Längenkonzepte im Kindergarten

Fallbeispiele zum Entwicklungsstand


Examensarbeit, 2008

213 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Mathematische Frühförderung im vorschulischen Bereich
2.1 Frühförderung allgemein
2.2 Frühförderung im Bereich Mathematik
2.3 Mathematische Bildungs- und Erziehungsziele im bayerischer Bildungs- und Erziehungsplan

3. Größenbereich „Längen“
3.1 Größen als Teil des Sachrechnens
3.2 Mathematische Grundlagen zur Größe „Längen“
3.3 Standardisierte und nicht-standardisierte Messinstrumente

4. Denkwege von Kindern bei der „Längen“-Thematik
4.1 Entwicklung des Messens von Längen nach Piaget
4.1.1 Kognitive Entwicklungstheorie
4.1.2 Entwicklung kognitiver Messfähigkeiten
4.1.3 Kritische Anmerkungen
4.2 Didaktisches Stufenmodell nach Franke
4.2.1 Behandlung von Größen allgemein
4.2.2 Behandlung von „Längen“
4.2.3 Kritische Anmerkungen
4.3 Längenkonzept nach Nührenbörger

5. Eigene Untersuchungen zum Themenbereich „Längen“ im Kindergarten
5.1 Theoretische Grundlagen
5.2 Praktische Umsetzung
5.3 Rahmenbedingungen
5.4 Erste Phase: Aktivität zum Thema „Längen“
5.4.1 Design der Aktivität
5.4.2 Auswertung
5.4.3 Kritische Anmerkungen
5.5 Zweite Phase: Befragung zum Längenkonzept
5.5.1 Methode: Das klinische Interview
5.5.2 Charaktereigenschaften der Kinder
5.5.3 Design der Befragung
5.5.4 Auswertung: Ausprägung des Längenkonzeptes
5.5.4.1 Vergleichen und Ordnen von Objekten der Länge nach
5.5.4.2 Schätzen und Nutzen nicht-standardisierter Messinstrumente
5.5.4.3 Standardisierte Messinstrumente
5.5.5 Kritische Anmerkungen zur Durchführung

6. Resümee

7. Literaturverzeichnis

8. Erklärung nach §30 Abs. 6 LPO I

9. Anhang
9.1 Bilder
9.2 Transkripte
9.3 Zeichnungen der Lineale
9.4 Notationen der Messresultate

1. Einleitung

Mathematische Erfolge in der Schule hängen deutlich weniger von Begabung (oder Nicht-Begabung) ab, als man üblicherweise denkt: „Die Fähigkeit, Mathematik zu verstehen und anzuwenden, ist keine naturgegebene Begabung, über die nur wenige Menschen verfügen. Auch mathematisches Talent kann sich (…) dann am besten entfalten, wenn Kinder frühzeitig Gelegenheit erhalten, mathematische Lernerfahrungen zu sammeln und dabei ihre Neigungen zu erproben.“ (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, 2007, 252)

Das Thema Frühförderung rückt in den letzten Jahren immer mehr in den Mittelpunkt. Grund dafür sind mehrere Studien, die zeigten, dass der Bildungsstand der deutschen Schüler und Schülerinnen sich auf einem niedrigen Niveau befindet.

In allen deutschen Bundesländern wurden Erziehungs- und Bildungspläne für Kindertageseinrichtungen entworfen, um die Bildungs- und Entwicklungschancen gerade auch der Kinder zu erhöhen, die im familiären Umfeld keine optimale Unterstützung und Anleitung erhalten.

Um diese Pläne wirkungsvoll in die Praxis umsetzen zu können, muss ein umfassendes Wissen über den diesbezüglichen Entwicklungsstand der Kinder vorhanden sein. Die vorliegende Arbeit soll dazu einen Beitrag leisten.

Am Beispiel des Größenbereichs „Längen“ wird in zehn Einzelinterviews überprüft, wie weit bei Kindergartenkindern ein Längenkonzept bereits entwickelt ist. In Form einer Aktivität zum Thema „Körpergrößen vergleichen“ wird untersucht, wie Kinder im Kindergarten das Angebot einer Frühförderung zu einem mathematischen Thema annehmen.

Das Thema „Längen“ wurde von mir ausgewählt, weil es für Kinder eine der greifbarsten Größen ist. Sie sind in ihrem Alltag oft mit unterschiedlichen Längen konfrontiert. So ist es für Kinder zum Beispiel leicht zu erkennen, dass sie größer werden. Sie wachsen aus ihrer Kleidung heraus oder kommen an einen Oberschrank, den sie bisher nicht erreichen konnten. Außerdem hat jedes Kind den Satz „Du bist aber groß geworden!“ sehr oft gehört. So gibt die Wahrnehmung ihres eigenen Wachstumsprozesses Hilfestellungen für Aktivitäten zum Messen von Längen. (vgl. Heuvel-Panhuizen & Buys, 2005, 43)

Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert:

Nach einleitenden Worten im ersten Kapitel folgt im zweiten eine Hinführung zur mathematischen Frühförderung im vorschulischen Bereich. Zunächst wird auf die Aktualität der Frühförderung in Deutschland eingegangen, anschließend explizit im mathematischen Bereich. Es folgen wichtige Aspekte zur mathematischen Frühförderung aus dem bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan.

Das dritte Kapitel gibt einen allgemeinen Überblick über Größenbereiche, die vor allem im Bereich Sachrechnen vorkommen. Es wird insbesondere auf den Größenbereich Längen sowie auf standardisierte und nicht-standardisierte Messinstrumente eingegangen.

Im vierten Kapitel wird die Entwicklung des Messens nach Piaget, das didaktische Stufenmodell zur Behandlung von Größen nach Franke und das Längenkonzept nach Nührenbörger vorgestellt. Piaget untersuchte aus entwicklungspsychologischer Sicht, wie Kinder die Fähigkeit entwickeln, Längen zu erfassen und zu vergleichen. Franke stellt in Form des didaktischen Stufenmodells dar, wie Größenbereiche mit Grundschulkindern effektiv bearbeitet werden können. Die Bausteine des Längenkonzeptes nach Nührenbörger werden verwendet, um die Ausprägung von Längenkonzepten bei Kindern im Kindergartenalter festzustellen.

Das fünfte Kapitel beinhaltet meine eigenen Untersuchungen im Kindergarten. Am Anfang des Kapitels stehen theoretische Grundlagen zum Thema „Längen im Kindergarten“. Vor der Vorstellung der zwei Untersuchungsphasen werden Informationen zur praktischen Umsetzung gegeben sowie die Rahmenbedingungen geschildert. Es folgt jeweils das Design der beiden Phasen, eine Auswertung und eine kritische Stellungnahme. Bei der zweiten Phase werden außerdem ausführlich die angewendete Methode „das klinische Interview“ und die befragten Kinder in Form einer kurzen Charakterisierung vorgestellt. Aus Datenschutzgründen wurden die Namen aller Kinder in der Arbeit geändert.

Den Abschluss bildet das Resümee.

2. Mathematische Frühförderung im vorschulischen Bereich

2.1 Frühförderung allgemein

Angestoßen durch die Ergebnisse nationaler und internationaler Studien, wie zum Beispiel PISA (Programme for International Student Assessment), IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) und einer Studie von Büchner & Spieß (2007) wird der Frühpädagogik zunehmend eine entscheidende Bedeutung zugesprochen. In den Studien konnte unter anderem belegt werden, dass die Wahrscheinlichkeit für Jugendliche eine weiterführende Schule besuchen zu können steigt, wenn sie für längere Zeit einen Kindergarten besuchten; auch die späteren Schulleistungen korrelieren mit der Dauer des Kindergartenbesuches. Aufgrund dieser Ergebnisse kam es zur bildungspolitischen Forderung, die Fördermöglich-keiten im vorschulischen Bereich effizienter zu gestalten. (vgl. Roux, 2008, 14f.)

Ein Inhalt des zwischenzeitlich geschaffenen Rahmenprogramms ist die Ausweitung der Bildungsangebote in Kindertagesstätten:

„Die Kindertageseinrichtungen des Elementarbereichs werden heute als unentbehrlicher Teil des öffentlichen Bildungswesens verstanden. Unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Erkenntnisse sind sie mit ihrem ganzheitlichen Förderauftrag, ihrer lebensweltorientierten Arbeit und ihren guten Beteiligungsmöglichkeiten geeignete Orte für frühkindliche Bildungsprozesse. Der Schwerpunkt des Bildungsauftrags der Kindertageseinrichtungen liegt in der frühzeitigen Stärkung individueller Kompetenzen und Lerndispositionen, der Erweiterung, Unterstützung sowie Herausforderung des kindlichen Forscherdranges, in der Werteerziehung, in der Förderung, das Lernen zu lernen und in der Weltaneignung in sozialen Kontexten.“

(Kultusministerkonferenz, 2004, 2)

Auf der Grundlage der Rahmenbeschlüsse für die Förderung in Kindergärten wurden folgende Förderbereiche festgelegt:

- Sprache, Schrift, Kommunikation
- Personale und soziale Entwicklung, Werteerziehung/religiöse Bildung
- Mathematik, Naturwissenschaften, (Informations-) Technik
- Musische Bildung/Umgang mit Medien
- Körper, Bewegung, Gesundheit
- Natur und kulturelle Umwelten

Im Weiteren wurden diese Bereiche von den Kultusministerien der einzelnen Bundesländern spezifiziert, sodass es nun Erziehungs- und Bildungspläne in jedem Bundesland gibt, die die Aufgabe haben, „die Grundlagen für eine frühe und individuelle Förderung der Kinder zu schaffen.“ (Kultusministerkonferenz, 2004, 2)

Nach wie vor können große Unterschiede bei den fachlichen Kompetenzen von Schulanfängern festgestellt werden. So belegte 2006 eine Berliner Studie, dass ein Drittel der befragten Fünfjährigen nur bis fünf oder gar nicht zählen konnten, und vor allem Kinder aus einem bildungsfernen Umfeld wenig Zugang zu fachlichen Kompetenzen hatten. Mit der fördernden Betreuung in Kindertageseinrichtungen ist deshalb auch eine größere Chancengleichheit für alle Kinder im Anfangsunterricht verbunden. (vgl. Hellmich & Jansen, 2008, 59)

Es ist hilfreich für Schulanfänger, wenn sie bereits ein gewisses Maß an Basiskompetenzen besitzen. Sie sind dann besser auf die schulischen Anforderungen vorbereitet. Allerdings sollten Kinder mit einem umfassenderen Basiswissen oder einem größeren Interesse nicht eingeschränkt, sondern individuell gefördert werden. (vgl. Steinweg, 2008, 143f.)

2.2 Frühförderung im Bereich Mathematik

Im Bereich der Mathematik soll der Kindergarten Lernumgebungen anbieten, in welchen die Kinder in den Erfahrungsbereichen Zahl und Struktur, Raum und Form, sowie Zeit und Maße aktiv die Inhalte der Mathematik entdecken können. Neben dem Aufgreifen und Vertiefen von spontanen Aktivitäten der Kinder ist es sinnvoll, auch geplante Aktivitäten durchzuführen. Diese sollen auf den Erfahrungen der Kinder aufbauen und ohne lehrgangsartiges Lernen als individuelle Lernphasen gestaltet werden. (vgl. Steinweg, 2005, 24f.)

Unter dem Leitmotiv „Mathematik ist ein Spiel“ (Wittmann, 2004, 52) kann dies im Kindergarten eingebaut werden ohne gezielte Lernprozesse der Grundschulzeit vorwegzunehmen. Wie die allgemeine Frühförderung soll auch die mathematische Frühförderung ein Wechselspiel aller Sinne anregen. Damit können, wie nachgewiesen wurde, häufige Schwierigkeiten im Anfangsunterricht vermieden werden. (vgl. Wittmann, 2004, 52f.)

Derzeit gibt es mehrere Projekte, die sich explizit mit der Frühförderung im Kindergarten beschäftigen, wie zum Beispiel KIDZ - „Kindergarten der Zukunft in Bayern“ (Geschäftsstelle der Stiftung Bildungspakt Bayern, 2007) oder TransKiGs (vgl. Wild, 2007, 18-20; siehe ferner Homepage des Projektes: www.transkigs.de). Beide Programme haben sich darauf spezialisiert, eine Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtungen und Grundschulen herzustellen - mit praktischen Durchführungen und Auswertungen von Projekten zu Grundlagen, Zielen und Fördermöglichkeiten in den Bereichen Mathematik, Sprache und Naturwissenschaften.

Im praktischen Teil meiner Arbeit werden auch Aufgaben aus dem TransKiGs-Projekt durchgeführt.

2.3 Mathematische Bildungs- und Erziehungsziele im bayerischer Bildungs- und Erziehungsplan

Der ausführliche bayerische Bildungs- und Erziehungsplan enthält zahlreiche konkrete Anregungen zur Umsetzung in vorschulischen Einrichtungen. (vgl. Hellmich, 2008, 84)

Die mathematischen Bildungs- und Erziehungsziele (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, 2007, 253ff.) sind aufgeteilt in drei Bereiche:

- Pränumerischer Bereich
- Numerischer Bereich
- Sprachlicher und symbolischer Ausdruck mathematischer Inhalte

Im pränumerischen Bereich geht es um den Umgang mit mathematischen Größen, wie etwa die Einsicht über das Gleichbleiben von Größen, Vergleichen, Klassifizieren und Ordnen von Objekten bzw. Materialien und ein grundlegendes Verhältnis von Relationen (z.B. größer/kleiner, schwerer/leichter).

