Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Forschungsstand
2.1 Bindungstheoretische Grundlagen
2.1.1 Bindungsbegriff
2.1.2 Bindungsentwicklung nach Mary Ainsworth
2.1.3 Bindungstheorie
2.1.4 Bindungsqualitaten
2.2 Bindungsstorungen
2.2.1 Diagnostik von Bindungsstorungen nach dem ICD-10
2.2.2 Atiologie von Bindungsstorungen
3 Korrektur negativer Bindungserfahrungen in der stationaren Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung
4 Beziehungsgestaltung in der Jugendhilfe - Eine qualitative Studie
4.1 Fragestellung
4.2 Empirische Forschungsmethode
4.3 Datenanalyseund-auswertung
4.4 Ergebnisse
4.5 Limitationen
5 Resumee
Literatur- und Quellenverzeichnis
Anhangsverzeichnis
Anhang 1 Schriftliche Befragung
Anhang 2 Antworten Kategorie 1 (K1)
Anhang 3 Antworten Kategorie 2 (K2)
Anhang 4 Antworten Kategorie 3 (K3)
1 Einleitung
Rund 13,7 Millionen Kinder und Jugendliche werden in stationaren Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen von Sozialarbeiter*innen betreut, begleitet und gefordert (vgl. Rudnicka, 2022). Da diese Kinder und Jugendlichen aus unterschiedlichen Grunden entweder phasenweise Oder dauerhaft nicht in ihrer Herkunftsfamilie le- ben, werden sie mitfremden Erwachsenen konfrontiert, die stellvertretend kleinere odergroftere Teile der Erziehungs- und Beziehungsarbeit ubernehmen.
Einige dieser Kinder und Jugendlichen haben in ihrer fruheren Kindheit Mangeler- fahrungen erlebt, indem Bindungsbedurfnisse wie Nahe und Schutz in extremem Ausmaft nicht passend, ungenugend Oder widerspruchlich beantwortet wurden Oder der Wunsch nach Distanz nicht gewahrt wurde. Diese Erfahrungen konnen Kinder und Jugendliche im Grundvertrauen erschuttern und zur Entwicklung einer Bindungsstorung fuhren. Diese konnen unterschiedliche Formen annehmen und verschiedene Problematiken mitsich bringen. Laut Ziegenhain (2009, S. 319) wei- sen rund 10% der Kinder und Jugendlichen in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen eine Bindungsstorung auf.
Trotz dieser Verbreitung von Bindungsstorungen unterden platzierten Kindern und Jugendlichen, steht das Storungsbild nur in einem geringen Fokus der Sozialpa- dagogik und zahlt haufig nur als Begleitdiagnose bei einer psychiatrischen Abkla- rung.
Auf der Grundlage des SGB VIII (Achtes Sozialgesetzbuch) werden normative Leistungen und Maftnahmen zum Wohle der Kinder und Jugendlichen eingerich- tet, urn die Entwicklung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen zur Selb- standigkeit und zur Sozialkompetenz zu fordern. Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen erfullen daher in erster Linie den Bildungsauftrag von Kindern und Jugendlichen.
Hinsichtlich Bindungsstorungen besteht ein signifikanter Handlungsbedarf durch die sozialpadagogische Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen, urn eine Bin- dungsfahigkeit aufzubauen und sie zur eigenverantwortlichen Personlichkeit zu er- machtigen. Da negative Bindungserfahrungen und Bindungssicherheiten uberGe- nerationen weitergegeben werden konnen, kann beispielsweise die Bindungshal- tung der Eltern das eigene Verhalten gegenuber Kindern und Jugendlichen beein- flussen, wodurch sich unbearbeitete Problematiken uber Generationen hinweg verfestigen konnen (vgl. Brisch, 2003, S. 57). Aufterdem reagieren bindungssi- chere Kinder und Jugendlichen mit einer grofteren psychischen Widerstandskraft auf emotionale Belastung, als Kinder und Jugendliche mit einer unsicheren oder desorganisierten Bindung. Schleiffer (2014, S. 169) auftert: „erkennt man in Bin- dungssicherheit einen protektiven Faktor, in unsichere Bindung dagegen einen Ri- sikofaktor fur die psychische Entwicklung eines Menschen, dann sollte die Entwicklung einer sicheren Bindung als Erziehungsziel angesehen werden". Jedoch wird die Thematik Bindungsstorung und die Chance zur korrigierenden Bindungs- erfahrung fur die betreuten Kinder und Jugendlichen in sozialpadagogischen Einrichtungen nur begrenzt in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen thematisiert. Hierzu postuliert Schleiffer (2014, S. 15) dass die Bindungstheorie schon eine jahr- zehntelange Geschichte vorweisen kann, jedoch „die Erkenntnisse aus der moder- nen Bindungstheorie und Bindungsforschung fur die Theorie und Praxis" in den Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen erst noch nutzbargemacht werden mussten. Obwohl die Bindungstheorie im Kontext der Heimerziehung entwickelt wurde, werden die vorhandenen Forschungsergebnisse in den Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen bisherwenig angenommen (vgl. Schleiffer2014, S. 15).
