Tiefenpsychologische Aspekte bei Kunst- und Volksmärchen. Grimms „Jorinde und Joringel“ und Ludwig Tiecks „Der blonde Eckbert“


Hausarbeit, 2007

25 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Märchen
2.1 Ursprung und Sprachgebrauch
2.2 Wesenszüge des europäische Volksmärchen
2.3 Abgrenzungen vom Kunstmärchen zum Volksmärchen
2.4. Wesenszüge des romantischen Kunstmärchens
2.5. „Der blonde Eckbert“ - Kunstmärchen in novellistischer Erzählform

3. Tiefenpsychologische Ansätze und Angstphänomene im Volks- und Kunstmärchen
3.1 Angst und Symbiose im Volksmärchen „Jorinde und Joringel“
3.1.1 Annäherung an den Begriff ‚Symbiosemärchen’
3.1.2 Überwindung der Angst
3.2. Unüberwindbare Angst und Wahnsinn im Kunstmärchen „Der blonde Eckbert“ von Ludwig Tieck
3.3. Variationen der Angst im Volks- und Kunstmärchen

4. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Das Märchen ist der höchste Kanon der Poesie.“ (Novalis)

Eine Hausarbeit, die in ihrem Titel ankündigt, sich mit den verschiedenen Gattungen des Märchens und dem Umgang mit der Angst zu beschäftigen, tut gut daran, zunächst Überlegungen anzustellen, was die Faszination des Märchens ausmacht. Die erzählerischen und formalen Möglichkeiten, die es in sich birgt, sind nahezu unbegrenzt. Kaum ein zweites Genre lässt einen derartigen Spielraum zu, die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu verwischen, was auch aus den zitierten Worten Novalis’ herauszulesen ist. Märchen sind und bleiben allzeit gegenwärtig. Sie finden nicht nur als Kindergeschichten, sondern auch im Zeitalter der Multimedia ihren Platz. Die moderne Tiefenpsychologie benutzt das Märchen als Therapieform. Märchen versetzen uns zugleich in eine Welt des ‚Wunderbaren’ und ‚Entsetzlichen’ und bieten jede Menge Ansätze für die Analyse und die Bewältigung von Problemen. Diese Dichtungsart fasziniert nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene auf der ganzen Welt. Aber was unterscheidet Märchen von anderen Textsorten? Besonders der Thematik der Angst und tiefenpsychologische Aspekte im Märchen wird dieser Aufsatz versuchen, gerecht zu werden.

Daher wird diese Arbeit zunächst auf den Ursprung und Sprachgebrauch des Märchens eingehen und anschließend die Wesenszüge der Gattungen des europäischen Volksmärchens und des Kunstmärchens näher definieren. Dazu werden zunächst die Gattungen beschrieben und später miteinander verglichen, um einige Kriterien herausarbeiten zu können, die das Kunstmärchen vom Volksmärchen abgrenzen. Des Weiteren wird auf die novellistische Erzählform in Tiecks romantischen Märchen „Der blonde Eckbert“, die das Volksmärchen nicht kennt, näher eingegangen. Schließlich beantwortet die Arbeit die Frage, warum die im Volksmärchen laut Verena Kast stets geleistete Überwältigung der Angst beziehungsweise die Überwindung der Angstquelle in Ludwig Tiecks Kunstmärchen „Der blonde Eckbert“ misslingt.

2. Das Märchen

„Friedrich Panzer bekannte vor über 40 Jahren, als er in einer kleinen gehaltvollen Arbeit Grundprobleme der Märchenforschung darstellte, dass die Frage des Wie? der Märchenentstehung von der Forschung eigentlich überhaupt noch nicht in Angriff genommen ist.“[1]

Die Märchenforscher hielten sich mit klaren Aussagen über Zeit und Ort der Märchenentstehung zurück. Forscher der Mythologie untersuchten verschiedenste Ausprägungen von Form und Inhalt urtümlichen Glaubens und Vorstellens, Psychologen[2] die allgemeinen Gesetze und Ordnungen des seelischen Lebens und deren Ursprünge.[3]

