Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Schillers Der Verbrecher aus Verlorener Ehre
2. Die Zwei großen Verantwortungsstränge in Schillers Der Verbrecher aus Verlorener Ehre
2.1. Die Kritik an der Justiz
2.2. Die Kritik an der Gesellschaft
3 Christian Wolfs passive Darstellung seiner Schuld
3.1. Die Mordszene
4. Schluss
Literaturverzeichnis
1. Schillers Der Verbrecher aus Verlorener Ehre
Friedrich Schillers Erzählung Der Verbrecher aus Verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte welche 1786 erstmals unter dem Namen Verbrecher aus Infamie. Eine wahre Geschichte veröffentlicht wurde beschäftigt sich mit der Frage von Schuld und Gerechtigkeit. Auch in anderen seiner Texte beschäftigt er sich umfangreich mit dieser Thematik; so zum Beispiel in Die Kindsmörderin (1782), worin eine junge Frau ihr uneheliches Kind ermordet. Schiller versucht „die Schuld der Täterin auf den Verführer zu schieben.“1 In seinem ersten Drama Die Räuber (1782) kann der ganzen Familie Moor Schuld zugewiesen werden – dem Vater, der seinen erstgeborenen, Karl Franz gegenüber bevorzugt; Franz, der seinen Vater manipuliert und Karl hintergeht; und Karl, der Hauptmann einer Räuberbande. – Es ist schwer hier eine Hauptschuld an der Tragödie zuzuweisen, denn alle drei haben ihren Teil dazu beigetragen. Und auch Maria Stuart wird in Schillers gleichnamigen Drama für eine Schuld hingerichtet, die sie nicht begangen hat.
Auch im Verbrecher aus Verlorener Ehre geht es um die Zuordnung einer Schuld. Christian Wolf – oder auch der Sonnenwirt – bringt nach mehrfachem Wilddieb seinen Nebenbuhler, den Jäger Robert um, schließt sich daraufhin einer Diebesbande an und wird deren Anführer. Doch kann die Schuld dieses Verbrechens ausschließlich Christian Wolf zugeordnet werden, oder wurde er zu einem Mörder gemacht und sogar zur Tat gedrängt? Neben seiner persönlichen Verantwortung sollten auch zwei andere große Verantwortungsstränge betrachtet werden: die Justiz und die Gesellschaft. Im Folgenden wird diskutiert, inwiefern diese zwei Aspekte für Christian Wolfs Tat mitverantwortlich – oder vielleicht sogar verantwortlich – sind, oder ob der Sonnenwirt die Schuld auf sich nehmen muss. Denn Christan Wolfs „Schicksal soll nach Schiller […] ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis von Charakter und Umwelt, das etablierte Rechtssystem und die Beziehung von Affekt und Wille werfen.“2 Wie er bereits in seiner Vorrede zur Erzählung aufzeigt.
2. Die Zwei großen Verantwortungsstränge in Schillers Der Verbrecher aus Verlorener Ehre
2.1. Die Kritik an der Justiz
Die Schuld „beschreibt im dt. Strafrecht die persönliche Vorwerfbarkeit eines verwirklichten Unrechts gegenüber dem Täter. Sie ist sowohl die Basis für die Begründung („keine Strafe ohne Schuld“) als auch für die Zumessung der Strafe.“3 Es stellt sich also die Frage, was Christian Wolf nun vorgeworfen werden kann und was die angemessene Strafe für seine Verbrechen ist. Er bekommt in der Erzählung mehr als eine Strafe; nach seinem ersten Wilddieb soll er ein Jahr ins Zuchthaus, es ist ihm aber möglich diese Strafe durch eine hohe Geldsumme abzuwenden. Beim zweiten Mal gelingt ihm dies nicht mehr, und beim dritten Mal wird er auf Grund des erneuten Rückfalls statt einem Jahr im Zuchthaus zu drei Jahren Strafarbeit auf einer Festung verurteilt.