Die Praxisarbeit setzt sich mit der Forschungsfrage: ,Welche Mittel und Wege nutzt die stationaren Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung ALEP e.V. zur Korrektur nega- tiver Bindungserfahrungen von Kindern und Jugendlichen?' auseinander.
Zur Beantwortung der Forschungsfrage gliedert sich die Praxisarbeit in vier Teile. Der erste Abschnitt legt den aktuellen Forschungsstand dar, welcher unterschied- liche Unterpunkt beinhaltet. Um eine theoretische Grundlage fur das inhaltliche Verstandnis zu schaffen, stellt dieses Kapitel die signifikanten Aspekte der Bindungstheorie dar und nutzt die Erkenntnisse des Kinderpsychiaters und Psycho- analytikers John Bowlby und der Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth. Zum Verstandnis der Problematik wird eine umfassende Einfuhrung in die relevanten Aussagen der bindungstheoretischen Grundannahmen gegeben. Anschlieftend wird sich mit dem Storungsbild der Bindungsstorung, insbesondere mit der Diag- nostik der Bindungsstorungen nach dem ICD-10 und der Atiologie der Bindungs- storungen, auseinandergesetzt.
Der zweite Abschnitt befasst sich mit dem Themenkomplex der Korrektur negativer Bindungserfahrungen in der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung. Im Anschluss wird im dritten Teil eine empirische Untersuchung, im Unterpunkt Beziehungsge- staltung eine qualitative Studie, in Form von einer qualitativen halbstrukturierten schriftlichen Befragung, durchgefuhrt. Dadurch konnen die Mittel und Wege der Sozialarbeiter*innen in der stationaren Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung ALEP e.V. zur Korrektur negativer Bindungserfahrungen erfasst werden.
Innerhalb des Resumees, im vierten Abschnitt, werden die Ergebnisse der Praxis- arbeit und ein Ausblick dargelegt. In der Praxisarbeit wird deduktiv vorgegangen, indem aus einer Theorie, auf Basis der Forschungsfrage, zur Empirie, welche aus den Ergebnissen der qualitativen halbstrukturierten schriftlichen Befragung be- steht, gearbeitet wird.
2 Forschungsstand
2.1 Bindungstheoretische Grundlagen
2.1.1 Bindungsbegriff
„Bindung kann definiert werden als das gefuhlsmaftige Band, welches eine Person [...] zwischen sich selbst und einem bestimmten anderen knupft - ein Band, das sie raumlich verbindet und das zeitlich andauert. Kennzeich- nend fur die Bindung ist ein Verhalten, das darauf ausgerichtet ist, einen bestimmten Grad an Nahe zu einem Objekt der Bindung herzustellen und aufrechtzuerhalten, was, je nach den Umstanden, von nahem korperlichem Kontakt bis zur Kommunikation und groftere Entfernungen reichen kann“ (Grossmann & Grossmann, 2003, S. 147).
Bowlby ist der Meinung, dass sich dieses emotionale imaginare Band der Bindung in der Kindheit entwickelt, sowie auf alle darauffolgenden Entwicklungsphasen des Menschen einen Einfluss hat. Die Bindung stellt fur ihn eine emotionale Basis dar, welche bis ins hohe Alter hinein andauert. Aufterdem sieht er die Bindung als ein naturliches Uberlebensmuster, welches jedoch vom Nahrungs- und Sexualtrieb abgegrenzt werden muss (vgl. Bowlby, 2014, S. 21). Des Weiteren auftert Bowlby, dass Bindungen signifikant fur die emotionale und kognitiv-kulturelle Entwicklung eines jeden Menschen ist, urn die Herstellung psychischer Sicherheit und fur seine Entwicklung als engagiertes Mitglied in seiner Kultur, zu gewahrleisten.
