leichten wie auch schweren Körperstrafen zu verzeichnen ist. So gaben 30% der Befragten im Jahr 1992 an, eine Tracht Prügel erhalten zu haben, im Jahr 2002 dagegen nur noch 3% der Teilnehmer. Dieses Absinken der Gewalt verdeutlicht auch den gesellschaftlich stattfindenden Paradigmenwechsel der letzten Jahre (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2003, S. 52). Auch die Beweggründe für die Gewaltanwendungen änderten sich im Laufe des letzten Jahrhunderts: während Eltern der 1950-er und 60-er Jahren noch Körperstrafen in der Überzeugung anwenden, dass diese legitime und wirkungsvolle Erziehungsmethoden darstellen, greifen Eltern im Jahr 2012 nur mit schlechtem Gewissen und aus Überforderung zu körperlicher Gewalt in der Erziehung (vgl. Müller-Münch 2012, S. 259f.). Dies liegt auch darin begründet, dass die Eltern-Kind-Beziehung zunehmend als partnerschaftliches und nicht als hierarchisches Verhältnis begriffen wird (vgl. Bussmann 2003, S. 2).
Aktuelle Untersuchungen im deutschsprachigen Raum kommen zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass im Laufe der letzten Generationen vor allem die leichteren Formen körperlicher Gewalt in der Erziehung langsam abnehmen (vgl. Sutterlüty 2020, S. 4).
Dass auch die politische Einstellung mit der Befürwortung von körperlicher Gewalt korreliert, zeigt eine Studie von Clemens et. al.: Menschen, die angeben, die AfD zu wählen, zeigen die höchste Zustimmung bezüglich der Anwendung von körperlicher Gewalt in der Erziehung (vgl. Clemens, Decker, Plener, Brähler, Fegert 2019, S. 453). Die Erziehungsansichten werden als zentrale Determinante für die tatsächlich angewendeten Erziehungsmethoden angesehen. So besteht eine klare Korrelation zwischen der Anwendung von Körperstrafen und der Einstellung zur körperlichen Bestrafung (vgl. ebd., S. 458). Die Teilnehmer der Studie, welche autoritäre und rechtsextreme Sichtweisen vertreten, zeigen zudem eine größere Neigung zur Akzeptanz schwerer Formen von körperlichen Bestrafungen, wie starken Ohrfeigen (vgl. ebd., S. 462).
Ein internationaler Ländervergleich zeigt jedoch auch, wie unterschiedlich nationale Entwicklungen und der Wandel gesellschaftlicher Auffassungen verlaufen können: während in entwickelten, europäischen Ländern wie Schweden jegliche Formen von Gewalt in der Erziehung seit Jahrzehnten verboten sind, ist in mehreren Bundesstaaten der USA, selbst in den Schulen, noch körperliche Gewalt aus Erziehungsgründen gestattet (vgl. Hafeneger 2011, S. 117).
Abschließend betrachtet lässt sich feststellen, dass im Laufe der letzten hundert Jahre ein deutlicher Einstellungswandel in der deutschen Bevölkerung hinsichtlich der Akzeptanz körperlicher Gewalt in der Erziehung stattgefunden hat, was sich letztendlich auch auf die Entwicklung der Prävalenz körperlicher Gewalt ausgewirkt hat, welche seit einigen Jahrzehnten langsam abnimmt. Der gesellschaftliche Paradigmenwechsel ist dabei, neben einer zunehmenden Abkehr von der strafenden Pädagogik im 20. Jahrhundert, auch auf den Einfluss gesetzlicher Regelungen, wie das im Jahr 2000 in Kraft getretene Züchtigungsverbot zurückzuführen.
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