Im ersten Teil der Arbeit, der sich mit Humboldt beschäftigt, werde ich die Kritik der Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt zum Ausgangspunkt nehmen, um zunächst zu zeigen, inwieweit Humboldts Blick auf die Ureinwohner Amerikas demjenigen Kolumbus’ ähnelt, aber auch in wie fern Humboldt sich, entgegen der Auffassung Pratts, kritisch mit dem Blick der Imperial Eyes und der mit Kolumbus beginnenden Kolonialgeschichte Amerikas auseinandersetzt. Wo Humboldt den Urwaldbewohnern eine Stimme verleiht und bei ihnen Formen der Weisheit und der Wahrnehmung voraussetzt, die der Europäer nicht kennt, sind sie für den Erzähler der pasos perdidos reine Projektionsfläche für eine Unschuld, die dem Großstadtbewohner des 20. Jahrhunderts verloren gegangen ist und die er nun im Urwald wiederzufinden trachtet.
In Deodatos berühmt-berüchtigtem b-movie schließlich ist, wie für Humboldt der Fortschritt immer schon ein koloniales Projekt, bei dem „[h]inter dem Voranschreiten der Forscher [...] die Schritte der Soldaten hörbar“ werden . Und dies in einem Maße, dass es scheint als könne etwa von der durch den Fortschritt möglich gewordenen Erforschung des Weltraums gar nicht anders gesprochen werden als in Termini der Eroberung. Wobei nicht die imperialen Ansprüche an sich, sondern nur deren spezielles timing verwerflich zu sein scheinen, greift man doch nach den Sternen, ehe noch der eigene Hinterhof gründlich gekehrt ist, in dem es immer noch Gegenden gibt, die von wilden Menschenfressern beherrscht werden. Wie der ‚Zivilisierte’ sich den ‚Wilden’ vielmehr schafft als entdeckt und warum, sind die Fragen, die in der Auseinandersetzung mit Cannibal Holocaust geklärt werden sollen.
Diese Arbeit beschäftigt sich ausdrücklich nicht mit den Ureinwohnern des amerikanischen Kontinents, es geht nicht darum, die (kolonialen) Visionen Humboldt’s oder Kolumbus’, Carpentier’s oder Deodatos’s zu korrigieren, sondern eben die Blicke der Autoren auf diese Menschen zu untersuchen und die Konsequenzen, die sich aus dieser Art des Blickes ergeben
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- 1. Alexander von Humboldt und seine Ansichten der Natur
- 1.1. An Ideological Reinvention of América? Die Kritik Mary Louise Pratts.
- 1.2. Die Polyphonie des Urwalds.
- 2. Das Schweigen der Urwaldbewohner in Alejo Carpentiers: Los pasos perdidos
- 3. Cannibals of the Space Age - oder: Die Hölle sind wir: Ruggero Deodatos Cannibal Holocaust
- 3.1. Zivilisierte vs. Kannibalen?...
- 3.2. Opfergesellschaft vs. Massakergesellschaft?
- 3.3. Auflösung: Das kannibalische Begehren des zivilisierten Menschen - oder: Wie sich der Kamera-Phallus der Kastration entzieht
- Schluss: Neulich im Urwald...
- Literaturverzeichnis........
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht koloniale Begegnungen zwischen Massakern und Projektionen anhand von verschiedenen Texten, in deren Mittelpunkt Reisen von Europäern oder US-Amerikanern nach Südamerika stehen. Neben Alexander von Humboldts Ansichten der Natur, sollen dabei Alejo Carpentiers Roman Los pasos perdidos (1953) und Rugero Deodatos Film Cannibal Holocaust (1980) behandelt werden. Die Arbeit analysiert, inwieweit und wiefern der Fortschritt der okzidentalen Gesellschaft die Wahrnehmung des Anderen prägt.
- Die Kritik Mary Louise Pratts an Humboldts Amerikabild und die Frage nach der Reinvention Amerikas
- Die Rolle des Urwalds als Projektionsfläche für die Sehnsüchte des zivilisierten Menschen
- Die Konstruktion des „Wilden“ und die kolonialen Implikationen des Fortschritts
- Die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft und der Wahrnehmung des Anderen
- Die Darstellung von Kannibalismus als Metapher für das Begehren des zivilisierten Menschen
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Arbeit vor und führt in die Thematik der kolonialen Begegnungen zwischen Europäern und Südamerika ein. Sie präsentiert drei Zitate von Alexander von Humboldt, die als Leitmotive für die Arbeit dienen. Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit Humboldts Ansichten der Natur und analysiert die Kritik der Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt. Pratt argumentiert, dass Humboldts Blick auf die Ureinwohner Amerikas demjenigen Kolumbus' ähnelt und dass Humboldt die koloniale Geschichte Amerikas nicht kritisch genug hinterfragt. Die Arbeit zeigt jedoch, dass Humboldts Schriften auch Elemente der Kritik an der kolonialen Herrschaft und der Anerkennung der kulturellen Diversität der Ureinwohner enthalten. Der zweite Teil der Arbeit analysiert Alejo Carpentiers Roman Los pasos perdidos, der die Reise eines Großstadtbewohners in den Urwald Südamerikas schildert. Der Roman zeigt, wie der Urwald als Projektionsfläche für die Sehnsüchte des zivilisierten Menschen dient und wie die Begegnung mit den Ureinwohnern zu einer neuen Sichtweise auf die eigene Kultur führt. Der dritte Teil der Arbeit untersucht Ruggero Deodatos Film Cannibal Holocaust, der die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft und der Wahrnehmung des Anderen aufwirft. Der Film zeigt, wie der Fortschritt der okzidentalen Gesellschaft die Wahrnehmung des „Wilden“ prägt und wie Kannibalismus als Metapher für das Begehren des zivilisierten Menschen verwendet wird.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen die koloniale Begegnung, die Wahrnehmung des Anderen, die Kritik an der kolonialen Herrschaft, die Rolle des Urwalds, die Projektionsfläche, die Sehnsüchte des zivilisierten Menschen, die Verantwortung der Wissenschaft, der Fortschritt der okzidentalen Gesellschaft, die Darstellung von Kannibalismus und die Metapher.
- Arbeit zitieren
- Nicolai Bühnemann (Autor:in), 2008, Zwischen Projektion und Massaker. Koloniale Begegnungen bei Alexander von Humboldt, Alejo Carpentier und Ruggero Deodato, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/128186