Doch das „Strafrecht und moralisch-sittliches Bewusstsein können auch auseinanderfallen“4 und genau hier setzt die Kritik an der Justiz an, denn „die Richter sahen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsverfassung des Beklagten“5. Christian Wolf ist zum Zeitpunkt seiner Verbrechen mental nicht uneingeschränkt zurechnungsfähig, er wirbt um die Gunst Johannes, doch da er ihr nicht viel bieten kann sieht er keinen anderen Weg als die Wilderei.
Es lässt sich schon zu Beginn des Textes ein Zwiespalt im Inneren Christian Wolfs erkennen, so beschreibt der Erzähler, ein „drückendes Gefühl des Mangels [welches sich zu beleidigtem Stolze gesellte], Not und Eifersucht stürmen vereinigt auf seine Empfindlichkeit ein, der Hunger treibt ihn hinaus in die weite Welt, Rache und Leidenschaft halten ihn fest.“6 Christian Wolf hat nichts mehr, und niemand will ihn für sich arbeiten lassen, dadurch ist er hin und her gerissen zwischen einem Neuanfang irgendwo in der weiten Welt, und Rache für seinen beleidigten Stolz und seine verlorene Ehre. Hier stellt sich also nicht unbedingt die Frage, ob die Strafe gerecht war – denn ein Jahr im Zuchthaus war die übliche Strafe für Wilddieb zur damaligen Zeit – sondern vielmehr, ob die Strafe auf diesen spezifischen Fall zugeschnitten angemessen war. Von einer modernen Perspektive ausgehend hätten Psychologen erkennen müssen, was der Tathintergrund war. Auf dieser Grundlage hätte die Justiz eher versuchen sollen Christian Wolf wieder vollständig in die Gesellschaft zu resozialisieren, denn dies gelingt in keinem Fall.
„Strafe soll in der Regel unerwünschtes Verhalten unterbinden. Tatsächlich kann Bestrafung aber auch erleichternd bis motivierend sein.“7 Dies hat eine Studie der Universität Würzburg herausgefunden, und genau dieses Phänomen lässt sich auch in Christian Wolf beobachten. Er sieht sich selbst im Recht und damit das Urteil als ungerecht. Anstelle aus seinen Fehlern zu lernen und eine erneute Strafe zu vermeiden nimmt er seine Vorangegangenen Strafen als Verletzung seiner Ehre auf und will diese rächen. Dies lässt sich auch im folgenden Textausschnitt aus Wolfs eigener Perspektive beobachten:
Ich wollte böses tun. […] Ich wollte mein Schicksal verdienen. Die Gesetzte meinte ich, wären Wohltaten für die Welt, also fasste ich den Vorsatz, sie zu verletzen; ehemals hatte ich aus Notwendigkeit und Leichtsinn gesündigt, jetzt
tat ichs aus freier Wahl zu meinem Vergnügen.8
Wolf erkennt seine Veränderung, er hat keine Angst mehr vor einer erneuten Strafe, vor einer erneuten Verletzung seiner Ehre und sagt selbst: „ich dürstete jetzt ebenso sehr nach neuer Erniedrigung, als ich ehemals davor gezittert hatte.“9 Seine innere Einstellung hat sich durch seine Urteile zum negativen hin gewandelt. Da er die bisherigen Strafen nicht als gerecht ansieht will er sie nun nachträglich verdienen.
Nachdem er einige Zeit das Oberhaupt einer Diebesbande ist und ein hohes Kopfgeld auf ihn angesetzt wurde, schreibt Wolf einen Brief an den Landsmann, in dem er versucht seine Unschuld zu erklären: „Die Zeitrechnung meiner Verbrechen fängt mit dem Urteilsspruch an, der mich auf immer um meine Ehre brachte. Wäre mir damals die Billigkeit minder versagt worden, so würde ich jetzt vielleicht keiner Gnade bedürfen.“10 Der Sonnenwirt tritt seine Schuld hier eindeutig an die vorangegangene Justiz ab, er bestreitet zwar nicht Verbrechen begangen zu haben, doch er legt die Schuld in die Urteile, die ihn immer weiter in seine Laufbahn als Verbrecher gedrängt, und eine Resozialisierung in die Gesellschaft verhindert haben.
