Frauen und Sucht. Reproduktion kultureller und gesellschaftlicher Normen von Weiblichkeit im Bereich der Medikamentenabhängigkeit


Bachelorarbeit, 2022

49 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung - Alkoholkranke Manner, Medikamentenabhangige Frauen

2. Geschlecht
2.1. „Sex“ und „Gender“
2.2. „Doing Gender“

3. Sucht und Abhangigkeit
3.1. Definition der Begriffe „Sucht“ und „Abhangigkeit“
3.2. Unterscheidung von substanzgebundenen und substanzungebundenen Suchten
3.3. Diagnosekriterien einer Abhangigkeitserkrankung nach ICD - 10 und DSM - 5
3.4. Entstehung von Sucht

4. Sucht und Geschlecht

5. Geschlecht und Medikamentenabhangigkeit
5.1. Medikamentenabhangigkeit in Deutschland
5.2. Haufig konsumierte Substanzen und die Wirkung von Benzodiazepinen

6. Weibliche Risikofaktoren und gesellschaftliche Geschlechternormen in Bezug auf die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Medikamentenabhangigkeit bei Frauen
6.1. Geschlechtsspezifisches Gesundheitsverstandnis und Gesundheitsverhalten
6.2. Medikalisierung weiblicher Lebens-und Umbruchphasen
6.3. Zusammenhang von Geschlechterrolle und Schmerzerleben
6.4. „Doing Gender“, weibliche Sozialisation und weiblicher Geschlechterhabitus

7. Fazit - Die Kategorie Geschlecht neu denken

Literatur- und Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung - Alkoholkranke Manner, Medikamentenabhangige Frauen

„Wenn wir von Alkohol sprechen, sieht man klar, dass riskanter Konsum vor allem
bei jungeren Mannern verbreitet ist. Das kann einfach an
Mannlichkeitsvorstellungen liegen - man ist dann ein toller Typ und kann viel
vertragen. Auch im Erwachsenenalter sind Manner haufiger alkoholkrank. Frauen
trinken, jetzt mal klischeehaft gesagt, eher nicht offentlich, also lieber geheim und zu
Hause“ (Auer 2020).

Dieses Zitat stammt von Frau Dr. Anne Koopmann, Facharztin fur Psychiatrie und Psychotherapie sowie Oberarztin und Sprecherin am Zentralinstitut fur Seelische Gesundheit in Mannheim im Interview mit Planet Wissen zum Thema Drogen in der Gesellschaft. Ihrer Aussage kann man bereits entnehmen, dass die Kategorie Geschlecht und die damit verbundenen Geschlechterrollen und Normen, die man Mannern und Frauen zuordnet, sich auch im Bereich der Sucht und im Suchtverhalten zeigen. Dies zeigt sich unter anderem auch an der zahlreichen Literatur zu Frauenspezifischer Suchtarbeit und Gender Mainstreaming im Suchthilfebereich. Man geht davon aus, dass Manner und Frauen jeweils anders suchtig sind. Hier spielen sowohl die bevorzugten Substanzen, die konsumiert werden eine Rolle aber auch das Suchtverhalten an sich weist deutliche Unterschiede auf, wie im vorangegangenem Zitat bereits skizzenhaft beschrieben wurde. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede werden auch in der Praxis der Suchthilfe seit geraumer Zeit beachtet und man versucht im Rahmen des bereits erwahnten Gender Mainstreaming die geschlechtsspezifischen Lebensbedingungen und Einflusse von Geschlecht auf die Sucht zu beachten. Auch, wie uber weibliche Sucht geschrieben und berichtet wird, zeigt typische Geschlechterstereotype auf. Denn wenn von weiblicher Sucht beziehungsweise von suchtigen Frauen gesprochen wird, passiert dies haufig im Zusammenhang mit Schlagworten wie beispielsweise „still“, „heimlich“ oder „hilflos“. Dafur muss man sich nur einmal die Uberschriften von verschiedenen Artikeln, die die weibliche Sucht als Thema behandeln, anschauen. „Die stille Sucht der Frauen“ liest man beispielsweise als Uberschrift eines Artikels des Deutschen Arzteblatt (vgl. Deutsches Arzteblatt 2017, S.448), „Suchtkranke Frauen: Teufelskreis der Abhangigkeit“ heiftt ein anderer Artikel aus dem Jahr 2007 (vgl. Deutsches Arzteblatt 2007, S.2787). Von der „stillen“ Sucht liest man dann besonders haufig, wenn es um Medikamentenabhangigkeit geht. Denn im Gegensatz zu Suchtmitteln wie beispielsweise Opioide oder Kokain, die allgemein als harte Drogen wahrgenommen werden und vor allem von Mannern konsumiert werden, findet man unter den Abhangigen von Medikamenten, die haufig Benzodiazepin haltige Tabletten konsumieren, einen auffallig hohen Frauenanteil. Dies soll jedoch keinesfalls suggerieren, dass Frauen nicht auch nach anderen Substanzen wie zum Beispiel Alkohol, Heroin oder Kokain suchtig sein konnen.