Im numerischen Bereich sollen Kinder die Bedeutung der Zahlen im Bezug auf Mengen, Längen, Gewichte, Zeiten oder Geld kennen lernen. Überdies wird bereits die Wichtigkeit von Größenvorstellungen, auf die in den späteren Kapiteln dieser Arbeit noch näher eingegangen wird, erwähnt. Kinder sollen neben einer realistischen und lebendigen Größenvorstellung auch ein Verständnis des Messens und des Vergleichens von Größen erwerben.

Die Verbesserung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit beinhaltet unter anderem die korrekte Anwendung der Begriffe „größer“ und „kleiner“. Des Weiteren sollen Kinder im Umgang mit Messinstrumenten und der Formulierung von Messergebnissen unterstützt werden.

Es ist auffallend, dass die drei genannten Bereiche nicht klar trennbar sind, sondern ergänzend und überlappend ineinander übergehen. Dies wird sich auch im praktischen Teil meiner Arbeit zeigen.

3. Größenbereich „Längen“

3.1 Größen als Teil des Sachrechnens

Wenn man Erwachsene nach Inhalten der Grundschulmathematik fragt, werden vor allem Begriffe aus der Arithmetik genannt, wie Rechnen oder Zahlen. Die Grundschulmathematik umfasst jedoch drei Kernbereiche, zu denen neben der Arithmetik auch Geometrie und Sachrechnen zählen. (vgl. Franke, 2003, 1)

Sachrechnen beinhaltet „das Bearbeiten von Aufgaben (…), die eine Situation aus dem Erfahrungsbereich der Schüler oder aus dem realen Leben beschreiben,“ (Franke, 2003, 5) und verfolgt die Ziele: Erschließen der Umwelt mit mathematischen Mitteln, Verstehen von Erscheinungen des Alltags und Eröffnen neuer Sichtweisen. Nicht allein das Rechnen steht im Vordergrund, vielmehr soll gemessen, gezählt, geschätzt und verglichen werden. (vgl. Franke, 2003, 3ff.)

Winter (1996, 15-35) unterteilt die didaktischen Funktionen des Sachrechnens in drei Teilbereiche:

- Sachrechnen als Lernstoff
- Sachrechnen als Lernprinzip
- Sachrechnen als Lernziel

Sachrechnen als Lernstoff stellt mathematische Aufgaben zu „bürgerlichen Größen“, wie Zeit, Flächeninhalt, Längen, Gewichte, Volumen, Stückzahlen und Geld. Seit kurzer Zeit werden Teilgebiete der Statistik und Kombinatorik ebenfalls in das Themenfeld der Sachaufgaben aufgenommen. Durch die Unterschiedlichkeit der Bereiche wird deutlich, dass es beim Lösen von Sachaufgaben um mehr geht als um das Rechnen. Vielmehr sollen Kinder mit Methoden zum Gewinnen von Daten wie Zählen, Messen, Schätzen und mit Maßsystemen vertraut gemacht werden. (vgl. Winter, 1992, 15-25; vgl. auch Franke, 2003, 27f.)

Sachrechnen als Lernprinzip meint, dass Vorerfahrungen der Kinder vertieft und erweitert werden. Die Kinder werden motiviert, indem sie ihre eigenen Interessen und ihr Wissen einbringen können; dadurch können mathematische Begriffe und Zusammenhänge einfacher und erfolgsversprechender veranschaulicht werden. Durch das Einbetten mathematischer Beziehungen in reale Situationen, die von Kindern nachvollzogen werden können, wird die zunächst abstrakt wirkende Mathematik verständlicher. (vgl. Winter, 1992, 26-31; vgl. auch Franke, 2003, 28f.)

Beim Arbeiten mit Sachaufgaben darf aber nicht nur die Vermittlung von mathematischem Wissen und Größenvorstellungen im Vordergrund stehen. Unter dem Aspekt des Sachrechnens als Lernziel ist auch der Inhalt der Aufgaben selbst Stoff des Unterrichts. Phänomene der Umwelt sollen durch das mathematische Modellieren bewusster gemacht werden und durch den Problemlöseprozess auch fächerübergreifende Kompetenzen erworben werden. (vgl. Winter, 1992, 31-35; vgl. auch Franke, 2003, 29)

Eine „Größe“ ist nach Franke (2003, 3) definiert als „eine Abstraktion von Dingen und Erscheinungen, z.B. der Länge eines Stiftes, dem Durchmesser eines Tellers (…). Die Vorstellungen der Kinder über Größen sind an konkrete Objekte und an Sachverhalte gebunden.“ Es ist daher wichtig, dass Kinder bereits früh realistische Größenvorstellungen entwickeln. So sollten Kinder mit der Maßeinheit 1m auch Gegenstände verbinden können, die diese Länge repräsentieren, zum Beispiel einen großen Schritt. Mit dieser Kenntnis können sie Gegenstände und Entfernungen anschaulicher miteinander vergleichen. Zum Beispiel kann ein Kind durch Ablaufen eines Raumes und Zählen der benötigten Schritte die Länge des Raumes abschätzen.

[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]Durch die Abstraktion von realen Objekten gewinnt man Größen. Zunächst werden durch den direkten Vergleich von Objekten maßzahlfreie Äquivalenzklassen von Repräsentanten gebildet. Die Relationen der Repräsentanten einer Klasse, wie zum Beispiel gleich lang, gleich schwer, etc., bleiben auch bei einer Veränderung der Lage bestehen. So bleibt eine Schnur gleich lang, egal ob man sie gestreckt oder geschlängelt auf den Tisch legt. Alle zusammengehörigen Repräsentanten gehören zur gleichen Größe. Bei der Notation erhalten sie die gleiche Größenangabe, welche aus einer Maßzahl und einer Maßeinheit besteht.

Größenangabe

[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] 1 m

Maßzahl Maßeinheit

Abbildung 1: Aufgliederung von Größenangaben (vgl. Franke, 2003, 196)

Wie für die Größe „Längen“ (km, m, dm, cm, mm) gibt es bei jeder Größe mehrere mögliche Einheiten. (vgl. Abbildung 2) Eine Einheit kann in die jeweils kleineren oder größeren Einheiten umgewandelt werden: Ein Faden mit 1m Länge ist auch 100cm lang. Dieses einmal erkannte Umwandlungsprinzip können die Kinder auch auf das Messen noch unbekannter Größenbereiche anwenden. (vgl. Franke, 2003, 196)

Messbare Eigenschaften von Gegenständen und Vorgängen lassen sich nur durch Größen mit normierten Einheiten objektiv feststellen. Zum Beispiel wäre die Längeneinheit „so lang wie ein Fuß“ eine sehr variable und nicht-standardisierte Bezeichnung: Wenn verschieden große Menschen die gleiche Strecke messen, würden unterschiedliche Messergebnisse resultieren. (vgl. Franke, 2003, 196f.)

Im Fachprofil Mathematik des bayerischen Lehrplans für Grundschulen (vgl. Spalte 6 in Abbildung 2) werden die zu behandelnden Größenbereiche aufgezählt. Nach der Einführung der einzelnen Größen werden die erworbenen Kenntnisse nach dem Spiralprinzip in den Folgeschuljahren wieder aufgegriffen, vertieft und erweitert. Um Einheiten umrechnen zu können, ist ein sicherer Umgang mit der Arithmetik Voraussetzung. In der zweiten Klasse werden zwar die Längeneinheiten Meter und Zentimeter besprochen, jedoch folgt erst in der dritten Klasse die Einheit Kilometer, da hierzu der Zahlenraum über 1.000 benötigt wird. (vgl. Franke, 2003, 199)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Größen in der Grundschule (vgl. Radatz & Schipper, 1983, 124; vgl. auch Franke, 2003, 198; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 2000, 34)

Wie bereits erwähnt, ist neben dem Erwerb von mathematischen Grundfähigkeiten eines der wichtigsten Anliegen der Grundschulmathematik, Kindern realistische Größen-vorstellungen und Größenbegriffe anhand von Sach- und Anwendungssituationen zu vermitteln. Kinder können hierdurch ihre Lösungen auf Stimmigkeit überprüfen: Spätestens dann, wenn ein Kind als Gewicht für eine Einkaufstüte 735kg ausrechnet, sollte ihm beim Vergleichen mit einem bekannten Repräsentanten wie dem eigenen Körpergewicht auffallen, dass hier etwas nicht stimmen kann.

Durch häufiges Üben und Ausprobieren prägen sich Kinder Repräsentanten für bestimmte Maßeinheiten ein. Mit Hilfe dieser Repräsentanten können Gegenstände miteinander verglichen und Schätzergebnisse mit passend ausgewählten Messinstrumenten überprüft werden. (vgl. Franke, 2003, 195)

Die Größenbereiche werden lehrplanmäßig hauptsächlich in der zweiten und dritten Klasse behandelt. Trotzdem ist es wichtig, bereits im Kindergartenalter erste Erfahrungen in den Größenbereichen gesammelt zu haben; die Arbeit mit Größenvorstellungen und Repräsentanten fällt während der Schulzeit dann leichter. (vgl. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, 2007, 253ff.; siehe ferner Heuvel-Panhuizen & Buys, 2005, 29f.; vgl. auch Ebbutt u.a., 2006, 74f.)

3.2 Mathematische Grundlagen zur Größe „Längen“

Im Folgenden soll ein kurzer Einblick in die mathematischen Grundlagen zu Größenbereichen allgemein und zu „Längen“ im Besonderen gegeben werden. Anschließend werden die verschiedenen Vorgehensweisen beim Vergleichen von Längen vorgestellt.

„Ein Größenbereich G ist eine Menge von Elementen A, B, C…(„Größen“) mit den Eigenschaften

1) In G ist die Verknüpfung „+“ gegeben mit A + B Є G für alle A, B Є G (Abgeschlossenheit)

2) In G ist eine Relation „<“ gegeben und für alle A, B, C Є G gilt 3) und 6)

3) (A + B) + C = A + (B + C) (Assoziativität)

4) A + B = B + A (Kommutativität)

5) Es ist entweder A<B oder A=B oder B<A (Trichotomie von Relationen)

6) Genau dann, wenn A<B, ist die Gleichung A + X = B lösbar mit X Є G

M.a.W. 1. A<B à es gibt X Є G mit A+X=B

2. es gibt X Є G mit A+X=B à A<B

Folgerungen

Wenn A<B und B<C, dann A<C (Transitivität)

Wenn A<B, dann gilt A+C < B+C

Wenn A+C < B+C, dann A < B

Wenn A+C = B+C, dann A = B “ (Steinweg, 2006, 1)

Hierdurch ergeben sich für den „Längenbereich“ Parallelen zu den natürlichen Zahlen: Auch Längen können zum Beispiel addiert und geordnet werden. Das Sortieren von Längen erfolgt durch das Vergleichen von Objekten, wozu wiederum die Länge eines Objektes bestimmt werden muss. Es wird zwischen dem Vergleichen qualitativer Art und dem Vergleichen quantitativer Art, das heißt dem eigentlichen Messen, unterschieden.

Bei einem Vergleich der qualitativen Art wird auf die Anwendung von Zahlen verzichtet. Es werden stattdessen Adjektive wie „kurz“ oder „lang“, „klein“ oder „groß“, „niedrig“ oder hoch“ verwendet, welche auf die lineare Ausrichtung verweisen. Besonders jüngeren Kindern fällt es oft noch schwer, die Längenadjektive situationsangemessen zu verwenden. Beim Vergleichen von zwei Objekten bildet die (meist visuelle) Wahrnehmung der Längen-eigenschaften den Anfangspunkt. Die Lagepunkte der Enden der zu vergleichenden Objekte werden miteinander in Beziehung gesetzt. Hierbei wird zwischen direktem und indirektem Vergleich unterschieden: Während man bei einem direkten Vergleich die Objekte so zusammenlegt, dass der Unterschied visuell und haptisch erfasst werden kann, werden beim indirekten Vergleich die Objekte durch den Einsatz eines beweglichen Gegenstandes miteinander verglichen. Dieser Mittler hilft dabei, die Länge des einen Objektes auf das andere Objekt zu übertragen. (vgl. Nührenbörger, 2002, 18ff.)

Piaget u.a. (1974, 43) definieren den Messvorgang, das quantitative Vergleichen, als eine Bewegung, die darin besteht, „dass der messende Gegenstand auf den zu messenden gelegt und so oft abgetragen wird, wie der als Einheit gewählte Teil im abzuschätzenden Ganzen enthalten ist.“ Durch mehrfaches Anlegen des Messinstrumentes wird die Länge des Objektes bestimmt, wodurch es zu einer Teilung der Gesamtlänge in gleichgroße Abschnitte kommt. Sehr häufig stellt sich aber das Problem, dass die Länge eines Objektes nicht komplett mit vollständigen Einheiten ausgefüllt werden kann. Es wird nötig, die Maßeinheit zu zerlegen, um die Länge exakt bestimmen zu können.

Der Unterschied zwischen qualitativem und quantitativem Vergleichen liegt darin, dass sich die quantitative Methode (das Messen) auf die Aktivitäten des Vervielfältigens, Zerlegens und Zählens von linearen Einheiten bezieht, während beim qualitativen Vergleichen zwei Gegenstände direkt oder indirekt (durch einen Mittler) miteinander verglichen werden. Beim quantitativen Vergleichen findet eine Konstruktion und Koordination linearer Einheiten statt. Dies bedeutet, dass „die Art, Größe und Anzahl der Einheit (…) mit dem zu messenden Objekt abgestimmt und das als Einheit abstrahierte Messinstrument (…) koordiniert abgetragen, bzw. das zu messenden Objekt koordiniert zerlegt“ (Nührenbörger, 2002, 23) wird. Um korrekt messen zu können, sind neben Kenntnissen raum-geometrischer Komponenten auch Zahlenkenntnisse erforderlich.