Doch was ist der eigentliche Sinn von Strafe? Cesare Beccaria hat ein Werk Über Verbrechen und Strafe (1764) verfasst, welches „für die Abschaffung der Todesstrafe und der Folter, für die Öffentlichkeit der Strafprozesse plädiert und die Strafzumessung von den Auswirkungen auf die Gesellschaft abhängig machen will. Die Strafe soll der Abschreckung dienen.“11 Der Sinn der Strafe ist also danach weniger das eigentliche Bestrafen des Täters, die Sühne seiner Schuld, oder der Schutz der Gesellschaft durch das Wegsperren des Verbrechers. Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt den Zweck der Strafe ebenso als Abschreckung; Angefangen mit der Androhung einer Strafe, die einen möglichen Täter bereits von einem Verbrechen abhalten soll. Wenn die Gesellschaft sieht, dass es sich nicht nur um Drohungen handelt, sondern das Strafmaß auch vollzogen wird, schreckt dies kollektiv ab.12 Der deutsche Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche stellt sich gegen die Strafe zur Abschreckung und kritisiert diese eher, er sieht die Schuld nicht im Täter sondern in verschiedenen Faktoren, die diesen beeinflusst haben:
Wie kommt es, dass jede Hinrichtung uns Mehr beleidigt als ein Mord? Es ist die Kälte der Richter, die peinliche Vorbereitung, die Einsicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt wird, um andere abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht bestraft, selbst, wenn es eine gäbe: diese liegt in Erziehung, Eltern, Umgebung,
in uns, nicht im Mörder, - ich meine die veranlassenden Umstände.13
Umwelteinflüsse, wie Nietzsche sie hier beschreibt spielen auch im Fall Christian Wolfs eine wichtige Rolle und hängen durch die fehlgeschlagene Resozialisierung in die Gesellschaft stark mit der Justiz zusammen.
2.2. Die Kritik an der Gesellschaft
Des Weiteren argumentiert Nietzsche: „Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln.“14 Er kritisiert hier die Gesellschaft auf eine ähnliche Weise, wie auch Christian Wolf selbst. Bei seinem Eintritt in die Diebesbande sagt dieser: „Die Welt hatte mich ausgeworfen wie einen Verpesteten – hier fand ich brüderliche Aufnahme, Wohlleben und Ehre.“15 Wolf sehnt sich nach dieser Brüderlichkeit, er sehnt sich danach akzeptiert zu werden und nicht überall nur Zurückweisung zu erleiden. Dies lässt sich auch hier erkennen: „Die Freude war ungeheuchelt und herzlich, Vertrauen, Achtung sogar erschien auf jedem Gesichte […] der ganze Auftritt war wie das Wiedersehen eines alten Bekannten, der einem Wert ist.“16 Genau diese Freunde, dieses Vertrauen wünscht Wolf sich, in der Diebesbande verurteilt ihn niemand für seine Taten, stattdessen freuen sie sich ihn zu sehen und eröffnen ihm eine Art Neuanfang. Hätte die Gesellschaft ihn nicht ausgeworfen, sondern aufgenommen und ihm geholfen, hätte Christian Wolf niemals fliehen und der Diebesbande beitreten müssen, in der Hoffnung irgendwo ein bisschen Ansehen zu finden. Er mag Verbrechen begangen haben, doch Christian hat seine Strafe abgesessen und er hat durch die Wilderei nie eine Gefahr für die Gesellschaft dargestellt. Bereits nach seinem zweiten Wilddieb wird er „an allen Orten zurückgewiesen“17 und auf Grund dessen „zum drittenmal Wilddieb“18 Durch das Zurückweisen, das er von der Gesellschaft zu spüren bekommt, weiß er sich nicht anders zu helfen als erneut Wild zu stehlen, denn er hat kein Geld, keine Arbeit, keine Familie und keine Freunde mehr.