In der vorliegenden Bachelorarbeit mochte ich mir den Bereich der Medikamentenabhangigkeit genauer anschauen und herausarbeiten, welche kulturellen und gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen von Weiblichkeit und „Frau - Sein“ dort reproduziert werden. Hierfur mussen einige Fragen gestellt werden. Wie kommt es, dass genau diese Abhangigkeit von Frauen dominiert wird und Manner nicht so oft davon betroffen sind? Welche Geschlechterstereotype und Rollenbilder werden durch den Konsum verschreibungspflichtiger Medikamente produziert und aufrechterhalten? Welche Einfluss- und Risikofaktoren gibt es moglicherweise bei Frauen, die die Entstehung einer Medikamentenabhangigkeit begunstigen und bei Mannern nicht vorherrschen? Welche Muster und Vorstellungen von Weiblichkeit, die in unserer Gesellschaft als normal gelten, kann man darin sehen und wie zeigt sich das Konzept des „Doing Gender“? Welchen Einfluss hat moglicherwiese die weibliche und medizinische Sozialisation von Madchen und Frauen auf die Entstehung einer Medikamentenabhangigkeit?

Anhand dieser vielen Teilfragen mochte ich die bereits beschriebene Fragestellung, welche kulturellen und gesellschaftlichen Normen von Weiblichkeit in Bezug auf die Medikamentenabhangigkeit von Frauen zu finden sind und in diesem Bereich eine Rolle spielen, beantworten.

Da die Kategorie Geschlecht und das Konzept des „Doing Gender“ eine mafygebende Rolle fur die Fragestellung, die ich bearbeiten mochte, darstellen, wird im Folgenden zu aller erst der Unterschied zwischen den Kategorien „Sex“ und „Gender“ erklart, um danach die Theorie des „Doing Gender“ zu erlautern. Denn um sich mit Geschlechterrollen und Normen zu beschaftigen, muss man sich davor bewusst machen, wie Geschlecht und eine Geschlechtsidentitat uberhaupt produziert wird und welche Rolle diese Prozesse im Alltag spielen.

Anschlieftend soll der Begriff der Sucht erlautert werden. Ab wann spricht man von Missbrauch, ab wann von Abhangigkeit oder Sucht und welche Diagnosekriterien gibt es, die erfullt werden mussen?

Das Trias Modell wird als ein Erklarungsansatz der Entstehung von Abhangigkeit herangezogen und eine kurze Unterscheidung zwischen stoffgebundenen und nicht - stoffgebundenen Suchten wird vorgenommen, bevor es um Sucht und Geschlecht geht. Hier wird auf geschlechtsspezifische Aspekte von Abhangigkeitserkrankungen eingegangen.