Die Bindung nach Brisch (2015, S. 35) ist als ein selbst regulierendes System zu verstehen, bei dem die Teilnehmer*innen des Systems, beispielsweise Kind und Bindungsperson, in einer Wechselwirkung miteinander agieren. Bindungen werden als Teil eines sehr komplexen Beziehungssystems verstanden.
Die Differenzierung zwischen Bindung und Bindungsverhalten ist fur Bowlby ent- scheidend. Ein Kind knupft grundsatzlich nur mit wenigen Menschen dauerhafte Bindungen, denn eine aktive Oder passive Bindung setzt ein starkes gesteuertes Bedurfnis nach Kontakt zu einer bestimmten Person voraus, welches ein konstan- tes, weitgehend stabiles und situationsunabhangiges Merkmal des Bindungssuchenden darstellt (vgl. Bowlby, 2014, S. 22). Das Bindungsverhalten hingegen kann sich situationsabhangig an mehrere Personen richten, denn dies beinhaltet samtliche auf physische Oder psychische Nahe ausgerichtete Verhal- tensweisen des Kindes. Jedoch wenn Kinder Schwierigkeiten haben bei der Diffe- renzierung zwischen Bindung und Bindungsverhalten kann sich eine ernstzuneh- mende psychische Storung entwickeln (vgl. Bowlby, 2014, S. 22). Das Bindungsverhalten wird von Bowlby (2006, S. 192) als „das Aufsuchen und Aufrechterhalten der Nahe eines anderen Lebewesens" aufgefasst. Das Bindungsverhalten wird un- ter starker Beanspruchung erkennbar, wobei die Bindung kontinuierlich, orts- und zeitunabhangig ist. Die wichtigste Funktion des Bindungsverhaltens ist nach Bowlby der Schutz des Kindes (vgl. Zepf, 2005). Weitere Kernfunktionen sind das Ler- nen und die Anpassung an die Umgebung. Innerhalb der Bindung wird zwischen Signalisierungs- und Annaherungsverhalten unterschieden. Durch signalisierende Verhaltensweisen wie Schreien, Lacheln, Schreien und Ausstrecken versucht das Kind, das Erscheinen der Bindungsperson hervorzurufen. Das Annaherungsverhalten, beispielsweise durch motorische Techniken, Greifen, nicht nahrhaftes Sau- gen Oder Greifen an der Brust, dient dem Kind die Trennung zu verhindern und die Nahe zur Bindungsperson beizubehalten.
Abhangig vom Bindungsverhalten, aberdiesem gleichzeitig gegenuberstehend, ist das Explorationsverhalten. Dabei steht das Bindungs- und Explorationsverhalten in einerwechselseitigen Beziehung zueinander. Laut Bowlby (2011, S. 21) ist das Bedurfnis, die Umwelt zu erkunden, zu spielen und sich an Aktivitaten mit Gleich- altrigen zu beteiligen, ein bedeutsames Attribut der menschlichen Natur. Um das Explorationsbedurfnis befriedigen zu konnen, benotigtdas Kind eine Bindungsperson, das als sichere emotionale Grundlage erlebt wird. Sobaid sich ein Kind wohl- fuhlt, kann es seine Umgebung ungehindert erkunden. Wie das Bindungsbedurfnis ist auch das kindliche Explorationsbedurfnis von Geburt an vorhanden, verstarkt sich jedoch, wenn das Kind etwa ab dem 7. Lebensmonat zu krabbeln beginnt (vgl. Brisch, 2015, S. 39). Wenn die Bindungsperson die Bindungsbedurfnisse des Kindes erfolgreich erfullt, beruhigt sich das Bindungsverhalten. Dadurch konnen Kinder ihrer angeborenen Neugier in Form von Explorationsverhalten nachgehen und sich mehr Oder