3.3 Standardisierte und nicht-standardisierte Messinstrumente

Sowohl bei den Maßeinheiten und Maßzahlen als auch bei den Messinstrumenten wird zwischen standardisierten und nicht-standardisierten unterschieden.

Standardisierte Einheiten sind im metrischen System definiert und dienen dazu, sich allgemein verständlich über Längen auszutauschen. Die Wahl zwischen einer standardisierten und einer nicht-standardisierten Einheit ist abhängig von der Bedeutung des Messergebnisses. Wenn möglichst geringe Interpretationsspielräume offen sein sollen, wird man das Ergebnis eher millimeter-genau als mit Fingerspannen abmessen.

Zu den nicht normierten Messgegenständen zählen gegenständliche und körpereigene Messinstrumente. Gegenständliche Messgeräte werden meistens als Vergleichsobjekte angesehen. Man kann aber auch mit ihnen messen, indem die Länge des Objektes als Einheit gesehen wird. Es kommt zu einer mehrmaligen Abtragung der Einheit an dem zu messenden Objekt oder einer Reihung gleich langer Einheiten. Während dieses Prozesses werden die Einheiten gezählt, bis man weiß, wie oft die Einheit benötigt wird um die Gesamtlänge darzustellen. Falls es nicht möglich ist, die Länge des zu messenden Objektes passend mit der gewählten Einheit darzustellen, kann die Einheit gegebenenfalls auch geteilt werden, sodass die Länge korrekt gemessen werden kann.

Bei Kindern ist zu beobachten, dass sie lange Zeit, bevor sie standardisierte Einheiten kennen, bereits eigene Körpermaße benutzen. So bestimmen sie den Abstand zwischen zwei Punkten in einem Zimmer zum Beispiel durch das Abzählen der Fußlängen.

Bei den körpereigenen Messinstrumenten wird zwischen längenkonstanten und längen-variablen unterschieden. Während die konstanten Körperteile so benutzt werden können wie die gegenständlichen Messinstrumente, geht es bei den variablen Körpermaßen (wie zum Beispiel einer Fingerspanne oder einem Schritt) eher um das Herausstellen einer Verbindung zwischen dem Anfangs- und dem Endpunkt des zu bestimmenden Abstandes. Es kann hierbei allerdings sehr leicht zu einer Verschiebung und Ungenauigkeit des Vergleiches kommen. Beim Messen mit Körpermaßen ist außerdem problematisch, dass eine Teilung der Einheit nur mental erfolgen kann, während man zum Beispiel einen Papierstreifen, ein nicht-standardisiertes, gegenständliches Messinstrument, ohne weiteres tatsächlich halbieren kann.

Um genauere Messergebnisse zu erhalten, werden standardisierte Messinstrumente wie etwa ein Lineal, ein Zollstock oder ein Maßband verwendet. Diese repräsentieren konventionelle Einheiten wie mm, cm und m auf einer Messskala. Durch diese Messskala wird der Messprozess unterstützt und es ist einfacher, Messresultate zu notieren. Überdies wird die Unterteilung der Einheiten durch die festgelegten Striche herausgestellt. Die Anwendung stimmt mit der nicht-normierter Messinstrumente überein. Allerdings muss der Messvorgang anfangs eingeübt werden, da es bei der Nutzung eines Lineals sehr wichtig ist, dieses gerade anzulegen und die Null als Anfangspunkt zu nehmen. (vgl. Nührenbörger, 2002, 22-36)

4. Denkwege von Kindern bei der „Längen“-Thematik

Entwicklungspsychologen und Pädagogen beschäftigen sich damit, wie Kinder die Fähigkeit erwerben, bzw. anwenden, Längen zu erfassen und zu vergleichen. Die wichtigsten Modelle werden hier skizziert:

4.1 Entwicklung des Messens von Längen nach Piaget

Erste wissenschaftliche Einsichten zur Entwicklung des Messverständnisses von Kindern stammen von Piaget, Inhelder und Szeminska (1974). Obwohl zwischenzeitlich an den Untersuchungen und Theorien Piagets vielfach Kritik geäußert wurde, werden sie dennoch häufig auch bei aktuelleren Studien genannt, da „seine inhaltlich-deskriptiven Darstellungen der kindlichen Ansichten und Vorgehensweisen beim Messen (…) auch heutzutage im Hinblick auf eine differenziertere Analyse gewinnbringend sind.“ (Nührenbörger, 2002, 50) Piaget integriert die Entwicklung des kindlichen Messverständnisses in seine Theorie der kognitiven Entwicklung, welche im Folgenden zusammenfassend dargestellt wird.

4.1.1 Kognitive Entwicklungstheorie

Der Biologe und Erkenntnistheoretiker Piaget sieht das Kind als „Wissenschaftler“ und seine „geistige Entwicklung als strukturelle Veränderung mentaler logischer Repräsentationen, die in unterschiedlichen, inhaltlich trennbaren Bereichen parallelisiert und zeitlich synchronisiert verlaufen.“ (Nührenbörger, 2002, 51)

Das Kind erschließt sich die Wirklichkeit durch die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt, wobei äußere Geschehnisse mit dem inneren Denken des Kindes verbunden werden.

Das soziale Umfeld spielt bei Piaget eine eher untergeordnete Rolle. Er ist der Meinung, dass das Kind fachliche Inhalte und Fertigkeiten nicht einfach übernehmen kann (zum Beispiel von Eltern und Geschwistern), sondern sich diese immer durch geistige Aktivitäten selbst aneignen muss. Für das Unterrichtsgeschehen ergibt sich daraus, dass die Schüler und Schülerinnen nicht passiv Lehrinhalte übernehmen sollen, sondern geeignete Angebote erhalten, um sich durch geistige Aktivität Wissen selbst anzueignen. (vgl. Nührenbörger, 2002, 51ff.)

Piaget sieht die kognitive Entwicklung als eine immer größer werdende Leistungsfähigkeit in den folgenden kognitiven Strukturen:

- „Abstraktion (Denkhandlungen lösen sich mehr und mehr von konkreten anschaulichen Handlungen)
- Flexibilität (Denkhandlungen werden beweglicher)
- Reversibilität (Denkhandlungen können zunehmend rückgängig gemacht werden)
- Differenzierung (globale Fähigkeiten werden immer spezifischer)
- Koordination bzw. Integration (isolierte Fähigkeiten werden zu komplexeren Einheiten verbunden)
- Ausdrucksformen (Wissenskonzepte finden ihren Ausdruck in konkreten Handlungen, Bildern, sprachlicher Artikulation oder Symbolen)“

(Nührenbörger, 2002, 54)

Dabei postuliert Piaget vier voneinander abgrenzbare und aufeinander aufbauende Entwicklungsstufen, welche durch „eine Reihe typischer struktureller Gemeinsamkeiten an mentalen Fähigkeiten und Defiziten“ (Nührenbörger, 2002, 54) gekennzeichnet sind:

1. sensumotorische Stufe (0 – 1,5 Jahre)

Zunächst ist das Denken noch sehr stark an aktive Handlungen mit konkreten Objekten und Wahrnehmungen gebunden. Nach und nach löst sich das Denken von den real vorhandenen Objekten und es entwickeln sich entsprechende Symbole.

2. prä-operative Stufe (1,5 – ca. 7 Jahre)

In der prä-operativen Phase wird das Denken abstrakter und flexibler, ist aber noch stark egozentrisch geprägt. Die Kinder können ihre Aufmerksamkeit nicht gleichzeitig auf mehrere Aspekte richten und sind kaum in der Lage Teilaspekte mit einem Ganzen in Beziehung bringen. Handlungen können zwar gedanklich durchgeführt, aber nicht rückgängig gemacht werden.

Mit ca. vier Jahren erfolgt hierbei der Übergang vom „vorbegrifflich-symbolischen“ zum „anschaulich-intuitiven Denken“, welches weniger objekt-verhaftet und flexibler ist. Die Denkprozesse sind allerdings immer noch abhängig von konkreten Anschauungen und direkten Wahrnehmungsreizen.

3. konkret-operative Stufe (7 – ca. 11 Jahre)

Ab dem siebten Lebensjahr sind „bewegliche verinnerlichte Handlungen; d.h. Denkhandlungen, die reversibel sind und die Konservierereigenschaften und die damit verknüpften Merkmale Invarianz und Transitivität beinhalten“ (Nührenbörger, 2002, 56) charakteristisch. Die Kinder können die Aufmerksamkeit auf mehrere Aspekte gleichzeitig richten und dadurch unterschiedliche Dimensionen eines Gegenstandes oder Vorganges erfassen. „Außerdem können durchgeführte Handlungen mental (…) rückgängig gemacht werden, so dass auch alternative Handlungen mit den zuvor durchgeführten koordiniert werden können.“ (Nührenbörger, 2002, 56)

Erst mittels konkret-operativen Denkens ist es Piaget zufolge Kindern möglich ein Messverständnis zu entwickeln und eine Vorstellung mathematischer Begriffe und Relationen aufzubauen.

4. formal-operative Stufe (ab ca. 11 Jahren)

Das die Adoleszenz und das Erwachsenenalter kennzeichnende schlussfolgernde und logische Denken beginnt ab ca. elf Jahren. Bis zu diesem Zeitpunkt bleiben die Denkwege mehr oder weniger an die Beobachtung oder frühere Erfahrungen gebunden. Erst mit dem formal-operativen Denken wird es möglich, auch komplexe Hypothesen zum Beispiel im Bereich Mathematik zu durchdenken, abzuschätzen und zu formulieren. (vgl. Nührenbörger, 2002, 55ff.)

4.1.2 Entwicklung kognitiver Messfähigkeiten

„Die Grundlage für die Entwicklung des Messverständnisses sehen Piaget u.a. (1974) in der genetischen Epistemologie; d.h. ein Kind konstruiert das Verständnis einer Maßeinheit im Kontext des Messens nicht aus den Messinstrumenten an sich, sondern aus den Handlungen mit ihnen, die miteinander koordiniert werden.“ (Nührenbörger, 2002, 57)

Um die Denkwege von Kindern beim Messen zu erfassen, hat Piaget Untersuchungen entworfen und durchgeführt, deren Ergebnisse er seinen kognitiven strukturellen Entwicklungsstufen zuordnet. So „verbindet er eine logisch-strukturelle Analyse des Messvorgangs mit seinem psychologischen Zugang zum Denken, um die kindliche Entwicklung des Messens zu strukturieren.“ (Nührenbörger, 2002, 57)

Wie bereits erwähnt (vgl. Kapitel 4.1.1), sind für die Entwicklung des Messens vor allem die prä-operative und die konkret-operative Stufe von Bedeutung. (vgl. Nührenbörger, 2002, 55)

Das „Prinzip der Erhaltung“ wird von Piaget als zentrale Messidee herausgestellt. Bei diesem Prinzip geht es darum, dass die Länge eines Objektes auch bei einer räumlichen Lageveränderung erhalten bleibt. Neben dem Aspekt der Längenerhaltung ist auch die Längeninvarianz sowie die Längentransitivität (vgl. Kapitel 3.2.) zu betrachten. Unter der Längeninvarianz versteht man im Zusammenhang mit der Längenerhaltung „eine bestimmte geistige Aktivität (…), die das Lösen sog. Invarianzaufgaben erlaubt; d.h. im Kontext der Länge, dass Kinder die Erhaltung der Anzahl an Einheiten erkennen, auch wenn bestimmte Transformationen der einzelnen Elemente stattfinden.“ (Nührenbörger, 2002, 57) Sobald das Denken der Kinder flexibel und reversibel ist, können transitive Schlüsse gezogen werden. (vgl. Nührenbörger, 2002, 57f.)

Des Weiteren zählt Piaget zur Entwicklung des metrischen Konzeptes die Vorgänge „Teilung“ und „Verlagerung“. Hiermit ist die Fähigkeit gemeint, ein längeres Objekt in mehrere kleine Abschnitte zu teilen, ein kurzes Objekt als einen Teil des längeren Objektes zu betrachten und dieses mehrmals an einem längeren Objekt abzutragen, um es messen zu können. Hierbei wird der kurze Abschnitt zu einer Einheit umgeformt; dies beruht auf dem Wissen, dass sich die Länge eines Objektes nicht verändert, wenn man es in mehrere Teile zerlegt. Bei diesem Zerlegungsprozess wird auf die Längenerhaltung und -transitivität zurückgegriffen. (vgl. Nührenbörger, 2002, 58)

Um diese Theorien zu überprüfen und somit ein Vorhandensein oder Fehlen der strukturell-logischen Messfähigkeiten zu zeigen, verzichtete Piaget bei seinen Untersuchungen auf standardisierte Messinstrumente. Für ihn war die Konstruktion eigener Messinstrumente interessanter und der Umgang damit die Voraussetzung für den späteren Umgang mit konventionellen Messinstrumenten. Seine Versuche wurden mit drei- bis neunjährigen durchgeführt. (vgl. Nührenbörger, 2002, 59f.)