Abschlieftend konzentriere ich mich auf den Bereich der Medikamentenabhangigkeit bei Frauen. In Zuge dessen werden verschiedene Bereiche angeschnitten, die alle einen Einfluss auf die Entstehung einer Medikamentenabhangigkeit haben konnen aber auch weibliche Geschlechterstereotype und Normen von Weiblichkeit verdeutlichen. Hier wird zum Beispiel das unterschiedliche Gesundheitsverstandnis und Gesundheitsverhalten von Frauen und Mannern thematisiert, die medizinische Sozialisation von Madchen und Frauen beschrieben aber auch auf die allgemeine weibliche Sozialisation eingegangen und beschrieben, welche vorherrschenden Normen von Weiblichkeit erfullt werden mussen, um als Frau wahrgenommen zu werden. Bei all diesen Themen werde ich einen Bezug zur vorherrschenden Medikamentenabhangigkeit von Frauen herstellen.

Zum Schluss mochte ich noch darauf hinweisen, dass ich im Laufe der Arbeit genderneutrale Sprache, wie beispielsweise „Klient*innen“, verwenden werde, um auch Personen einen Platz zu geben, die sich keiner der beiden Kategorien „mannlich“ oder „weiblich“ zugehorig fuhlen und sich nicht in das binare System einordnen lassen. Zitate, in denen diese Form der genderneutralen Sprache nicht verwendet wird, andere ich jedoch nicht ab und gebe diese wortgetreu wieder.

2. Geschlecht

Um zu verstehen, was unter der performativen Erzeugung von Geschlecht zu verstehen ist und wie dies mit den gesellschaftlichen und kulturellen Normen und Vorstellungen von Mannlichkeit und Weiblichkeit zusammen hangt, muss zunachst definiert werden, welche Unterschiede es zwischen den beiden Kategorien „Sex“ und „Gender“ gibt und was sie bedeuten. Beide Begriffe stammen aus dem englischen Sprachgebrauch und lassen sich im deutschen mit „Geschlecht“ ubersetzen. Sie beschreiben jedoch zwei unterschiedliche Arten beziehungsweise Dimensionen der Kategorie Geschlecht. Nachdem diese Begriffe definiert wurden, wird es um Geschlecht als performative Kategorie gehen und damit erklart, welches Verstandnis von Geschlecht dieser Arbeit zu Grunde liegt.

2.1. „Sex“ und „Gender“

„Biologisches Geschlecht (sex) ist eine Tatsache, gesellschaftliches
Geschlecht (gender) ist eine historische und kulturbedingte Schopfung“
(Opitz - Belakhal 2010, S.11 zit. nach Lerner 1984, S.406).

Dieses Zitat von Opitz - Belakhal bringt den Unterschied zwischen „Sex“ und „Gender“ bereits sehr gut auf den Punkt. Die Kategorie „Sex“ bezeichnet das biologische Geschlecht, das einem Menschen heutzutage oftmals bereits vor der Geburt zugeordnet wird, spatestens jedoch nach der Geburt des Kindes identifiziert wird. Das biologische Geschlecht wird an bestimmten Geschlechtsmerkmalen, wie beispielsweise den Geschlechtsorganen, festgemacht und eine medizinische Zuordnung zu dem „weiblichen“ oder „mannlichen“ Geschlecht wird vorgenommen. Demnach ist man in unserer Gesellschaft ein Mann, wenn ein Penis vorhanden ist und eine Vulva wird Frauen zugeordnet. Diese Zuordnung wird also allein „durch das Ansehen des nackten Kinderkorpers [...] vorgenommen“ (Vogt 2007, S.235 zit. nach Goffmann 1994, S.107f.) und bringt eine ganze Kette von Erwartungen und Zuschreibungen mit sich. Das zugeordnete biologische Geschlecht schrankt beispielsweise auch haufig ein welche Namen man dem Kind geben kann und bestimmt zudem, welche Pronomen andere Personen verwenden, wenn sie uns ansprechen oder uber uns reden (vgl. ebd.). Wir werden also ab dem Moment unserer Geburt und mit der Zuweisung des biologischen Geschlechts klassifiziert und lernen „[a]m Beispiel unseres eigenen Geschlechts [...] von Kindsbeinen an, was soziale Zuordnung heiftt und wie man diese macht“ (ebd., S.236). Denn Menschen „mussen“ sich eindeutig in die Kategorie mannlich oder weiblich einordnen lassen. Bei den meisten Personen bleibt diese biologische Zuordnung und die damit verbundenen biologischen Geschlechtsmerkmale das ganze Leben lang unverandert, da diese direkt an bestimmte Korperteile gekoppelt ist und demnach nur durch Eingriffe und Operationen verandert werden konnten.

