Leseprobe
Der Begriff des Glücks spielt in der Philosophie des Rechts eine wichtige Rolle. In der Einleitung der Grundlinien der Philosophie des Rechts von Hegel fungiert er als methodischer Transformator von der Willkürfreiheit zur Willensfreiheit als der Grundlage der Rechtsphilosophie.
In § 14 und § 15 hat Hegel den Begriff der freien Willkür etabliert und als Widerspruch zwischen freier Form, also der Fähigkeit des in sich unendlichen Ich zur Selbstbestimmung, und unfreiem Inhalt, die Triebe und Neigungen als anthropologisches Material eines menschlichen Willens, charakterisiert. Die Paragraphen 16, 17 und 18 zeigen nun verschiedene Auflösungsformen dieses Widerspruchs auf, die zugleich weitere Erscheinungsformen desselben sind. In § 17 werden dabei die zwei Strategien der Hierarchiebildung zwischen konkurrierenden Trieben und Neigungen sowie der Substitution derselben durch die Willkür genannt. Da wir nicht alle Wünsche und Inhalte gleichzeitig und ohne Konsistenzverlust realisieren können, müssen wir uns entweder Prioritäten setzten oder aber zusehen, ob wir nicht anstelle von X, das uns entweder unerreichbar oder unerwünscht ist doch Y ersatzweise anstreben sollten.
Dabei wird von Hegel das Kriterium des „Maßes“ in § 17 bemängelt, das beiden Strategien zugrunde liegen muss. Aufgrund von was ist X Y vorzuziehen oder durch es zu ersetzten? Insofern wiederum willkürlich entschieden werden kann, welcher Trieb zuerst befriedigt oder zugunsten von welchem anderen aufzugeben sei, stellen beide Strategien nur eine weitere Form der „Erscheinung“ der „Dialektik“ der Willkür dar. Auch § 18 nennt gleichsam eine Meta- Erscheinung derselben Dialektik, nämlich die willkürliche Bewertung des Willens als gut, dass heißt die Identität von Form und Inhalt oder als böse, eine Nichtidentität von Form und Inhalt. Daraus zieht dann § 19 die methodische Konsequenz, den zunächst vagen Begriff einer „Reinigung der Triebe“ als die Befreiung derselben von ihrer Zufälligkeit und als die Zurückführung auf „ihr substantielles Wesen“ in einem „vernünftige[n] System der Willensbestimmung“ zu präzisieren. Implikat dabei ist, dass diese Forderung nicht mit der einen Seite des Bewertungs- Gegensatzes aus § 18 gleichgesetzt werden kann, denn die Reinigung der Triebe ist nicht deren „Ausrottung“. Hier setzt nun § 20 mit dem Begriff der „Glückseligkeit“ ein. Dieser Begriff erfüllt die von Hegel für vernünftig gehaltene Forderung nach einer Reinigung der Triebe. Das Modell dieser reflexiven Reinigung basiert auf folgenden Elementen. Die „Reflexion“ bezieht sich auf die „Triebe“ durch ihre Vorstellung, ihre Berechnung und ihre Vergleichung, wobei sie die Triebe untereinander, mit den Mitteln als auch den Folgen ihrer Befriedung und mit der Vorstellung eines „Ganzen der Befriedung“ vergleicht. Dieses Ganze ist die Glückseligkeit. Durch alle diese Leistungen der Reflexion wird der „Stoff“ der Triebe selbst formell allgemein gemacht und so „von seiner Roheit und Barbarei“ gereinigt. Dieser reflexive Reinigungsprozess der Triebe ist zugleich der Prozess der „Bildung“ des Individuums zu einem freien und zugleich sinnlichen Vernunftwesen. Motor dieses Bildungsprozesses der Triebe und des Subjekts selbst ist die Reflexion oder der Prozess des Überlegens, Abwägens und Nach-Denkens.
Trotz dieser Herleitung des Glücksbegriffs realisiert er noch nicht die Freiheit des Willens in und mit seinen Inhalten, weil aufgrund der Triebgebundenheit des zugleich allgemeinen Ideals der Glückseligkeit „noch keine wahre Einheit des Inhalts und der Form vorhanden“[1] ist.
Der Status des § 20 ist damit klar. Im Zuge der Etablierung des Bodens, auf dem die Rechtsphilosophie für Hegel stehen muss, fungiert die Idee der Glückseligkeit als Vermittlungsinstanz zwischen Willkür und Willensfreiheit. Die beiden § 20 und § 21 präsentieren den „Übergang von Prinzip [der] Glückseligkeit in Prinzip der Freiheit“[2]. Glückseligkeit als das Prinzip der Reflexion auf die einzelnen Triebe stellt damit etwas bereit, was die Willkür als solche noch nicht kannte, das „Maß“[3] der Systematisierung und Befriedigung der Triebe. Glückseligkeit ist allerdings für Hegel noch nicht der „Boden des Rechts“, denn dieser ist erst „der Wille, welcher frei ist“[4]. Mangelhaft hinsichtlich einer Philosophie des Rechts ist also auch noch die Glückseligkeit. Indem die „Wahrheit“[5] der formellen Allgemeinheit die inhaltliche Allgemeinheit oder die Freiheit ist, kann man sagen, dass die Wahrheit der Glückseligkeit die Freiheit ist und das Glück ist eine noch „unwahre“ Gestalt der Freiheit. Damit nimmt Hegel in der praktischen Philosophie eine Kantische Position ein und verwirft den Hedonismus in der Moralbegründung. Er verwirft nicht - so wenig wie Kant selbst - das relative Recht moralischer bzw. sittlicher Individuen auf Glück.
Quelle: G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 607. Frankfurt am Main. 1970
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[1] Hegel, § 20 Zusatz
[2] Ebd. § 21 Nachtrag
[3] Ebd. § 17
[4] Ebd. § 4
[5] Ebd. § 21