Die Ergebnisse ordnete Piaget drei zentralen Stadien bei der Entwicklung des Messens zu:

Das erste Stadium (bis etwa 5 Jahre) ist geprägt vom egozentrischen Denken der Kinder. Sie richten ihre Aufmerksamkeit nur auf einen bestimmten Aspekt und können nicht mehrere Aspekte miteinander verknüpfen. Sie werden zum Beispiel sehr leicht durch eine räumliche Verlagerung der Objekte verwirrt. Es bereitet Kindern in diesem Stadium kein Problem, die Länge von unterschiedlichen Gegenständen visuell oder haptisch miteinander bezüglich der „größer“/„kleiner“-Relation zu vergleichen. Im Laufe der Zeit wird das Vergleichen der Kinder immer genauer, es gelingt ihnen auch, kleinere Unterschiede zu erkennen. Spontan werden keine weiteren Vergleichsverfahren angewendet, da Kinder die Richtigkeit ihrer Schätzungen nicht in Frage stellen. Bei Experimenten zum Messen mit Einheiten zeigen sie sich noch nicht fähig „eine Einheit zu konstruieren oder auch nur mittels qualitativ-operatorischer Transitivität ein gemeinsames Maß zu verwenden.“ (Piaget u.a., 1974, 151) Sie orientieren sich statt dessen am Anfangs- und Endpunkt, welche ihrer Meinung nach die Länge eines Objektes definieren. (vgl. Nührenbörger, 2002, 61f.)

Im zweiten Stadium (ca. 5 bis 7 Jahre) fangen Kinder an, das Prinzip der Erhaltung von Längen zu verstehen. Außerdem schaffen sie es, erste anschauungsgebundene, reversible Handlungen durchzuführen. Allerdings ist die räumliche Lage der Objekte immer noch ausschlaggebend. Es fällt Kindern sehr schwer, Zusammenhänge zwischen der Anzahl der Einheiten und der Länge eines Objektes zu begreifen. Sie entwickeln aber bereits präzisere visuelle und haptische Vergleichsstrategien. Es wird versucht, die Problematik der räumlichen Lagen der zu vergleichenden Objekte zu beseitigen, indem die Objekte näher aneinander gestellt werden, wodurch der Unterschied deutlicher wird. Mit der Zeit setzen Kinder ihre eigenen Körperteile zur Verfeinerung des Wahrnehmungsvergleichs als nicht-standardisierte Messinstrumente ein.

Langsam gelangen Kinder auch zu der Einsicht, dass der visuelle Vergleich Grenzen hat und dass eine unabhängige Einheit als Mittelglied sinnvoll ist. Beim Messen mit kürzeren Objekten, die mehrfach an dem zu messenden Objekt abgetragen werden, zeigt sich eine Vorstufe des Einheitsverständnisses. Homogene Einheiten und die operatorischen Kompositionen werden allerdings noch nicht erkannt. (vgl. Nührenbörger, 2002, 62f.)

Ab ca. sieben Jahren zeigt sich bei Kindern Einsichtsfähigkeit in das Prinzip der Längenerhaltung und der Längentransitivität: Trotz räumlicher Lagewechsel werden Längen als gleich erkannt. Bei der Begründung zeigen sich die Aspekte der Reversibilität oder der Kompensation. Die Kinder befinden sich auf dem Weg zum korrekten Messen. Beim Messen mit nicht-standardisierten Messinstrumenten werden eher Gegenstände gewählt, die entweder gleich lang oder länger als das Bezugsobjekt sind. Außerdem wird im dritten Stadium entdeckt, dass zur Längenentwicklung ein Mittelglied mehrfach aneinander gelegt werden kann. So entsteht die Fähigkeit zu messen und es wird die Synthese aus Zerlegung und Verlagerung hergestellt. Eine Übertragung der Einheiten auf andere zu messende Gegenstände findet statt, ohne dass sich die Größe und die Anzahl der Einheiten verändern. (vgl. Nührenbörger, 2002, 63)

In der folgenden Tabelle (Abbildung 3) werden die drei Stadien der Entwicklung kognitiver Messfähigkeiten dem vierstufigen kognitiven Entwicklungsmodell nach Piaget gegenübergestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Stadien der Entwicklung des Messens (Nührenbörger, 2002, 65)

Zusammenfassend kann hinsichtlich der Entwicklung des Messverständnisses folgendes festgehalten werden:

- „Die Fähigkeit zu messen und messend zu denken basiert auf handelnden und aktiv wahrgenommenen Auseinandersetzungen von Kindern mit ihrer (sozialen) Umwelt, die mental (re-) konstruiert werden.

- Das Messverständnis basiert auf dem Erwerb an Einsichten in die Prinzipien der Längenerhaltung, der Transitivität von Längen und der damit verbundenen Einsicht in die Synthese aus Konstruktion und Koordination (Teilung und Verlagerung) von Einheiten (…).

- Die Stadien geben an, dass Kinder auf qualitativ unterschiedliche Art und Weise in verschiedenen Perioden der Entwicklung denken. Die in den einzelnen Stadien dominierenden Vorgehensweisen können aus der analytischen Sichtweise des Erwachsenen auf das Messen mit altersabhängigen ‚Denkfehlern’ erklärt und als notwendige Vorläufer für das operative Messen interpretiert werden.
- Kinder erwerben erst mit Erreichen der konkret-operativen Stufe die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen für die Einsicht in die Messprinzipien; bis dahin gehen sie beim Messen qualitativ vor.
- Das Verständnis konventioneller Maßeinheiten des metrisches (!) Maßsystems sowie der sich darauf beziehenden Messinstrumente gilt als ein zusätzlicher Schritt, der erst mit der Entwicklung der Messeinsichten vollzogen werden kann. Ein solches Verständnis verlangt, dass nicht nur die einzelnen Schritte des Messens mechanisch befolgt werden, sondern dass man auch in der Lage ist, die dem Messen zu Grunde liegenden Operationen zu verstehen. Kinder, die noch nicht das konkret-operative Stadium erreicht haben, aber bereits mit konditionellen Messinstrumenten messen, besitzen bestenfalls gelernte, ritualisierte Messfertigkeiten.“ (Nührenbörger, 2002, 64f.)

4.1.3 Kritische Anmerkungen

Neben formalen Aspekten, wie der Art der Befragung und methodischen Unzulänglichkeiten der experimentellen Untersuchungen, werden auch inhaltliche Aspekte von Piagets Theorien kritisiert, „vor allem die postulierte Universalität der Denkstrukturen und die Verknüpfungen inhaltlichen Wissens mit allgemeinen Denkstrukturen werden in Frage gestellt. Intra- und interindividuelle Unterschiede im Tempo der Entwicklung und der Anwendung bereits entwickelter Strukturen wurden von Piaget kaum beachtet.“ (Nührenbörger, 2002, 66) Viele Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder werden mittlerweile aufgrund der Ergebnisse von Nachfolgestudien als früher verfügbar angenommen.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Piaget die soziokulturellen außerschulischen Vorerfahrungen vernachlässigt. Wie im praktischen Teil dieser Arbeit noch zu sehen sein wird, ist diese Kritik mehr als berechtigt: die Bedeutung für die kognitive Entwicklung ist eindeutig gegeben.

Trotz aller Unzulänglichkeiten ist aber die Theorie der kognitiven Entwicklung „als ein Meilenstein aktueller Theorien des Lehrens und Lernens herauszustellen.“ (Nührenbörger, 2002, 66f.)

Auf die Ansichten Piagets zur Entwicklung des Messens geht Nührenbörger (2002, 67-73) besonders kritisch ein, jedoch berücksichtigt er dabei wesentliche Erkenntnisse aus Nachfolgestudien. Die Schwächen des Modells bei der Alterszuordnung hinsichtlich Invariabilität und Universalität kommen auch in dieser Hinsicht besonders zum Tragen.

Sehr häufig wird auch die Versuchsanordnung Piagets kritisiert und „die allgemeine Aussagekraft der experimentellen Erhebungen kognitiver Grundeinsichten zur Einschätzung kindlicher Fähigkeiten in der Literatur angezweifelt.“ (Nührenbörger, 2002, 70)

Als weiterer problematischer Punkt wird diskutiert, dass sich vor allem jüngere Kinder durch die Aufgabenstellung sprachlich leicht irritieren lassen, und sich dadurch auf unwesentliche Aspekte konzentrieren. Ebenfalls gibt es Hinweise, dass den Kindern die Intention der Untersuchung während des Interviews nicht immer klar war. Zum Beispiel kann das Nachfragen nach dem Verformen von zwei als gleich lang erkannten Wegen dazu verleiten, bereits gegebene richtige Antworten zu korrigieren.

Diese lange Zeit nicht beachteten Probleme bei den Interviews führten dazu, dass einige Messfähigkeiten der Kinder außerhalb der strukturell-logischen Messeinsichten in der Didaktik der Mathematik nicht anerkannt und somit auch unterschätzt wurden. (vgl. Nührenbörger, 2002, 70ff.)

„Daher beinhalten die Erkenntnisse Piagets zumindest gewisse Grenzen im Hinblick auf ihre Aussagekraft über kindliche Messfähigkeiten. Die in den Experimenten sensu Piaget erhobenen kognitiven Messfähigkeiten können weniger als Voraussetzung zum Messen, sondern bestenfalls als Indikator für ein bereits erworbenes tieferes Messverständnis angesehen werden. (…) Ein zentraler Mangel an den Studien Piagets ist die geringe Beachtung der im Alltag erworbenen subjektiven Ansichten von Kindern über den Vorgang des Messens, die zur Ausbildung ‚mentaler Werkzeuge des Messens’ führen.“ (Nührenbörger, 2002, 73)

4.2 Didaktisches Stufenmodell nach Franke

Das praxisnahe didaktische Stufenmodell zum Umgang mit Größen im Sachrechnen von Radatz & Schipper (1983, 125), modifiziert nach Marianne Franke (2003, 201-215) „basiert auf Piagets Vorstellung von einer struktur-genetischen Entwicklung des kindlichen Geistes in universellen Stufen und invariablen Sequenzen, die die Entwicklung menschlichen Wissens im Laufe der Menschheitsgeschichte widerspiegelt.“ (Peter-Koop, 2001, 8f.) Das Modell wird im folgenden zunächst allgemein, anschließend am Beispiel vom Größenbereich „Längen“ vorgestellt und kritisch gewürdigt.

4.2.1 Behandlung von Größen allgemein

Im Kapitel 3 dieser Arbeit ist die Komplexität der Größenbereiche, insbesondere der Längen, bereits dargestellt worden. Franke (2003, 201-215; vgl. auch Peter-Koop, 2001, 8; vgl. auch Radatz u.a., 2002, 168) stellt ein didaktisches Stufenmodell zur Behandlung von Größen (Franke, 2003, 201) im Grundschulunterricht vor:

- Erfahrungen in Sach- und Spielsituationen sammeln
- Direktes Vergleichen von Repräsentanten
- Indirektes Vergleichen mit Hilfe von selbstgewählten Maßeinheiten
- Indirektes Vergleichen mit Hilfe standardisierter Maßeinheiten, Messen mit verschiedenen Messgeräten
- Umrechnen: Verfeinern und Vergröbern der Maßeinheiten
- Rechnen mit Größen

Ziel dieses Modells ist es, Kindern den Nutzen einer standardisierten Einheit nahe zu bringen und grundlegende Messfertigkeiten zu vermitteln. (vgl. Nührenbörger, 2001, 16) Die Stufenfolge dient als Orientierungshilfe, die Übergänge zwischen den einzelnen Stufen sollten fließend gestaltet werden und die Spielphasen dürfen keinesfalls zu kurz kommen. (vgl. Radatz u.a., 2002, 168)

Das didaktische Stufenmodell wird häufig im Unterricht eingesetzt, wobei Franke (2003, 201) kritisiert, dass die Vorerfahrungen der Kinder und die einzelnen Größenbereiche an sich zu wenig Beachtung finden. Aus ihrer Sicht ist die Entwicklung von Größenvorstellungen keineswegs mit der Einführung von standardisierten Maßeinheiten abgeschlossen: Kinder müssen durch unterschiedliche Aktivitäten mit den kennengelernten Maßeinheiten an das Objekt gebundene Vorstellungen von Größen erwerben. Aus diesem Grund fügt Franke eine weitere Stufe „Aufbau von Größenvorstellungen“ ein. (vgl. Franke, 2003, 201)

1. Stufe: Erfahrungen in Sach- und Spielsituationen sammeln

Kinder sammeln bereits vor der Schulzeit Erfahrungen mit Größen. Sie sortieren und ordnen Gegenstände, wobei Relationen wie größer – kleiner, länger – kürzer, etc. verwendet werden. Kinder können auch schon Maßeinheiten nennen, unter anderem in den Bereichen Zeit, Entfernungen und Geld; allerdings sind diese Kenntnisse nur selten mit einer realistischen Vorstellung verbunden. Sogar mit Messinstrumenten haben einige Kinder bereits Erfahrungen gesammelt, wie zum Beispiel beim Messen mit einem Zollstock, Wiegen im Supermarkt, etc. Die Lehrkraft sollte diese Vorerfahrungen als Ausgangspunkt für den Unterricht verwenden. (vgl. Franke, 2003, 202)

2. Stufe: Direktes Vergleichen von Repräsentanten

Den Kindern sollen Relationsbegriffe („… ist so lang wie…“, etc.) erklärt werden. Für eine Relation benötigt man immer zwei Objekte, die miteinander verglichen werden. Die Voraussetzung für einen direkten Vergleich ist, dass beide Objekte zur gleichen Zeit am gleichen Ort verfügbar sind. Wenn man zum Beispiel Körpergrößen vergleichen will, müssen sich mindestens zwei Personen im gleichen Raum befinden, sonst ist kein direkter Vergleich möglich.