Laut Nietzsche hat jeder Mensch einen anderen Punkt, an dem er die Umstände nicht mehr aushält. Dabei geht es weniger um die Qualität oder Intensität, sondern eher um die Quantität:
Keiner weiss, wozu ihn die Umstände, das Mitleid, die Entrüstung treiben können, er kennt den Grad seiner Erhitzbarkeit nicht. Erbärmliche kleine Verhältnisse machen Erbärmlich; es ist gewöhnlich nicht die Qualität der Erlebnisse, sondern ihre Quantität, von welcher der niedere und höhere Mensch
abhängt, im Guten und im Bösen.19
Bei Christian Wolf ist dieses Maß erreicht, ab diesem Augenblick, der sich gut auf den Beginn seiner eigenen Erzählung – die Rückkehr von der Burg – verorten lässt, handelt er sehr triebgesteuert. „Damals gelobte ich unversöhnlichen, glühenden Hass allem, was dem Menschen gleicht, und was ich gelobte, hab ich redlich gehalten.“20 In seiner Aussage scheint fast schon ein Unterton von Stolz mitzuklingen; Wolf unterscheidet nicht mehr zwischen verschiedenen Menschen, stattdessen will er nun einfach alles menschliche hassen. Weiter sagt er: „es erquickte mich im voraus, meine Feinde durch meinen plötzlichen Anblick in Schrecken zu setzen“21 Wolf scheint schon fast nun dem nachkommen zu wollen, was die Gesellschaft aus ihm gemacht hat. Vor seinen drei Jahren auf der Burg wollte er wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden, nun will er Schrecken verbreiten. Er will den Menschen durch seinen Anblick allein ein schlechtes Gewissen machen, damit sie erkennen, was sie aus ihm gemacht haben.
[...]
1 Schulz, Georg-Michael. In: Gedichte von Friedrich Schiller (Interpretationen), hg. von Norbert Oellers, Stuttgart 1996, S. 15–26., hier: S.15.
2 von Engelhardt, Dietrich: Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe im Spiegel der Kultur- und Medizingeschichte. In: Schuld: Bearbeitung, Bewältigung, Lösung ; strukturelle und prozessdynamische Aspekte, hg. von Hermes Andreas Kick und Wolfram Schmitt, 2011, S. 21–44, hier: S. 32.
3 https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/schuldstrafrechtliche#search=58db41db6878b7af474663ffe94f7c7f&offset=1
4 von Engelhardt: Schuld 2011 (vgl. Fn. 2), S. 34.
5 Schiller, Friedrich: Der Verbrecher aus Verlorener Ehre. In: Schillers Werke, Bd. 16: Erzählungen, hg. von Hans Heinrich Borcherdt, Weimar 1954, S. 11–12.
6 Ebd., S. 11.
7 Küfner, Judith: Motiviert durch Bestrafung. https://www.uni-wuerzburg.de/aktuelles/pressemitteilungen/single/news/motiviert-durch-bestrafung/, Datum des Zugriffs: 15.03.2022.
8 Schiller: Der Verbrecher aus Verlorener Ehre 1954 (vgl. Fn. 5), S. 14–15.
9 Ebd., S. 13.
10 Ebd., S. 25.
11 von Engelhardt: Schuld 2011 (vgl. Fn. 2), S. 31.
12 Vgl. Bildung, Bundeszentrale für politische: Vom Sinn und Zweck des Strafens. In: bpb.de, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/268220/vom-sinn-und-zweck-des-strafens/, Datum des Zugriffs: 21.03.2022.
13 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenshliches I und II, Bd. Ii, Münhen 1999, S. 81.
14 Ebd., S. 80.
15 Schiller: Der Verbrecher aus Verlorener Ehre 1954 (vgl. Fn. 5), S. 22.
16 Ebd., S. 21.
17 Ebd., S. 11.
18 Ebd.
19 Nietzsche: Menschliches, Allzumenshliches I und II 1999 (vgl. Fn. 13), S. 82–83.
20 Schiller: Der Verbrecher aus Verlorener Ehre 1954 (vgl. Fn. 5), S. 13.
21 Ebd.