Die bundesdeutsche Rechtsprechung sah sich bereits zweimal vor das Problem der Bewältigung einer nicht-rechtsstaatlichen Vergangenheit gestellt. Die juristische Aufarbeitung der NS- und der DDR-Vergangenheit brachte das unter der Oberfläche des rechtlichen Alltags liegende Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral zutage. Das Problem des Spannungsverhältnisses zwischen Recht und Moral ist die Frage nach der Verknüpfung beider Begriffe. Es ist daher zu klären, ob die beiden Begriffe miteinander verknüpft sind, und spezifisch, ob das Recht die Moral impliziert oder ob Recht und Moral getrennt voneinander zu behandeln sind; erstere Position wäre die der Naturrechtslehre, letztere die des sogenannten Rechtspositivismus. Ich möchte in dieser Arbeit der Frage auf den Grund gehen, wie der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch in seiner nach dem 2. Weltkrieg entstandenen Philosophie dieses Spannungsverhältnis der Begriffe löst. Die Position Radbruchs ist deswegen interessant, da sie weder eine eindeutige Lösung zugunsten der rechtspositivistischen Position (Recht und Moral sind voneinander getrennt) noch zur aufklärerischen naturrechtlichen Position (Recht und Moral stehen in einer inhaltlichen Analytizität) darstellt, sondern einen zwischen beiden Schulen differenzierenden Ansatz postuliert. Um die Frage, wie Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral löst, angemessen beantworten zu können, werde ich im Folgenden die beiden Schulen von Rechtspositivismus und Naturrechtslehre beleuchten, um sogleich auf Radbruchs zwischen beiden Positionen vermittelnden Ansatz zu sprechen zu kommen. Anschließend werde ich die Philosophie Radbruchs anhand ihrer realrechtlichen Geltung in den Mauerschützenprozessen diskutieren.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral
- Das begriffliche Verhältnis zwischen Recht und Moral
- Naturrechtsdenken und Rechtspositivismus
- Der Rechtspositivismus
- Die Naturrechtslehre
- Die Rechtsphilosophie Radbruchs
- Der Rechtsbegriff Radbruchs
- Radbruch zwischen Recht und Moral
- Radbruch und die Bewältigung gesetzlichen Unrechts
- Das Mauerschützenurteil des Bundesgerichtshofs vom 3.11.1992
- Rechtsphilosophische Dimension des Mauerschützenprozesses
- Diskussion des Urteils
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage, wie der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral löst. Diese Frage wird im Kontext der juristischen Aufarbeitung der NS- und der DDR-Vergangenheit betrachtet, welche das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral deutlich zutage brachte.
- Das begriffliche Verhältnis zwischen Recht und Moral
- Der Unterschied zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
- Radbruchs Position zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
- Die Anwendung von Radbruchs Rechtsphilosophie im Mauerschützenurteil
- Die Diskussion der juristischen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Arbeit stellt das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral im Kontext der juristischen Aufarbeitung der NS- und der DDR-Vergangenheit dar. Sie beleuchtet die Problematik der Verknüpfung von Recht und Moral und zeigt, dass die Position Radbruchs eine differenzierende Sichtweise zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre bietet.
- Das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral: Dieses Kapitel beleuchtet die unterschiedlichen Positionen des Rechtspositivismus und der Naturrechtslehre in Bezug auf die Beziehung zwischen Recht und Moral. Dabei werden die beiden Extrempositionen durch die Charaktere Antigone und König Kreon in Sophokles' "Antigone" veranschaulicht.
- Die Rechtsphilosophie Radbruchs: In diesem Kapitel wird Radbruchs Rechtsbegriff und seine Position zwischen Recht und Moral vorgestellt. Es wird deutlich, dass Radbruchs Philosophie weder den Rechtspositivismus noch die Naturrechtslehre vollständig unterstützt.
- Radbruch und die Bewältigung gesetzlichen Unrechts: Dieses Kapitel diskutiert Radbruchs Philosophie im Kontext des Mauerschützenurteils des Bundesgerichtshofs vom 3.11.1992. Es beleuchtet die rechtsphilosophischen Dimensionen des Mauerschützenprozesses und zeigt, wie Radbruchs Ansatz zur Bewältigung gesetzlich begründeten Unrechts angewendet werden kann.
Schlüsselwörter
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral, insbesondere im Kontext der Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs. Zu den zentralen Themen gehören die Analyse von Rechtspositivismus und Naturrechtslehre, die Anwendung von Radbruchs Philosophie im Mauerschützenurteil und die Diskussion der juristischen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit.
- Quote paper
- Tilman Graf (Author), 2009, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/128981