Bei einigen Größen ist aber ein direkter, „augenscheiniger“ Vergleich nicht möglich; Zeiten und Gewichte zum Beispiel können nicht visuell wahrgenommen werden. Sowohl bei Kindern als auch noch bei Erwachsenen kann es hierbei zu Fehleinschätzungen kommen: Ein großer Karton wird aufgrund seiner Größe als sehr schwer eingeschätzt, er könnte aber auch leer und somit sehr leicht sein.

Ebenso schwierig kann es sein, besonders große bzw. sehr kleine Einheiten direkt miteinander zu vergleichen; auch Erwachsene können zum Beispiel Strecken > 1km nicht ausreichend visuell wahrnehmen.

Sortieren und Ordnen nach festgelegten Kriterien (vom Kleinsten zum Größten oder vom Schwersten zum Leichtesten) lassen sich gut mit dem direkten Vergleichen verknüpfen. Hierdurch wird auch die Transitivität der Ordnungsrelation verdeutlicht: Marie ist größer als Jan und Tom ist größer als Marie, daraus ergibt sich, dass Tom der Größte der drei Kinder ist. (vgl. Franke, 2003, 202f.) Lorenz (1992, 12) stellt fest, dass diese Folgerung besonders für schwache Schüler und Schülerinnen schwer nachvollziehbar ist. Diese Vorstellungsprobleme müssen allerdings unbedingt behoben werden, da es andernfalls zu einer Reihung von Problemen bei Messverfahren kommen kann.

3. Stufe: Indirektes Vergleichen mit Hilfe selbstgewählter Maßeinheiten

In dieser Stufe geht es um zwei Aspekte. Einerseits soll ein drittes Objekt als Vermittler benutzt werden, wenn sich die beiden zu vergleichenden Objekte nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden. Andererseits soll ein Objekt zum Messen als eine selbstgewählte Maßeinheit gebraucht werden. Mögliche Einheiten beim Größenbereich „Längen“ könnten Körpermaße oder bei „Gewichten“ Steckwürfel sein.

Dabei können einige Probleme auftreten: Wie bereits festgestellt, haben viele Kinder Vorerfahrungen mit standardisierten Maßeinheiten gesammelt; diese Kinder wird man kaum überreden können, nicht-standardisierte Einheiten anzuwenden. Viele Didaktiker (vgl. insbes. Lux, noch nicht veröffentlicht, 105f.; vgl. auch Lorenz, 1992, 12f.; siehe ferner Nührenbörger, 2001, 17f.) betonen allerdings, wie wichtig „leibliche Erfahrungen“ für das Größenverständnis sind. „Der Mensch ist das Maß der Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht-seienden, dass sie nicht sind.“ (Winter, 2001, 46) Die eigenen Körpermaße sind zu jeder Zeit verfügbare Repräsentanten, welche man sehr gut zum Vergleichen oder Abschätzen nutzen kann.

Durch den oft umständlichen Umgang mit willkürlichen Einheiten wird Kindern im Handeln deutlich, dass standardisierte Maßeinheiten sinnvoll sind. (vgl. Franke, 2003, 203f.)

4. Stufe: Indirektes Vergleichen mit Hilfe standardisierter Maßeinheiten

Der Umgang mit standardisierten Maßeinheiten ist einer der zentralen Punkte bei der Entwicklung von Größenvorstellungen. Neben dem Erlernen des technischen Vorgehens beim Messen, sollen Kinder die verschiedenen zusammengehörigen Maßeinheiten kennenlernen. (vgl. Franke, 2003, 204) Peter-Koop (2001, 9) hält fest, dass jedes Maßsystem auf drei grundlegenden Tätigkeiten beruht:

- „Es muss eine Einheit gefunden werden, die unabhängig von Zeit und Raum ist.
- Diese muss wiederholt benutzt und dabei gezählt werden, wenn das zu Messende größer ist als die Maßeinheit.
- Die Einheit muss systematisch untergliedert werden, wenn keine natürliche Maßzahl das zu Messende völlig erfassen kann.“

Es ist nicht ausreichend, Kindern nur die Standardeinheiten nahe zu bringen; es muss auch der Aufbau von Skalierungen auf den Messgeräten besprochen werden. Ein wichtiger Schritt hierzu ist das selbständige Entwerfen von Skalierungen und das eigene Herstellen von Messgeräten. Dieser Prozess kann der beobachtenden Person Hinweise auf die Denkweisen der Kinder beim Messen geben. (vgl. Nührenbörger, 2001, 18f.) Besonders erklärungsbedürftig ist die Bedeutung der Zahl „Null“ als Ausgangspunkt auf der Skala des Messinstrumentes. (vgl. Franke, 2003, 205)

Durch Probieren und Beobachten erfahren die Lernenden, dass es unterschiedliche Maßeinheiten und Messinstrumente gibt, die abhängig von der Größe des zu messenden Objektes gewählt werden müssen: Es wäre sehr aufwendig und fast unmöglich, die Strecke zwischen zwei Städten mit einem Schülerlineal zu messen und die Strecke in Zentimeter anzugeben.

5. Stufe: Umrechnen: Verfeinern und Vergröbern der Maßeinheiten

Das Umrechnen in größere und kleinere Maßeinheiten setzt Kenntnisse des notwendigen Zahlenraums voraus. Deshalb wird zum Beispiel die Einheit „Kilometer“ erst in der dritten Klasse eingeführt, wenn die Kinder mit dem Zahlenraum bis 1000 vertraut sind. (vgl. Franke, 2003, 199) Das Umwandeln von Größeneinheiten sollte unter lebenspraktischen Gesichtspunkten mit Kindern eingeübt werden. Formale Übungen zum Etablieren eines Automatismus sind allerdings dennoch erforderlich.

Ein Überblick (Abbildung 4) veranschaulicht, wie die Einheiten zueinander in Verbindung stehen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Größenbereich Längen (Franke, 2003, 206)

Ausgehend von der Grundlänge Meter werden die Maßeinheiten von „Längen“ berechnet. Die Umwandlungszahlen sind bereits in den Benennungen erkennbar: „Zentimeter“ zum Beispiel steht für „ein hundertstel Meter“. Aufgrund der dezimalen Aufteilung des Größenbereiches kann eine Maßeinheit durch Multiplikation (*10) verfeinert werden und durch Division (/10) vergröbert werden. (vgl. Franke, 2003, 206)

In Abbildung 5 werden die Vorsilben dargestellt, mit deren Hilfe die Umwandlungszahlen bestimmt werden können:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Vorsilben zum Bilden von Einheiten (Franke, 2003, 207)

Beim Umrechnen in größere Einheiten tritt die Kommaschreibweise auf, die beim Größenbereich „Längen“ in der dritten Jahrgangstufe eingeführt wird. (vgl. Bayerische Staatsministerien für Unterricht und Kultus und Wissenschaft, 2000, 34)

Besonders beim Rechnen mit Geld ist die Kommaschreibweise, mit der Kinder im Alltag beim Einkaufen konfrontiert werden, sehr wichtig. Aber auch Längenbezeichnungen wie 1,54m sind Kindern geläufig. Um diese Größe richtig lesen zu können, muss die Zugehörigkeit der Maßzahlen zu den Einheiten bekannt sein. Die Größenbereiche „Längen“ und „Gewichte“ stellen für Schüler und Schülerinnen eine Herausforderung dar, weil es sich bei der Maßzahl nach dem Komma nicht um die nächst-kleinere Einheit handelt (bei „Längen“ wäre dies Dezimeter statt Zentimeter). Bei „Gewichten“ können aufgrund der weggelassenen Endnullen Probleme auftreten. So wird zum Beispiel 5,5kg zunächst als 5kg und 5g erkannt, aber nicht als 5kg und 500g. Mit einer Stellentafel (Abbildung 6) kann Kindern die korrekte Kommaschreibweise beigebracht werden - es wird deutlicher, wo die Null unverzichtbar ist und wo sie weggelassen werden kann: (vgl. Franke, 2003, 207ff.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Umwandeln in Kommaschreibweise (Franke, 2003, 209)

6. Stufe: Aufbau von Größenvorstellungen

Wie bereits erwähnt, wurde diese Stufe von Marianne Franke zusätzlich in ihr didaktisches Stufenmodell eingefügt, um die häufig oft vagen Größenvorstellungen der Kinder zu verbessern. Illustriert wird die Notwendigkeit dazu beispielsweise durch die Ergebnisse einer Befragung von Winter (1996, 19):

Unter Viertklässlern war nur etwas mehr als die Hälfte der Kinder fähig, die Größe eines Erwachsenen realistisch zu schätzen. Die Antworten schwankten zwischen 26cm und 18,40m. Auch variierte die geschätzte Länge eines Parkplatzes erheblich, 40% schätzten die Länge auf unter 3m, allerdings fielen auch Antworten wie 3cm oder 10cm. Solche bizarren Vorstellungen betrafen aber nicht nur den Größenbereich „Längen“: 60% der Befragten waren der Meinung, dass ein Brötchen weniger als 10g wiegt.

Im Unterricht erscheint Franke (2003, 210) die Erarbeitung von Repräsentanten im Unterricht als Vergleichsmöglichkeit zu den entsprechenden Größen sehr wichtig. Mögliche Standards werden in Abbildung 7 dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 7: Repräsentanten zu genormten Einheiten/Standards (Franke, 2003, 210f.)

Bei „Längen“ können Kinder auf ihre eigenen Körperlängen zurückgreifen. Solche Stützpunktvorstellungen müssen durch häufige Übungen verinnerlicht werden, sodass sie von Kindern beim Schätzen, Vergleichen und Lösen von Sachaufgaben ohne Probleme eingesetzt werden können. (vgl. Franke, 2003, 212f.)

7. Stufe: Rechnen mit Größen

Die letzte Stufe stellt das Rechnen mit Größen dar. Anfangs werden Kinder aufgrund der Einbettung in einen Sachverhalt herausfinden, dass unterschiedliche Objekte, wie Bäume und Elefanten nicht zusammengerechnet werden können. Demnach lautet die Schlussfolgerung, dass nur Objekte aus einem Größenbereich addiert werden können. Es ist aber möglich, zwei oder mehrere Objekte eines Größenbereiches zu addieren (3kg gelbe Äpfel + 3kg rote Äpfel) und zu subtrahieren (1000m - 50m ). Mit Hilfe einer natürlichen Zahl kann man eine Größe vervielfachen (4 * 5kg) und die Aufteilung einer Größe ist ebenfalls möglich (Staffellauf: 2000m / 4). Beim Rechnen mit Größen ist es wichtig, dass die Größen gegebenenfalls in die gleiche Einheit umgewandelt werden. (vgl. Franke, 2003, 214)

4.2.2 Behandlung von „Längen“

Franke (2003, 215-222) hat das didaktische Stufenmodell am Beispiel „Längen“ konkretisiert. Es wird hier ausführlich als Anregung zur Unterrichtsplanung vorgestellt und stellt auch eine Grundlage für meine eigenen praktischen Untersuchungen dar.

1. Stufe: Erfahrungen in Sach- und Spielsituationen sammeln

Schüler und Schülerinnen haben bereits im Alltag mit Begriffen Erfahrungen gesammelt, die eine Relation zwischen zwei Objekten darstellen: zum Beispiel „… ist so groß wie…“, „…ist so hoch wie…“, „…ist so dick wie…“. Aus diesen Kenntnissen heraus kann zum Längenbegriff abstrahiert werden. Verbindungen zum Sportunterricht beim Ballwerfen oder Weitspringen können helfen, diese Erfahrungen in den Unterricht einzubauen.

2. Stufe: Direktes Vergleichen von Repräsentanten

Bereits Kindergartenkinder können Objekte miteinander vergleichen. Die Aufgaben-stellungen sollten möglichst sinnvoll und interessant sein: Stühle der Höhe nach zu sortieren scheint weniger motivierend als das Vergleichen der eigenen Körpergröße mit der des Spielkameraden; und eine besondere Herausforderung ist es, alle Kinder einer Klasse/Gruppe sich der Größe nach aufstellen zu lassen. Kindern wird bei diesem komplexen Versuch die Verwendung eines Hilfsmittels die Aufgabe erleichtern, wodurch sie zur nächsten Stufe weitergeführt werden.

3. Stufe: Indirektes Vergleichen mit Hilfe selbstgewählter Maßeinheiten

Als Hilfestellung zur Lösung der Aufgabe kann ein Strich an der Tafel dienen, der die Größe/Länge jeden Kindes zeigt. Die Funktion des Striches ist die eines Vermittlers, denn es ist nun möglich, zwei Kinder miteinander zu vergleichen, ohne dass diese direkt nebeneinander stehen. Auch die Reihung aller Teilnehmer ist damit visuell abzulesen. Ein weiterer Vermittler kann eine Schnur, ein Stab oder ein Körperteil (Fingerspanne, Daumenbreite oder Fußlänge) sein. Der Vermittler wird als selbstgewählte Maßeinheit eingesetzt. Nach einigen Messversuchen wird Kindern allerdings auffallen, dass die Verwendung von Körpermaßen unzuverlässig sein kann, zum Beispiel aufgrund von unterschiedlichen Fußgrößen. Für die Einführung standardisierter Maßeinheiten ist damit der Weg bereitet.