Dem sozusagen Gegenuber steht der Begriff „Gender“, was im deutschen zwar auch mit Geschlecht ubersetzt werden kann aber eher als Geschlechtsidentitat bezeichnet wird. „Gender“ ist das kulturelle, beziehungsweise das soziale Geschlecht, das „sich nicht kausal aus dem biologischen Geschlecht (sex) ableiten lasst“ (Meissner 2008, S.3). Gender kann als „soziale Konstruktion von Weiblichkeit und Mannlichkeit' beschrieben werden und „durchdringt unserer Erfahrungs- und Lebenswelten in allen Dimensionen“ (Laging 2020, S.78). Es wird oft „als die Summe der psychologisch bzw. gesellschaftlich bestimmten Normen und Vorstellungen verstanden“ (Opitz - Belakhal 2010, S. 11) und verweist „auf die soziale, gesellschaftliche und kulturelle Konstruktion der Geschlechterrollen und das Verhaltnis der Geschlechter zueinander“ (Laging 2020, S.78). Im Gegensatz zum biologischen Geschlecht, also dem „Sex“, ist „Gender“ nicht schon von Geburt an durch korperliche Merkmale festgelegt, sondern entsteht erst im Laufe der Zeit. Letztendlich bildet sich „Gender“ meist wahrend des Heranwachsens aus, da man durch die Erziehung, den Konsum von Medien und verschiedensten Sozialisationsprozessen bestimmte Normen und Vorstellungen zu den jeweiligen Geschlechtern mit auf den Weg bekommt und uns von auften vermittelt wird, wie sich eine Frau oder ein Mann zu verhalten haben und Aussehen „mussen“. „Gender“ beziehungsweise „[d]as soziale Geschlecht“ wird also „erlernt, hergestellt und verandert“ (ebd.). Wichtig ist hierbei zu erwahnen, dass sich die Geschlechtsidentitat jedoch nicht unbedingt aus dem biologischen Geschlecht ableiten lasst und ist im Gegensatz zum biologischen Geschlecht, dem „Sex“, veranderbar und formbar (vgl. Meissner 2008, S.3). Zwar geht man davon aus, dass „[d]ie Mehrheit der Kinder [...] mit ihrer geschlechtlichen Zuordnung einverstanden“ (Vogt 2019, S.308) sind und diese Personen „unter den jeweiligen historischen Bedingungen“ (ebd.) ihre Geschlechtsidentitat entwickeln, jedoch kann die Kategorie „Gender“ einer Person auch die Chance geben „sich der biologischen Determination zu entziehen [...]“ (vgl. Meissner 2008, S.4). Folglich ist es durchaus moglich, dass „Sex“ und „Gender“ bei manchen Menschen nicht ubereinstimmen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn nach der Geburt, bezogen auf die biologischen Merkmale, das mannliche Geschlecht zugeordnet wurde, die Person aber eine weibliche Geschlechtsidentitat entwickelt.

An dieser Stelle sollte erwahnt werden, dass es durchaus auch Kritik an der strikten Trennung der beiden Kategorien gibt. Judith Butler beispielsweise hat in ihrem 1990 publizierten Buch mit dem Titel „Gender Trouble“ (dt. „Das Unbehagen der Geschlechter“) diese strikte Trennung von „Sex“ und „Gender“ thematisiert und lehnt sie grundsatzlich ab. Nach Butler ist auch die Kategorie des „Sex“ nichts weiter als ein „Effekt hegemonialer Diskurse“ (Villa 2012, S.62) und kann somit nicht als etwas Naturliches und von vornherein Gegebenes angesehen werden, da auch die Einordnung der Geschlechtsmerkmale in die Kategorien mannlich und weiblich eine menschliche Kategorisierung und Zuordnung darstellt. Wenn man der Argumentation von Butler folgt ist man sozusagen „am Ende“ des Diskurses um Geschlecht angekommen, da sie die gesamte Kategorie als konstruktiv ansieht. Sie argumentiert, dass Geschlecht durch Performanz, das „Doing Gender“ entsteht. Auf ihren Ansatz aber auch auf die Theorie des „Doing Gender“ an sich wird im folgendem eingegangen und erklart, wie Geschlecht performativ erzeugt wird.