weniger von seiner Bindungsperson entfernen. Diese Form von Interaktion zwischen Kind und Bindungsperson, beispielsweise die Exploration, das Entfernen, und die Suche nach Nahe, ist eine typische Verhaltensweise bei Kleinkindern, welche als die ..Exploration auf einer sicheren Basis" (Bowlby, 2011, S. 21) bezeichnet wird. Das Ziel des Kindes ist die Aufrechterhaltung einer ge- wunschten Entfernung von der Bindungsperson, urn somit einen bestimmten Zustand zu erreichen. Dieser Zustand orientiert sich an den aufteren Umstanden. Wenn sich das Kind jedoch durch die auftere Umgebung, die seine negativen Emo- tionen auslost, unsicher, angstlich oder bedrohtfuhlt, istdas Explorationsverhalten eingeschrankt und das kindliche Bedurfnis nach Nahe uberwiegt. Infolgedessen zeigen Kinder ein vermehrtes Bindungsverhalten, welches auf den negativen Emo- tionen basiert (vgl. Lennging & Lupschen, 2019, S. 11-12). Die Initiative und Kon- trolle von Bindungs- und Erkundungsverhalten gehen stets vom Kind aus und werden bestenfalls von der Bindungsperson akzeptiert. Bei Bindungs- und Explorati- onsverhaltensstorungen kann davon ausgegangen werden, dass diese Verhal- tensweisen aktiv unterdruckt wurden, beispielsweise die Bindungsperson eine zu intensive Bindung zum Saugling aufgebaut hat oder die Bindungsperson fur den Saugling keine sichere Basis darstellt und es somit gewohnheitsmaftig Exploration vermeidet (vgl. Brisch, 2015, S. 39).
Des Weiteren sind Bindungsbeziehungen von anderen Beziehungen zu unterscheiden. Kinder in einer Bindungsbeziehung sind bemuht sich in der schutzenden Reichweite der Bindungsperson zu befinden. Dabei ist die Entfernung zu der Bindungsperson situationsabhangig. Die Bindungserfahrungen mit unterschiedlichen Bindungspersonen werden vom Kind in ,,internale Arbeitsmodellen" (vgl. Lengning & Lupschen, 2019, S. 11-12) abgespeichert. Jnternale Arbeitsmodelle beinhalten internalisierte, mentale Reprasentationen vom eigenen Selbst, der Umwelt" (Lengning & Lupschen, 2019, S. 30) und den Bindungspersonen. Diese haben die Aufgabe die Realitat zu simulieren, Situationen zu beurteilen, sowie die Verhaltenssteuerung in bindungsrelevanten Situationen zu kontrollieren (vgl. Lengning & Lupschen, 2019, S. 30). Die Entwicklung der individuellen internalen Arbeitsmodelle ist abhangig von den Bindungserfahrungen, die Kinder und Jugendliche mit ihrer Bindungsperson machen. Diese Bindungserfahrungen in emotional belastenden Situationen werden in den internalen Arbeitsmodellen in Form von Reprasentationen abgespeichert. Bei Reprasentationen oder auch Reprasentanzen handelt es sich urn die Darstellung und Speicherung von Wissen im menschlichen Gehirn.
Wodurch Behringer (2018) auf Grundlage von Thon's, Bindung als eine spezifische Kategorie des Feldes Beziehung resumiert. Aufterdem konnen Beziehungen zu mehreren Menschen moglich sein und auch Trennungen werden im Gegensatz zur Bindung als nicht problematisch beschrieben (vgl. Behringer, 2018). Die emotionale Bindung eines Kindes an eine Person ist nach John Bowlby auf instinktive Ursprunge zuruckzufuhren.