4. Stufe: Indirektes Vergleichen mit Hilfe standardisierter Einheiten

Kinder kennen bereits von zuhause standardisierte Messinstrumente wie Lineal, Maßband oder Zollstock. Außerdem wissen die meisten, dass sie größer als 1m sind. Mit der Einführung eines Repräsentanten, der genau 1m lang ist, können erste Erfahrungen gesammelt werden, welche Gegenstände größer, kleiner oder gleich groß sind. Anschließend kann der Meterstab zum Messen benutzt werden. Es wird gezählt, wie oft der Meterstab aneinander gelegt werden muss, bis man von der einen Wand des Zimmers zur anderen kommt, sodass man die Länge des Raumes erhält. Die selbständig gemessenen Längen können als Stützpunktvorstellungen für spätere Vergleiche herangezogen werden. Von der Arbeit mit dem Meterstab ausgehend lernen Kinder „richtige“ Messgeräte kennen und merken, dass man von einem Meterband oft einfacher ablesen kann.

5. Stufe: Verfeinern und Vergröbern der Maßeinheiten

Auf der Skala der Messgeräte können die Kinder ebenfalls herausfinden, dass es auch kleinere Maßeinheiten gibt, die nötig sind, um genauer messen zu können. Als Verfeinerung der bereits bekannten Maßeinheit Meter wird der Zentimeter eingeführt.

In der Grundschule ist besonders der Umgang mit dem Lineal wichtig. Es ist überschaubarer als ein 5m-Band und sollte bei jedem Kind im Federmäppchen vorhanden sein. Es veranschaulicht neben dem Vervielfältigen auch das Zerlegen von 1cm in 10mm. Im praktischen Umgang ist die Bedeutung der Null als Anfangspunkt der Skala herauszuarbeiten. (vgl. Kapitel 4.2.1)

6. Stufe: Aufbau von Größenvorstellungen

Frühzeitig sollten mit Kindern Größenvorstellungen erarbeitet werden. Diese können ihnen helfen, Längen mittels immer verfügbarer Vergleichswerkzeuge abzuschätzen, wie der Fingerbreite von ca. 1cm oder einem Schritt von ca. 1m Länge.

Zunächst sollten die eigenen Körpermaße als Größenvorstellungen eingeführt werden. (vgl. insbes. Nührenbörger, 2001, 16ff.) Die Arbeit mit einem „Körperbuch“, in dem „verschiedene auf den (eigenen) Körper bezogene Messaktivitäten gesammelt“ (Nührenbörger & Peter-Koop, 2001, 2) werden, hat sich vielfach bewährt. Kinder können eintragen, wie groß sie sind, wie breit ein Finger ist, wie lang der Fuß ist, etc. Hierdurch können Messerfahrungen und – ergebnisse vertieft und Stützpunktvorstellungen erworben werden.

Durch weitere Messungen von unterschiedlichen Objekten, mit denen Kinder im alltäglichen Leben konfrontiert werden, prägen sie sich die Größenvorstellungen über die eigenen Körpermaße hinaus ein. Kinder machen die Erfahrung, dass sie immer genauer abschätzen können, wie lang etwas ist, wenn sie vor der Messung schätzen und das zu messende Objekt mit ihren Größenvorstellungen vergleichen.

7. Stufe: Rechnen mit Längen

Nachdem Kinder gelernt haben, Längen abzuschätzen und zu messen, kann auch mit Längen gerechnet werden. Sportliche Aktivitäten bieten sich nun als Aufgabenstellungen an, aber auch Themen wie „mein Schulweg“ oder „unser Ausflug“. Das bloße Rechnen allerdings hilft kaum, die Größenvorstellungen weiter zu entwickeln. Sinnvoll ist es bei den Sachaufgaben, den Unterschied zu berechnen, in andere Einheiten umzurechnen und zur nächstgrößeren Einheit ergänzen zu lassen. Die Aufgabenstellungen sind an die Klassenstufe anzupassen. (vgl. Abbildung 1: Größen in der Grundschule)

4.2.3 Kritische Anmerkungen

Das Ziel des didaktischen Stufenmodells ist es, Kindern den Nutzen einer standardisierten Maßeinheit nahe zu bringen und grundlegende Messfertigkeiten zu vermitteln. Verschiedene Studien zu Längenvorstellungen bei Grundschulkindern zeigen allerdings, dass Kinder am Ende ihrer Grundschulzeit kaum Vorstellungen über Maßeinheiten besitzen und nur den Umgang mit konventionellen Messinstrumenten beherrschen. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Stufenabfolge keine individuellen Denkwege zulässt, und die Verknüpfung mit Vorwissen nicht angeregt wird. Es findet eine rein episodenhafte Beschäftigung mit dem Unterrichtsinhalt statt. Durch die sequentiell auf die Stufen abgestimmten Aufgabenstellungen wird neben den Vorerfahrungen auch die Forderung nach aktiv-entdeckendem Lernen vernachlässigt. (vgl. Nührenbörger, 2002, 96f.)

Auch in meinen praktischen Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass Schulanfänger bereits diverse Erfahrungen mit Messinstrumenten und Maßeinheiten gesammelt haben.

Peter-Koop (2001, 9) führt an, dass der Umgang mit nicht-standardisierten Messinstrumenten und Maßeinheiten nicht nur schwieriger ist, sondern sogar zur Entwicklung von Fehlvorstellungen führen kann. Bei einer Untersuchung von Bragg und Outhred in den 90er Jahren in Australien wurde festgestellt, dass viele Schulkinder das Messen mit dem Zählen von aneinandergereihten, willkürlich gewählten Maßeinheiten wie zum Beispiel Papierfüßen gleichsetzen, wodurch realistische Größenvorstellungen eher beeinträchtigt werden.

Ein weiterer kritischer Punkt beim Umgang mit nicht-standardisierten Maßeinheiten ist das Fehlen der Nullstelle beim Messen. Die Nullstelle hat beim Zählen zunächst keine Bedeutung, was bei der Einführung von konventionellen Messinstrumenten mit Nullstellen zur Verwirrung führen könnte.

4.3 Längenkonzept nach Nührenbörger

Bei Untersuchungen über die Denkweisen von Kindern wird hauptsächlich der Begriff „Vorstellungen“ verwendet, die sich zum Beispiel auf Zahlen oder auf Längen beziehen können. Mit dem Begriff „Konzept“ wird ein Netz von Vorstellungen zu einem Thema bezeichnet. Ausgehend von Denkprozessen, die nach Piaget auf vorangegangenen Handlungen und Erfahrungen basieren, konstruiert das Kind neue Handlungen. Die Denkstrukturen bauen also auf Handlungen auf, sind allerdings auch selbst Ausgangspunkt für weitere Aktivitäten. (vgl. Nührenbörger, 2002, 99)

Nührenbörger (2002, 99) versteht unter dem Begriff Längenkonzept „das Messdenken eines Kindes (…), das die zur Verfügung stehenden Ansichten und Vorgehensweisen rund um Längen umfasst.“

Die bereits existierenden Vorerfahrungen der Kinder zum Thema Längen gehören zum Aspekt der „Ansichten“. Dagegen bezeichnen die „Vorgehensweisen“ die Aktivitäten bei der Lösung einer Aufgabe und die Art und Weise, wie das Ergebnis interpretiert wird. Hierzu zählen die Verfahren: Vergleichen, Messen, Schätzen und der Einsatz von Messinstrumenten. Die genannten Ansichten und Vorgehensweisen beziehen sich auf einzelne Teilaspekte der Längenmessung.

Nührenbörger (2002, 99f.) sieht die in Abbildung 8 aufgeführten Bausteine als Rahmen, in dem die Kernidee des Messens und weitere Aspekte, die zur Bestimmung von Längen benötigt werden, enthalten sind:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 8: Bausteine eines Längenkonzeptes (Nührenbörger, 2002, 100)

5. Eigene Untersuchungen zum Themenbereich „Längen“ im Kindergarten

5.1 Theoretische Grundlagen

Heuvel-Panhuizen & Buys (2005, 37-40) beschreiben, dass sich bereits Kinder im Kindergartenalter im Alltag mit dem Messen von Längen beschäftigen. So versucht zum Beispiel ein Mädchen eine Decke zu finden, die genau so lang ist wie das Puppenbett oder es wird versucht, ein Geschenk in ein Stück Papier einzupacken, das groß genug ist um das Objekt komplett zu umhüllen. Neben diesen sehr wertvollen spontanen Aktivitäten, die von der betreuenden Person aufgegriffen und genutzt werden sollten, ist es wichtig, geplante Aktivitäten anzubieten, mit denen gezielt Lerninhalte erarbeitet werden können. Kinder können dabei ihre Fähigkeiten durch die Unterstützung der Lehrperson und anderer Kinder erweitern.

Im Kindergarten soll bei der Behandlung von Größen wie Längen, Volumen und Gewicht, hauptsächlich verglichen und geordnet werden. Zusätzlich können aber auch die nächsten Schritte behandelt werden, also Messen mit willkürlich gewählten Messinstrumenten inklusive einer Darstellung der Messergebnisse oder das Messen mit einem standardisierten Messinstrument. Da der numerische Sinn der Messskala auf konventionellen Messinstrumenten im Kindergartenalter kaum erfasst werden kann, werden sie eher bildhaft zum Messen verwendet.

Eine Beschäftigung mit mathematischen und physikalischen Größen ist auch für den Sprachgebrauch der Kinder sehr wichtig. Häufig wird das Wort „groß“ unabhängig davon verwendet, ob es sich auf Länge, Fläche oder Volumen bezieht.

Um einen differenzierten sprachlichen Ausdruck zu fördern, sollte bereits früh begonnen werden, Kindern die unterschiedlichen Eigenschaften der Größen nahe zu bringen.

5.2 Praktische Umsetzung

Die praktische Durchführung meiner eigenen Untersuchungen baut auf diesem Hintergrundwissen über die Behandlung von „Längen“ auf und erfolgte in zwei Phasen am Martin-Luther-Kindergarten in Erlangen - Büchenbach.

In der ersten Phase wurde im Rahmen eines Vorschulprojektes eine Aktivität zum Thema „Körpergrößen vergleichen“ durchgeführt. Ziel war, herauszufinden, wie mathematische Frühförderung im Kindergarten gestaltet werden kann und wie Kinder damit umgehen.

In der zweiten Phase wurden zehn Einzelinterviews durchgeführt um herauszufinden, inwieweit bei einzelnen Kindern das Längenkonzept (vgl. Kapitel 4.3) bereits ausgebildet ist. Des Weiteren sollte ein Einblick in die Denkweisen der Kinder beim Vergleichen und Ordnen von Größen gewonnen werden.

5.3 Rahmenbedingungen

Der evangelische Martin-Luther-Kindergarten besteht aus vier Gruppen mit jeweils 25 Kindern im Alter von drei bis sieben Jahren. Jede Gruppe wird von zwei pädagogischen Fachkräften betreut. Neben diesen Gruppenbetreuern gibt es weitere Fachkräfte, die vor allem für gruppenübergreifende Aktivitäten wie zum Beispiel das Vorschulprojekt oder Motopädagogik verantwortlich sind. (vgl. Homepage des Kindergartens: http://www.erlangen-evangelisch.de/mlk/maluki/)

Die erste Phase wurde mit vier Gruppen durchgeführt und fand an zwei Vormittagen in der dritten Juli-Woche statt. Die Größen der vier Gruppen variierten zwischen fünf und sieben Kindern. Die Gruppenstärken waren kleiner und überschaubarer als normal, da bereits einige Kinder mit ihren Eltern in den Ferien waren.

Wegen räumlicher Engpässe im Kindergarten mussten die Einheiten der ersten Phase im Foyer des Kindergartens stattfinden, wodurch es zu zahlreichen, leider nicht vermeidbaren Störungen kam, wie zum Beispiel durch zu spät kommende Eltern, andere neugierige Kinder oder hin und her laufendes Küchenpersonal.

Die Interviews der zweiten Phase dauerten durchschnittlich 20 Minuten, im Einzelnen variierten sie zwischen 17 und 25 Minuten. Auffallend ist, dass die Durchschnittsdauer der Interviews mit Vorschulkindern etwa zwei Minuten über dem Durchschnitt der Mittelkinder[1] lag.

Die Befragungen fanden überwiegend an Vormittagen statt. Es wurde mir dafür das Elternsprechzimmer des Kindergartens zur Verfügung gestellt, welches als Nebenzimmer des Sekretariats relativ ruhig gelegen ist. Dennoch waren die Kinder häufig durch das teilweise sehr laute Geschehen im Kindergarten und vor allem die Abläufe im Sekretariat abgelenkt.

Die Kinder für die Befragungen wurden in Absprache mit den Erzieherinnen willkürlich im Voraus ausgewählt. Lediglich die Anzahl der Kinder aus den Bereichen „Vorschulkind“ (fünf) und „Mittelkind“ (fünf) wurden von mir vorgegeben. Wegen Erkrankungen oder anderweitiger Abwesenheit musste die geplante Abfolge kurzfristig geändert und ein Kind ersatzweise befragt werden. Die Reihenfolge der durchgeführten Interviews war von den sonstigen Gruppenaktivitäten der Kinder abhängig.

Die Interviews wurden durch zwei Kommilitonen mit einer Videokamera aufgezeichnet.

Die Einverständniserklärungen der Eltern zu den Filmaufnahmen lagen bereits vor, da die Kindergarten-Leitung diese bereits generell am Anfang des Jahres erbeten hatte. Voraussetzung für die Aufnahmen war allerdings, die Namen der Kinder sowohl in der Arbeit als auch im Transkript aus Datenschutzgründen zu ändern.