2.2. „Doing Gender“

Judith Butler geht, wie bereits beschrieben, in ihren Werken und in ihrer Theorie noch einen Schritt weiter als die gerade eben dargestellte Trennung von „Sex“ und „Gender“ und steht dieser Unterscheidung ablehnend gegenuber. Hierbei wird vor allem die Kategorie des biologischen Geschlechts („Sex“) kritisch betrachtet, da die Trennung zwischen „Mann“ und „Frau“, zumindest zu einem gewissen Teil, immer noch als von Natur aus gegeben angesehen wird (vgl. Meissner 2008, S.4) und durch die Unterscheidung von „Sex“ und „Gender“ „die Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit subsumiert werde und daher nicht uberwinden werden konne“ (Vogt 2019, S310). Butler bezeichnet also auch das biologische Geschlecht als kulturelle Konstruktion, „[d]enn wie die wenigen biologisch tatsachlich vorgegebenen leiblichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern gedeutet und gehandhabt werden, werde wesentlich von der Kultur selbst mit ihren Werten und Normen bestimmt“ (Bauer 2006, S.263). Des Weiteren fragt sich Butler, wieso es genau zwei mogliche soziale Geschlechter („Gender“), also entweder mannlich oder weiblich, geben sollte. Folgt man ihrer Theorie „stehen Begriffe wie Mann oder Frau nur noch fur performative Akte“ (Vogt 2019, S.310).

Weiter erklart Butler, dass es durch Performanz zu einer Produktion des jeweiligen Geschlechts kommt. Die Geschlechtsidentitat ist somit performativ, „d.h. sie selbst konstituiert die Identitat, die sie angeblich ist“ (Butler 1991, S.24). Man „produziert“, beziehungsweise erzeugt seine eigene Geschlechtsidentitat durch ein Leben nach bestimmten Normen, die fur das jeweilige Geschlecht gelten. Hierzu gehoren ganz unterschiedliche Dinge, wie beispielsweise die Erwartung, dass Frauen keinen Bart haben und man sich bestimmte Korperstellen enthaaren sollte oder, dass Manner einen gewissen Anteil an Muskeln haben (vgl. Villa 2012, S.75). Man verkorpert somit bestimmte Normen, die diskursiv in der Gesellschaft vorherrschen, mit denen man aufwachst und die uns bereits von Geburt an vermittelt werden. Die Annahme, dass Geschlecht etwas performatives und eine menschliche und kulturelle Konstruktion ist, hat sich in verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen etabliert und ist unter dem Begriff des „Doing Gender“ weit verbreitet.