2.1.2 Bindungsentwicklung nach MaryAinsworth
Mary Ainsworth (Lengning & Lupschen, 2019, S. 14) unterscheidet die Bindungsentwicklung in vier Phasen. In der ersten Phase, die etwa den ersten beiden Le- bensmonaten eines Neugeborenen entspricht, wird von der Vor-Bindungsphase gesprochen. Wahrend dieser Phase zeigt das Neugeborene Bindungsverhalten gegenuber Menschen, welches nicht auf eine spezielle Person ausgerichtet ist. Mary Ainsworth geht davon aus, dass dem Neugeborenen entweder die Fahigkeit fehlt oder noch eingeschrankt ist Menschen voneinander zu unterscheiden (vgl. Bowlby, 2006, S. 257). Im Vordergrund fur einen Saugling ist die Erfullung seiner korperlichen Bedurfnisse. Je alter er wird, desto grower wird sein Bedurfnis nach Nahe und Zuwendung. Das Neugeborene tritt anhand angeborener Signale bei- spielsweise Weinen, Lacheln oder auch Augenkontakt in Interaktion mit anderen Menschen. Dabei kann das Neugeborene die positive Erfahrung machen, indem seine Bedurfnisse zuverlassig befriedigt werden (vgl. Jungmann, 2019).
Ab dem vierten Lebensmonat beginnt die Phase der beginnenden Bindung, in der Kinder beginnen Menschen voneinander abzugrenzen und ihr Bindungsverhalten differentiell auszurichten. Aufterdem wendet es sich mit seinen Signalen vorrangig an seine Bindungsperson.
Wenn das Kind etwa sechs Monate alt ist, beginnt die dritte Entwicklungsphase, die Entwicklung echter Bindung. Das Kind eignet sich weitere Verhaltensweisen an, mit der es die gewunschte Nahe und Distanz zur Bindungsperson selbststandig und aktiv herstellen kann (vgl. Bowlby, 2006, S. 257). Daruber hinaus wird die Lo- komotion und die Regulationsfahigkeit des Nahe-Distanz Verhaltnisses zur Bindungsperson in dieser Phase erworben. Die beginnende Sprachentwicklung und die Moglichkeit zu zielgerichtetem Verhalten erlauben dem Kind, die Planung des eigenen Verhaltens auf das Verhalten, welches das Kind von seiner Bindungsperson erwartet, auszurichten (vgl. Borg-Laufs, Breithaupt-Peters, & Jankowski, 2021, S.12). Das Kind ist dabei nicht mehr nur auf die Bindungsperson fixiert, sondern kann diese nunmehr als sichere Basis nutzen, von der aus es moglich ist, die Um- welt zu explorieren.
Bowlby bezeichnet die vierte Phase als zielkorrigierte Partnerschaft, wo sich ab dem dritten Lebensjahr eine reziproke Beziehung zwischen dem Kind und seiner Bindungsperson entwickelt. Die Kinder sind in der Lage, die Ziele und Intentionen einer anderen Person zu verstehen und sie von sich selbst abzugrenzen, indem ihre egozentrische Perspektive reduzieren und eliminieren. Ab sofort findet ein Aushandlungsprozess zwischen den Kindern mit ihren Bindungsbedurfnissen und der Bindungspersonen statt. Indem Kinder durch zielkorrigierende Verhaltenswei- sen versuchen menschliche Absichten der Bindungsperson mit ihren eigenen Zie- len in Einklang zu bringen (vgl. Herrmann & Becker-Stoll, 2016). Aufterdem erlangen sie die Erkenntnis, dass das Verhalten von Bindungspersonen auf bestimmte Gefuhle Oder Motivationen beruhen konnen (Bowlby, 2006, S. 258).
2.1.3 Bindungstheorie
Der englische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby begrundete in den 1950er Jahren die Bindungstheorie (vgl. Stegmaier, 2008). Gemeinsam mit seinem Kollegen James Robertson beobachtete er Kleinkinderzum Zeitpunkt, als diese von ihren Bindungspersonen getrennt waren, sowie als die Trennung vo- ruber war. Dabei erlangte er die Erkenntnis, dass die beobachtete Passivitat der Kinder kein Anzeichen von Eingewohnung und Akzeptanz der neuen Situation war, sondern vielmehr ein Zeichen fur ein negatives, depressives und leidvolles ZAb- finden mitderTrennungssituation.
Mit dieser Betrachtungsweise stand er kontrar zu damaligen Maximen (vgl. Grossmann & Grossmann, 2012, S. 68). Diese Beobachtungen bildeten das Fundament fur die Bindungstheorieentwicklung durch Bowlby. Dabei vereinte er kli- nisch-psychoanalytische Erkenntnisse mit evolutionsbiologischem Denken (vgl. Grossmann & Grossmann, 2012, S. 31-32). Fur die Bindungstheorie machte Bowlby in den 1950er und 1960er Jahren die ausschlaggebenden Beobachtungen, indem Bowlby 1956 erstmals zusammen mit Mary Ainsworth auf empirischerer Basis untersuchte (vgl. Grossmann & Grossmann, 2012, S. 69).