Bei den Aufnahmen kam es bis auf einen Kassettenwechsels während eines Interviews zu keinen nennenswerten Störungen. Die Kinder ließen sich kaum durch die Anwesenheit der Kameraleute stören.

5.4 Erste Phase: Aktivität zum Thema „Längen“

5.4.1 Design der Aktivität

Die von mir durchgeführte Aktivität im Rahmen des Vorschulprojektes lautet „Körperlängen vergleichen“. (vgl. Heuvel-Panhuizen & Buys, 2005, 43ff.) Bei der Umsetzung wird auf die zweite und dritte Stufe des didaktischen Stufenmodells eingegangen: das direkte Vergleichen von Repräsentanten und das indirekte Vergleichen mit Hilfe von selbstgewählten Maßeinheiten. (vgl. Franke, 2003, 201)

Zunächst werden die Kinder, die von ihrer Erzieherin und mir Namenschilder erhalten haben, begrüßt. Es folgt eine kurze Vorstellung meiner Person und der Kamerafrau.

Um die Atmosphäre am Anfang der Einheit etwas zu lockern und in das Thema einzuführen, wird eine Variation des Spieles „Was für ein Unterschied!“ (Ros, 2005, 56) angeboten, damit die Kinder die Raumausdehnung „groß“ und „klein“ durch ihre eigenen Körperbewegungen wahrnehmen können. Gemeinsam mit mir besuchen die Kinder zunächst das „Riesenland“ im Foyer. Dort sollen sich alle so groß wie Riesen machen und auf Zehenspitzen gestreckt durch den Raum laufen. Anschließend gehen wir ins „Zwergenland“, wo die Kinder sich möglichst klein machen und sich in dieser Form weiterbewegen. Nach der Einführung wird die Gruppe in Riesen und Zwerge aufgeteilt, die in den Wald zwischen den beiden Ländern laufen und dort die anderen Lebewesen näher betrachten sollen. Wenn ich ein Kind anspreche oder auf seine Schulter tippe, wird ein Riese in einen Zwerg oder umgekehrt verwandelt. Nach ein paar Größenwechseln kommt ein neues Kommando und die Kinder sollen in ihrer momentanen Position verharren. Die Kinder werden aufgefordert, sich mit dem Unterschied zwischen den großen Riesen und den kleinen Zwergen noch einmal genau zu beschäftigen.

Als Überleitung zu den menschlichen Körpergrößen dient die Frage „Fällt euch auch bei den Menschen ein Unterschied auf?“. Die Kinder dürfen ihre Beobachtungen aus dem Alltag äußern. Falls die Kinder nicht selber auf die Idee kommen, dass man Körpergrößen vergleichen kann, wird gefragt, wie man herausfinden kann, wer aus der Gruppe der Größte und wer der Kleinste ist. Unterschiedlichste Möglichkeiten zum Vorgehen werden genannt und ausprobiert.

Nachdem die Kinder durch das direkte Vergleichen der Körpergrößen in einer Reihe aufgestellt sind, stellt sich ein neues Problem: „Hat jemand eine Idee, was wir machen können, damit wir auch morgen noch wissen, wie wir uns jetzt geordnet haben?“ Das Ziel soll sein, dass jedes Kind einen Papierstreifen erstellt, der genauso lang ist wie es selber. Um die Kinder auf den richtigen Weg zu bringen, kann einer der vorbereiteten 1,5m langen Papierstreifen gezeigt werden. Nachdem die Kinder herausgefunden haben, wozu die Papierstreifen gebraucht werden, soll gemeinsam erarbeitet werden, wie man es schafft, dass der Streifen genauso lang wird wie ein Kind. Wiederum sollen die Kinder durch Ausprobieren selber auf die Lösung kommen. Anschließend dürfen die Kinder in Partnerarbeit ihren eigenen Körperstreifen erstellen und gestalten.

Sobald alle Streifen fertig gestellt sind, versammelt sich die Gruppe in einem Halbkreis vor einer Wand. Die Streifen der Kinder werden der Größe nach geordnet, wodurch ein Säulendiagramm entsteht. Den Kindern werden sicherlich nach der Fertigstellung unterschiedliche Dinge auffallen, zum Beispiel, dass es mehrere Kinder gibt, die gleich groß sind, oder einen, der besonders groß ist.

Nach dem direkten Vergleichen und dem Messen der Körpergröße mittels Papierstreifen, geht es darum, dass die Kinder mit Hilfe von willkürlich gewählten nicht-standardisierten Messinstrumenten den Unterschied zwischen dem größten und dem kleinsten Kind bestimmen.

Als Abschluss bekommen die Kinder ein Blatt mit der Aufschrift: „Am Ende meiner Kindergartenzeit war ich so groß wie dieser Streifen. Juli 2008“. Dieses dürfen sie als Erinnerungshilfe auf ihren Papierstreifen kleben, verbunden mit der Anregung in einiger Zeit zu überprüfen um wie viel sie schon gewachsen sind.

Nach der Verabschiedung gehen die Kinder zurück in ihren Gruppenraum.

5.4.2 Auswertung

Da die Aktivität insgesamt viermal durchgeführt wurde, war es möglich, die unterschiedlichen Vorgehensweisen der Gruppen miteinander zu vergleichen. Die Dauer der Aktivitäten variierte zwischen 45 Minuten und einer knappen Stunde.

Nach der Einstiegsphase konnten alle Gruppen den Körpergrößen-Unterschied bei Riesen und Zwergen auch auf Menschen übertragen. In allen Gruppen wurde zuerst der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern genannt. Erst auf gezieltes Nachfragen gingen die Vorschulkinder auch auf Unterschiede bei Kindern ein. Allerdings wurde hier zunächst der Altersaspekt vor den Längenaspekt gestellt, die Kinder erwähnten, dass Babies kleiner und Schulkinder größer sind als sie selbst. Im Weiteren zeigte sich, dass einige Kinder bereits genau wussten, wer der größte und wer der kleinste in ihrer Gruppe war. Auf meine Behauptung: „Aber ich glaub’, dass es bei euch fünfen hier einen Unterschied gibt,“ stellte ein Junge aus der zweiten Gruppe fest: „Weil manche Kinder ganz klein sind, zum Beispiel die Sabrina wie ich, weil ich bin größer.“

Die Kinder hatten unterschiedliche Vorschläge zum Aufstellen in der korrekten Reihenfolge der Größe nach. Die meisten Kinder wussten, dass man sich nebeneinander stellen muss um mit der Hand zu überprüfen, wer größer ist. Ein Mädchen aus der ersten Gruppe erklärte: „Man kann sich hintereinander stellen und mit der Hand so runterfahren, und wenn einer bis dahin reicht, dann ist der kleiner,“ und hob eine Hand auf die Höhe ihrer Nase und die andere Hand lag auf dem Kopf. Ein weiteres Kind ebenfalls aus der ersten Gruppe sagte: „Man kann einfach einen Meterstab holen und den an die Kinder halten, um zu schauen welcher größer ist.“ Derartige Vorschläge wurden gewürdigt, konnten allerdings aufgrund fehlender Materialien nicht angewendet werden.

Das direkte Vergleichen bereitete allen Gruppen trotz unterschiedlichen Gruppendynamiken keine großen Schwierigkeiten. Während in den ersten beiden Gruppen die Kinder vorsichtig ausprobierten, übernahm in der dritten Gruppe ein Junge die Leitung und stellte seine Gruppe sehr zügig auf.

In der nächsten Phase der Aktivität sollte auf die Erstellung der Streifen hingeführt werden. Allerdings kamen die Kinder nicht spontan auf diesen Lösungsweg. Sie äußerten Ideen wie Namen der Reihe nach aufschreiben, fotografieren und Striche an die Wand zeichnen um die Größen festzuhalten. Als ihnen die Papierstreifen gezeigt wurden, war allen sofort klar wozu diese dienen könnten. Die Vorschläge der Kinder, wie man am besten einen Streifen abmisst, wurden gemeinsam ausprobiert. Viele Kinder erwähnten auch das Wort „messen“ bei der Beschreibung der Vorgehensweise. Alle Gruppen wählten zunächst die Möglichkeit, das leicht gewellte Papier an das Kind zu halten und den Scheitel mit einem Strich zu markieren. Nach einem Versuch und anschließendem Vergleich wurde diese Vorgehensweise gemeinsam als zu ungenau verworfen. Der Vorschlag, den Streifen und sich selbst auf den Boden zu legen, wurde nicht spontan genannt; aber in zwei Gruppen entstand die Idee den Streifen an einer Wand zu befestigen. Nachdem die Kinder in Partnerarbeit ihre Streifen markiert hatten, waren alle sehr um eine möglichst schöne Ausgestaltung bemüht.

Das folgende direkte Vergleichen der Streifen erwies sich als schwieriger. Viele Kinder wussten noch die Reihenfolge vom ersten Aufstellen und taten sich schwer, nun die Streifen miteinander zu vergleichen; dies war nötig, weil einige Streifen nicht exakt mit der Körpergröße übereinstimmten. So war ein Junge in der zweiten Gruppe aufgebracht, als ein Mädchen, dessen Größe beim ersten Vergleich mit seiner übereinstimmte, plötzlich ungefähr einen Zentimeter größer schien.

Den Kinder fiel nur auf, welches Kind das größte und das kleinste war und in einigen Gruppen wurde angemerkt, dass das Säulendiagramm einer Treppe ähnelt. Weitere Auffälligkeiten wie fast gleich lange Streifen oder besonders deutliche Unterschiede wurden nicht erwähnt.

Selbst das Herausfinden des Unterschiedes zwischen dem größten und dem kleinsten Kind machte in zwei Gruppen große Schwierigkeiten. Eine Gruppe kam trotz mehrfacher Hinweise meinerseits auf nicht-standardisierte Messinstrumente lange Zeit zu keiner Lösungsmöglichkeit, am Ende allerdings wurde gemeinsam erarbeitet, dass man die Breite der Hand als Maßeinheit einsetzen kann. In zwei der Gruppen war dies dagegen überhaupt kein Problem: Schnell wurde vorgeschlagen den längsten Streifen neben den kürzesten zu hängen um anschließend mit Fingerspannen oder der Größe der Hand den Unterschied herauszufinden. Besonders beeindruckend war ein Junge aus der vierten Gruppe, der einen quantitativen Vergleich durchführte. Er legte die Streifen nebeneinander, nahm einen Finger als Maßeinheit und zählte wie oft der Finger aneinandergelegt werden muss um den Abstand zu messen. Bei ihm war sogar bereits eine Größenvorstellung vorhanden, denn er wusste, dass die Breite eines Fingers ungefähr mit einem Zentimeter übereinstimmt. Andere Kinder schlugen vor, ein Lineal aus dem Gruppenraum zu holen um den Unterschied zu messen.

5.4.3 Kritische Anmerkungen

Abgesehen von kleinen Schwierigkeiten erwies sich die Aktivität zum Thema „Körperlängen vergleichen“ als eine gute Möglichkeit, vor allem das direkte Vergleichen der Kinder zu schulen. Der Aspekt des indirekten Vergleichens mit nicht-standardisierten Messinstrumenten war ansatzweise bei einigen Kindern bereits ausgeprägt. Wünschens-wert wäre gewesen, das Gelernte in einer Folgeeinheit zu festigen. Am Ende der Aktivität war die Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit der meisten Kinder schon sehr eingeschränkt.

Wie bereits in den Rahmenbedingungen erwähnt, fanden die Aktivitäten im Foyer des Kindergartens statt. Dies führte zu Beeinträchtigungen, welche die Kinder stark ablenkten. So kam es bei zwei Gruppen vor, dass eine andere Gruppe den Kindergarten durch das Foyer verließ. Häufig musste auch eine kurze Pause eingelegt werden, weil der Lärmpegel zu hoch war.

Ein unerwartetes Problem waren die Hausschuhe, die im Kindergarten obligatorisch getragen werden müssen. Beim Größenvergleich war es nötig, diese auszuziehen um ein korrektes Ergebnis zu erhalten, wie von einigen Kindern festgestellt wurde. Die Kinder waren sich allerdings der Tragepflicht bewusst, wodurch es zu erheblichen Gewissens-konflikten und Hemmungen kam.

Beim Anfertigen der Streifen wurde deutlich, dass auch schon im Kindergarten grundlegende Regeln zur Aufgabenstellung, wie sie in der Grundschule üblich sind, eingeführt werden können; so zum Beispiel das Wiederholenlassen der Aufgabenstellung durch eines der Kinder.

Das geplante indirekte Vergleichen mit Körperteilen als Messinstrument bereitete einigen Kinder unerwartete Probleme. Es wäre vermutlich einfacher für die Kinder gewesen, wenn sie weitere nicht-standardisierte Messinstrumente zur Auswahl gehabt hätten. So war praktisch die einzige Lösungsmöglichkeit, die Hände zu benutzen. Vor allem bei der dritten Gruppe dauerte dies sehr lang, wodurch die Aufmerksamkeit und Motivation der Kinder stark nachließen.

5.5 Zweite Phase: Befragung zum Längenkonzept

5.5.1 Methode: Das klinische Interview

Für die Befragung der Kinder wird die Methode des „klinischen Interviews“ gewählt. Im Folgenden wird das klinische Interview erläutert, das stark durch Jean Piaget geprägt wurde.