„Doing Gender“ wird als „ein ganz selbstverstandlicher Prozess“ verstanden „der die ganze Sozialisation durchzieht mit dem Ergebnis, dass wir geschlechtsspezifische Zuordnungen und Gender-Schemata fur >>ganz naturlich<< halten“ (Vogt 2007, S.236). Der Ansatz des „Doing Gender“ betont den „aktiven Anteil an der Herstellung von Geschlechtlichkeit im Alltagshandeln von Menschen“ (Laging 2020, S.78) und Rollenerwartungen beziehungsweise Rollenstereotype sind ein Teil der Gender Thematik und des „Doing Gender“. Auch die Sprache spielt hierbei eine entscheidende Rolle, da im Gesprach durch die verwendeten Pronomen daran erinnert und auch festgelegt wird, welche Geschlechtsidentitat man reprasentieren soll und als welches Geschlecht man von anderen Menschen wahrgenommen oder gelesen wird (vgl. Meissner 2008, S.13). Sobald man bestimmte Normen, die in unserer Gesellschaft beispielsweise als weiblich gelten, nicht erfullt aber durch vorherrschende biologische Merkmale als Frau gelesen wird, fuhrt das zu Irritationen. Man kann also sagen, dass „Geschlecht als performative[r] Inszenierung“ (ebd., S.74) wahrgenommen werden kann und man nur durch tagtagliches wiederholen und aktive Handlungen seine Geschlechtsidentitat aufrechterhalt, diese aber nie einfach sein wird, sondern immer und immer wieder performativ erzeugt werden muss. Geschlechtsidentitat und die Selbstdarstellung als mannliche oder weibliche Person ist nie „ein fur alle Mal festgelegt; sie mussen vielmehr immer wieder hergestellt werden“ (Vogt 2019, S.208).

Diese Konstruktion oder Erzeugung des eigenen Geschlechts durch die „Verkorperung von Normen“ (Meissner 2008, S.75) setzt sich aus ganz verschiedenen Dingen zusammen, die sich keines Falls auf die korperlichen und aufterlichen Merkmale einer Person beschranken. Auch zwischen Habitus und Geschlecht gibt es einen Zusammenhang. Der Begriff des Habitus wurde vom franzosischen Soziologen Pierre Bourdieu eingefuhrt und steht gleichzeitig fur ein Konzept, das eng mit dem taglichen Rollenhandeln der Menschen in Verbindung steht (vgl. Nassehi 2011, S. 60). Denn die Rolle, die der jeweilige Mensch in bestimmten Situationen annimmt, muss zur Person passen. Das Handeln, die Person und die jeweilige Rolle „mussen habituell aufeinander abgestimmt sein“ (ebd.). Somit kann man davon sprechen, dass im Habitus das Handeln verkorpert wird und dies ist somit der handelnden Person nicht immer bewusst, da bestimmte Verhaltensnormen so unbewusst abgespeichert sind, dass man daruber nicht mehr nachdenkt, ahnlich wie es beim „Doing Gender“ der Fall ist. Man spricht folglich auch von einem „habitualisierten Rollenhandeln“ (vgl. ebd., S.61), da die Person wissen muss, wie man sich in einer bestimmten Rolle verhalt, um diese stimmig und authentisch zu verkorpern. Der Mensch hat bestimmte soziale und gesellschaftliche Strukturen verinnerlicht, indem man damit aufgewachsen ist und „diese ihre Praxen und Handlungsmoglichkeiten“ (Althof/Bereswill/Riegraf 2001, S.244) bestimmen. Dies lasst sich auch auf das eigene Geschlecht ubertragen. Da es eine bestimmte Vorstellung und verschiedene gesellschaftliche Normen in Bezug auf das weibliche oder das mannliche Geschlecht gibt, muss man diese erfullen, um als Frau oder Mann wahrgenommen zu werden. Mit diesen Rollenerwartungen werden bereits Kinder konfrontiert, wenn man den Madchen beispielsweise verbietet, laut oder wutend zu sein und diese Verhaltensweisen bei den Jungs toleriert. Durch die verinnerlichten Normen weift der Korper, wie man sich darstellen und verhalten muss, um als Frau oder Mann in einer Gesellschaft wie unserer wahrgenommen zu werden und diese Rolle authentisch zu verkorpern, ohne dabei unangenehm aufzufallen oder zu irritieren. Da wir im Laufe des Sozialisationsprozesses diesen weiblichen oder mannlichen Habitus verinnerlichen, mussen sich die meisten, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht beziehungswiese dem zugewiesenem Geschlecht identifizieren, keine Gedanken daruber machen, wie man am ehesten als Mann oder Frau wahrgenommen wird, da dieses Verhalten verinnerlicht wurde und jederzeit unbewusst reproduziert werden kann. Man merkt also, dass Geschlecht ein komplexes Konstrukt ist und wir in unserem Handeln, unseren Entscheidungen und unserem Aussehen meist unbewusst Geschlechterstereotype reproduzieren und tagtaglich Normen verkorpern. Manche nehmen dies auch bewusst zum Anlass, um mit Rollenerwartungen zu brechen und Geschlecht zu de-konstruieren, dies ist jedoch fur die kommende Arbeit nicht relevant. Wenn man sich mit diesem Thema beschaftigt wird einem klar, dass Geschlecht, auch wenn man es selbst nicht bewusst wahrnimmt, standig prasent ist und ein Thema ist, welches groften Einfluss auf verschiedenste Bereiche unseres alltaglichen Lebens hat. Auch Abhangigkeit und Suchtverhalten sind hiervon nicht ausgenommen und konnen nicht unabhangig von der Kategorie Geschlecht betrachtet und gedacht werden.