Weitere Beobachtungen fuhrten zu den sogenannten Grundannahmen zur Bindung. Bindung ist definiert als die Organisation des Verhaltens von Kindern, die Trost, Unterstutzung, Fursorge Oder Schutz suchen und darauf abzielen, physi- sche Nahe zu einer bevorzugten Bindungsperson herzustellen. Bindung selbst be- schreibt eher eine Disposition als ein Verhalten und ist ein Motivationssystem, welches jeder besitzt. Bowlby stellte die Hypothese auf, dass es eine biologische Predisposition gibt, die es Menschen ermoglicht, mindestens eine Bindung herzustellen. Demzufolge entwickeltfastjedes Kind mindestens eine Bindung, selbstwenn es von einer Bindungsperson missbraucht wird (vgl. Bowlby, 1956). Dabei kann bei jedem Kind im Lebensalter von sieben bis neun Monaten beobachtet werden, dass es beginnt eine Vorsicht vor Fremden zu entwickeln und protestiert, wenn es von vertrauten Bindungspersonen getrenntwird. Zeigt das Kind diese Verhaltens- weisen, so hat es eine Bindung zu seiner Bindungsperson aufgebaut.
John Bowlbys Bindungstheorie wurde wesentlich von Mary Ainsworth erweitert. Mary Ainsworth gewann signifikante Erkenntnisse durch Feldforschungen in Uganda und in dem Baltimore-Projekt in den Vereinigten Staaten. In Baltimore be- obachtete sie detailliert 26 Mutter und Kinder aus der Mittelschicht (vgl. Grossmann & Grossmann, 2012, S. 85). Basierend auf diesen Untersuchungen entwi- ckelte sie ein "Konzept der Feinfuhligkeit" (Grossmann & Grossmann, 2012, S. 85). In ihrer Forschung definiert Ainsworth feinfuhliges Fursorgeverhalten als spezifi- sches, typisches Verhalten. Als Anzeichen fur feinfuhligem Verhalten fuhrt sie die aufmerksame und unmittelbare Wahrnehmung von Signalen des Kindes, die rich- tige Interpretation von Signalen sowie angemessene und prompte Reaktionen auf Signale auf (vgl. Ainsworth, 2003, S. 414). Die Feinfuhligkeit der Bindungsperson und die daraus resultierenden positiven Interaktionserfahrungen fur das Kind sind verantwortlich fur die Ausbildung einer sicheren Bindung (vgl. Lengning & Lupschen, 2019, S. 24).
2.1.4 Bindungsqualitaten
Ende der 1960er-Jahre entwickelte die Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth einen standardisierten Test zur Erhebung der Bindungsqualitat, den sogenannten ,Fremde-Situation-Test‘. Die Testsituationen wurden unter der Pramisse gewahlt, dass solche Interaktionen in unbekannten Umgebungen leichter zu beobachten sind und dass die beobachteten Situationen standardisiert werden konnen (vgl. Johnson & Johnson, 2007). Ainsworth bezeichnete die in der Testsituation beobachteten Verhaltensweisen als Bindungsqualitaten. Typischerweise wird die Testsituation bei Kindern zwischen 12 und 18 Monaten durchgefuhrt, konnen aber mit entsprechenden Anpassungen auch fur hohere Altersgruppen eingesetzt werden. In der klassischen Variante besteht die Testsituation aus mehreren Episoden, in denen die Reaktion des Kindes auf die Trennung von seiner Bindungsperson und die anschlieftende Wiedervereinigung beobachtet und dadurch das Bindungs- verhalten sichtbarwird (vgl. Lohaus &Vierhaus, 2018, S. 125).
Ainsworth, Bell und Stayton (vgl. Grossmann & Grossmann, 2003, S. 169) ziehen aus dieser Testsituation Ruckschlusse auf die Qualitat der Bindungsbeziehung zwischen Saugling und Bindungsperson sowie auf die Harmonie beziehungsweise Diskordanz in der Interaktion.
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