Zu Anfang des 20.Jahrhunderts wurden in der Kinder- und Jugendpsychologie vor allem standardisierte Tests verwendet, bei denen die Reihenfolge, der Wortlaut der Fragen und die möglichen Antworten klar vorgegeben sind. Piaget, der in seinem Lebenswerk, der genetischen Erkenntnistheorie „das Phänomen der menschlichen Erkenntnis durch das Verstehen ihres Entstehens“ (Selter & Spiegel, 1998, 100) zu erklären versuchte, schienen diese Test dafür ungeeignet.

Eine weitere Methode zur Erhebung von Denkprozessen ist die freie Beobachtung. Allerdings ist dies eine offene und damit auch extrem zeitaufwändige Methode, die zudem bei der Interpretation viele Gefahren birgt.

Piaget konnte sich für seine Forschungsarbeit mit Kindern mit keiner der beiden genannten Methoden identifizieren. Durch seine frühere Arbeit in psychiatrischen Einrichtungen kannte er das klinische Interview, dessen Hauptmerkmal darin besteht, durch behutsames Nachfragen einen Einblick in die Denkvorgänge des Patienten zu bekommen. Für Piaget stellte dieses Verfahren einen Mittelweg zwischen dem festgelegten standardisierten Test und der offenen Beobachtungsmethode dar, überdies konnte er sich mit dem Ziel dieser Methode identifizieren: Denkprozesse, die zu Handlungen und verbalen Äußerungen führen, zu verstehen. Er entwickelte eine Modifikation der Methode, die sich nicht nur auf Fragen und Antworten beschränkt, sondern auch das Hantieren mit Materialien umfasst, da es den Kindern häufig sehr schwer fällt, sich verbal auszudrücken. (vgl. Selter & Spiegel, 1998, 100f.; vgl. auch Nührenbörger, 2002, 122f.)

Die „revidierte klinische Methode“ wird als ein halbstandardisiertes Verfahren bezeichnet. Nach Nührenbörger (2002, 123) basiert es „auf einem Leitfaden mit vorformulierten Fragen und Aufgaben, die das Thema des Interviews problemzentriert eingrenzen.“

Durch den flexiblen Verlauf des Interviews wird diese Methode sowohl dem Aspekt der Unvorhersagbarkeit der Denkwege der Kinder als auch dem Aspekt der Vergleichbarkeit durch verbindlich festgelegte Leitfragen gerecht.

Nach Selter & Spiegel (1998, 101f.) ist das „klinische Interview“ folgendermaßen charakterisiert:

Zunächst muss die interviewende Person in die zu bearbeitende Thematik einführen und im Weiteren während des Interviews laufend Hypothesen über den Denkprozess der Testperson bilden, damit auf deren Antworten und Handlungen gezielt eingegangen werden kann. Ziel des klinischen Interviews ist es keinesfalls, der Testperson möglichst schnell zur richtigen Lösung zu helfen, sondern vielmehr das kindliche Denken zu erforschen. Um den kindlichen Denkprozess nicht zu unterbrechen, sollte auf den Einsatz von negativen Rückmeldungen gänzlich verzichtet werden, das Kind könnte hierdurch erheblich verunsichert werden. Dagegen sind positive Rückmeldungen, wie zum Beispiel Lob für die Bemühungen zur Aufrechterhaltung der Motivation sehr wichtig. Das Vorgehen der Interviewerin sollte aber von bewusster Zurückhaltung geprägt sein und Eingriffe nur sparsam, aber gezielt, erfolgen. Dies wird vor allem durch situationsangepasste Fragen oder Impulse als Zeichen des offensichtlichen Interesses an den Denk- und Handlungsweisen des Kindes erreicht. Außerdem ist darauf zu achten, dass die interviewende Person den unterschiedlichen Charakteren der Kinder gerecht wird.

Neben dem Ziel „dem authentischen Denken von Kindern möglichst genau ‚auf die Spur’ zu kommen“ (Selter & Spiegel, 1998, 107) hat das klinische Interview hier einen wichtigen Nebeneffekt: Die angehende Lehrkraft kann als Interviewer auch erfahren, dass es sich durchaus positiv auf den Erkenntnisprozess auswirken kann, wenn sich der Interviewer mit seinen verbalen Einwürfen zurückhält. (vgl. Selter & Spiegel, 1998, 101)

Folgende zehn Punkte sollten bei der Durchführung eines revidierten klinischen Interviews beachtet werden: (Selter & Spiegel, 1998, 107ff.)

- Zielgerichtete Flexibilität: Auf der Basis eines vorgeplanten Ablaufes muss dem Kind unbedingt flexibles Handeln zugestanden werden, da die Entwicklung des Denkprozesses den genauen Ablauf bestimmt. Das Interview muss sich am Denken und Tun des Kindes orientieren, es sollte versucht werden, möglichst viel von jedem einzelnen Kind zu erfahren. Fragen und Impulse sollten an den richtigen Stellen eingebracht werden. Der Interviewer sollte ebenfalls ein fundiertes Sachwissen in der besprochenen Thematik besitzen.
- Angenehme Gesprächsatmosphäre: Das Gespräch sollte einen entspannten, angenehmen Rahmen erhalten - es darf auf gar keinen Fall den Anschein einer Prüfungssituation bekommen. Um Sicherheit und Motivation zu fördern sollte am Anfang eine Aufgabe stehen, die aus dem Erfahrungsbereich des Kindes stammt und ihm keine Schwierigkeiten bei der Lösung bereitet
- Transparenz: Das Kind muss wissen, dass es nicht geprüft werden soll, sondern dass der Interviewende etwas von ihm lernen möchte. Dieser Rollenwechsel ist meiner Ansicht nach ein sehr wichtiger Punkt: Denn die ungewöhnliche Situation, dass ein Erwachsener etwas von einem Kind lernen möchte, kann eine starke Motivation bewirken. Auch die Sprache sollte der des Kindes angepasst sein - ohne Fremdwörter und komplizierte Satzkonstruktionen. Sobald der Eindruck entsteht, dass das Kind etwas nicht verstanden hat, sollte die Aussage wiederholt bzw. umschrieben werden.
- Herausforderung statt Belehrung: Der Redeanteil des Interviewers sollte möglichst gering gehalten werden. Das Ziel des Interviews ist nicht, gute Erklärungen zu geben, sondern das Kind durch die Fragen herauszufordern offen zu sprechen. Es sollten keine „lehrertypischen“ Verhaltensweisen wie Vermittlung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten eingesetzt werden.
- Annahme von Rationalität: Von vornherein sollte man damit rechnen, dass das Kind anders als Erwachsene denkt und handelt. Antworten, die einem Erwachsenen falsch erscheinen, können aus der Perspektive des Kindes sehr wohl richtig sein. Aus diesem Grund sollte das Kind auf gar keinen Fall unterbrochen oder eine seiner Aussagen als falsch dargestellt werden. Die in unseren Augen unzutreffenden Antworten sollten als Ausdrucksformen der kindlichen Denkprozesse und des aktuellen Entwicklungsstandes bewertet werden. Der Interviewer kann dem Kind gegenüber respektvoll zu verstehen geben, dass er etwas nicht nachvollziehen kann, um eine weitere Erklärung zu erhalten.
- Erzeugung (sozio-)kognitiver Konflikte: Falls das befragte Kind aus der Sichtweise des Erwachsenen eine falsche, bzw. unvollständige Antwort gibt, kann durch passende Nachfrage ein Konflikt zwischen der gegebenen Antwort und dem vermuteten Wissensstand beim Kind erzeugt werden. Das Kind muss sein Vorgehen deshalb überprüfen und einen der beiden widersprüchlichen Standpunkte verändern.
- Entdeckung der Langsamkeit: Der Interviewer muss geduldig sein, da Kinder oft Pausen in das Gespräch einbauen, in denen sie geistig aktiv sind. Diese Denkpausen dürfen auf gar keinen Fall zu schnell durch eingeschobene Nachfragen oder Erklärungen unterbrochen werden.
- Achtung vor Gesprächsroutinen!: Aus der Alltagserfahrung sind dem Kind Gesprächsroutinen geläufig. Es muss versucht werden, das Kind davon abzubringen, nur Antworten zu geben, die der Interviewer seiner Meinung nach hören möchte. Viele Kinder haben gelernt, dass eine Aussage offensichtlich falsch ist, wenn ein Erwachsener nachfragt, und dass ein Schweigen des Interviewers Zustimmung bedeutet. Um dem entgegenzuwirken, sollte gleich bleibendes Interesse vermittelt werden, um die spontanen Gedankengänge des Kindes möglichst wenig zu beeinflussen.
- Relativität der Information: Häufig kann ein Kind seine Antworten bzw. Handlungen nicht begründen, was akzeptiert werden muss. Fragen wie zum Beispiel „Wie bist du da drauf gekommen?“ helfen nicht immer weiter und bergen sogar die Gefahr, dass es eher zu einer Rechtfertigung der Antworten anstelle einer Erläuterung der Denkwege kommt.
- Reflexion des Designs: Unter gewissen Bedingungen kann ein Kind Leistungen nicht zeigen, zu denen es eigentlich fähig ist. Das muss nicht unbedingt an ihm selbst liegen, sondern kann auch ein Effekt der Interviewbedingungen sein. Um dieses Problem zu minimieren, empfiehlt sich die Durchführung eines Probedurchlaufs um das Design des Interviews zu reflektieren und zu verbessern.

Selter & Spiegel (1998, 102-106) weisen ausdrücklich auf häufige Probleme und Schwierigkeiten hin, die bei der Durchführung eines klinischen Interviews entstehen können. Der Interviewer sollte sich vorab darauf einstellen, um sie möglichst zu vermeiden und gegebenenfalls adäquat mit ihnen umgehen zu können.

Das zentrale und schwierige Anliegen ist, das Unbewusste erkennbar zu machen. Die unabdingbare Grundlage eines jeden Interviews ist deshalb eine angstfreie, möglichst entspannte Gesprächsatmosphäre. Dem Kind muss immer wieder verständlich gemacht werden, dass es nicht geprüft wird, sondern dass man großes Interesse an seinen Denkwegen hat. Viele Kinder erklären spontan, warum sie etwas tun, bzw. wie sie etwas tun. Häufig muss man aber nachfragen, wenn sie es nicht als notwendig empfinden oder es nicht gewohnt sind, ihre Handlungen zu verbalisieren. Hierbei ist darauf zu achten, dass man das Kind nicht durch zu häufiges Nachfragen verunsichert und unterbricht. Der Interviewer muss gewissenhaft abwägen ob und wann er noch einmal nachhakt, da der Spielraum zwischen Zurückhaltung und Eingreifen sehr schmal ist. Nicht selten kann aber ein Kind auch auf Nachfragen seinen Denkvorgang nicht rekonstruieren und verbalisieren, weil die sprachliche Fähigkeit hierzu nicht ausreicht oder es seiner Ansicht nach unnötig ist. Es kann versucht werden, durch Fragen wie „Kannst du sagen, wie du das herausgefunden hast?“ die Erklärung herbeizuführen. Schafft es ein Kind allerdings auch dann nicht, eine plausible Erklärung zu liefern, ist dies unbedingt zu akzeptieren. Es darf nie vergessen werden, dass das Kind im Interview einer doppelten Anforderung nachkommt, indem es einerseits eine Aufgabe lösen und andererseits sich auch zu der Problematik äußern soll.

Manchmal reagiert ein Kind nicht auf Fragestellungen oder antwortet nicht in der vorgesehenen Zeitspanne. Diese Schwierigkeit kann verschiedene Ursachen haben: Das Kind kann trotz Nachdenkens keine passende Antwort finden - traut sich aber nicht, dies dem Interviewer mitzuteilen; es kann auf einen Einfall warten; es ist verunsichert und möchte deshalb seine Meinung nicht äußern; es benötigt einfach mehr Zeit zum Nachzudenken… Letzteres ist besonders häufig, weshalb der Interviewer dem Kind die benötigte Mehr-Zeit einräumen sollte - oft wird nach einigen Minuten des Schweigens eine schlüssige Antwort geäußert.

Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob man falsche Antworten berichtigen soll. Eine negative Rückmeldung könnte, wie bereits erwähnt, zu einer Demotivation führen. Falls ein Kind jedoch aufgrund der fehlerhaften Lösung irritiert ist und nicht weiterkommt, sollte man die korrekte Lösung nennen, um ein problemloses Fortführen des Interviews zu ermöglichen. Um den Kenntnis- und Entwicklungsstand des Kindes bestimmen zu können, sind die gemachten Fehler aber sogar wichtig, da sie fast ausnahmslos einen rationalen Kern haben, den es durch gezieltes Nachfragen zu erforschen gilt. Damit das Nachfragen – vor allem bei falschen Antworten – das Kind nicht verunsichert, sollte grundsätzlich auch bei richtigen Antworten immer wieder nachgehakt werden.

[...]


[1] Als ein „Mittelkind“ bezeichnen die Erzieherinnen im Kindergarten die vier- und fünfjährigen Kinder, die noch nicht zu den Vorschulkindern zählen.

Ende der Leseprobe aus 213 Seiten

Details

Titel
Längenkonzepte im Kindergarten
Untertitel
Fallbeispiele zum Entwicklungsstand
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
1
Autor
Jahr
2008
Seiten
213
Katalognummer
V127474
ISBN (eBook)
9783640344253
ISBN (Buch)
9783640344390
Dateigröße
1283 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Längenkonzepte, Kindergarten, Fallbeispiele, Entwicklungsstand
Arbeit zitieren
Martina Possel (Autor:in), 2008, Längenkonzepte im Kindergarten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/127474

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