Abschlieftend soll noch darauf hingewiesen werden, dass Geschlecht nicht nur auf Manner und Frauen reduziert werden kann und auch Personen aufterhalb des binaren Systems existieren. Dies gilt sowohl fur das biologische Geschlecht, zum Beispiel intersexuelle Personen, als auch fur die Geschlechtsidentitat, zum Beispiel nichtbinare Personen. Da sich die Literatur und die Statistiken in Bezug auf das Suchtverhalten und der Abhangigkeitserkrankung jedoch ausschlieftlich auf Manner und Frauen konzentrieren und andere Geschlechter leider nicht erwahnt oder erfasst werden, muss ich mich im Folgenden auf diese zwei Kategorien beschranken, da zu nichtbinaren Personen und zu trans Personen keine Literatur zu finden war, auf die ich mich beziehen hatte konnen, da dies wissenschaftlich noch nicht ausreichend erforscht ist. Wenn ich in weiteren Kapiteln also von suchtigen Frauen spreche, sind damit cis Frauen gemeint. Cis Gender ist sozusagen „das Pendant zu Transgender und bezeichnet Menschen, deren Geschlechtsidentitat mit ihrem korperlichen Geschlecht ubereinstimmt“ (gender nrw, o.J.). Bei cis Frauen bedeutet das also, dass sowohl die korperlichen Merkmale dieser Person dem weiblichen Geschlecht („Sex“) zugeordnet wurden und diese von den meisten Menschen als weiblich gelesen werden, als auch das soziale Geschlecht und die Geschlechtsidentitat als weiblich betrachtet beziehungsweise gefuhlt wird und deshalb performativ erzeugt wird. Diese weibliche Geschlechtsidentitat muss jedoch, wie bereits beschrieben, auch taglich produziert werden indem man bestimmten Normen folgt, diese auf mehreren Ebenen erfullt und der Vorstellung von Weiblichkeit und von „Frau - Sein“, die in unserer Gesellschaft herrscht, entspricht.

Bevor es nun um weibliche Rollenerwartungen, Rollenhandeln und um den Bereich der Medikamentenabhangigkeit geht, soll jedoch vorher definiert werden, was unter Sucht und Sucherkrankung verstanden wird. Auch ein Modell zur Entstehung von Sucht wird vorgestellt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Frauen und Sucht. Reproduktion kultureller und gesellschaftlicher Normen von Weiblichkeit im Bereich der Medikamentenabhängigkeit
Hochschule
Hochschule München
Note
1,7
Autor
Jahr
2022
Seiten
49
Katalognummer
V1273555
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschlecht, Sucht, Frauen und Sucht, Abhängigkeit, Medikamentenabhängigkeit, Gender, geschlechtsspezifische Suchthilfe, Suchthilfe, Benzodiazepine, Weiblichkeit und Suchterkrankungen, Frauen und Medikamentenabhängigkeit, Weiblichkeit, Soziale Arbeit in der Suchthilfe, frauenspezifische Suchthilfe
Arbeit zitieren
Melanie Greiner (Autor:in), 2022, Frauen und Sucht. Reproduktion kultureller und gesellschaftlicher Normen von Weiblichkeit im Bereich der Medikamentenabhängigkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1273555

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