2.1 Ursprung und Sprachgebrauch

Den Weg zur mythologischen Erklärung wiesen bereits die Brüder Grimm, da sie glaubten, Märchen enthielten „Überreste eines in die ältesten Zeiten hinaufreichenden Glaubens, (…) der sich in bildlicher Auffassung über sinnliche Dinge ausspricht, (…) den man für verborgen [halte].“[4] Die Auffassung der Brüder Grimm von einer engen Beziehung zwischen Mythos und Märchen ist seither von der Wissenschaft überwiegend anerkannt worden. Märchen weisen trotz unterschiedlicher räumlicher und zeitlicher Herkunft große Gemeinsamkeiten auf und werden seither als ‚Volkspoesie’ bezeichnet. Weiter Erklärungsversuche der Märchenentstehung lieferten unter anderem Wilhelm Wundt (Märchen seien die ursprüngliche Formen des Mythos), Adolf Bastian (Märchen seien ein ethnischer Elementargedanke, die den Menschen angeborene Vorstellung), die Engländer Edward Tylor und Andrew Lang (anthropologische Märchentheorie[5]), Walter Anderson (Märchen hätten sich durch Migration verbreitet, Wellentheorie) sowie Max Lüthi (wichtig sei die Trennung zwischen Märchen als Ganzem und dem Märchenmotiv).[6]

Deshalb ist es relativ schwierig ist eine fundierte, allgemeingültige und definitive Aussage über den Ursprung und den Entstehungsmechanismus des Märchens zu treffen. Panzer beschreibt mit seiner Aussage somit gut den Deutungsdschungel in der Genese der Märchen. Es hat eine lange Tradition und Geschichte, so dass man nur einige wenige Ursprungsgedanken zusammenfassen kann:

Der heutzutage gebrauchte Begriff „Märchen“ findet seinen Ursprung in der Diminutivform zum mittelhochdeutschen Wort ‚maere’. Man spricht ihm die Bedeutung der Wörter Kunde, Bericht oder Erzählung zu. Die Verkleinerungsform ‚Märchen’, ursprünglich als ‚merechyn’ formuliert, wird erstmals 1450 schriftlich erwähnt beziehungsweise gefunden, wurde allerdings, wie andere Diminutive, früh mit einer negativen Bedeutungsverschiebung und als Bezeichnung für unwahre und erdachte Geschichten gebraucht.[7] Heute erinnert die Redewendung: „Erzähl mir doch kein Märchen“ noch an diese Veränderung. Eine Gegenbewegung dazu setzte im 18. Jahrhundert ein, als unter französischem Einfluss Feenmärchen und Geschichten aus ’Tausendundeiner Nacht’ in Mode kamen.[8] Die positive Bedeutungsentwicklung hat man einerseits den Märchensammlungen der Gebrüder Grimm und Bechsteins im 19. Jahrhundert andererseits den Dichtungen der Romantiker und Andersens zu verdanken. Die Redewendung: „So schön wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht“, zeigt dies beispielhaft. Heute lassen sich die Lexeme Volksmärchen und Kunstmärchen wertungsfrei gebrauchen. Sie benennen einzig und allein die Erzählgattung. Sonderbar erscheint es, dass es in anderen Sprachen keine Begriffe gibt, die spezifisch die Erzählgattung Märchen bezeichnen können. Entweder werden die Wortbedeutungen auch für andere Gattungen benutzt und sind somit allgemeiner gewählt oder sie berücksichtigen nur ungenügend die in unserem Sprachraum geltenden Kriterien eines Märchens. Daher gebrauchen andere Sprachen das Wort ‚Märchen’ als Fremdwort, um die sprachliche Lücke zu füllen und seiner spezifischen Anwendung und besonderen Art der Erzählgattung gerecht zu werden.[9]

2.2 Wesenszüge des europäische Volksmärchen

„Die Bezeichnung Volksmärchen gebührt nur solchen Erzählungen, die eine zeitlang von Mund zu Mund gegangen sind. Wenn es von einer Geschichte viele und verschiedenartige Aufzeichnungen gibt, können wir sicher sein, dass sie mündlich überliefert und dabei auch verändert worden ist“[10].

Volksmärchen haben keinen namentlich bekannten Autor und sind somit anonymer Herkunft. Laienerzähler trugen abgewandelte, lückenhafte oder auch erweiterte Geschichten vor und nahmen von Beginn an Rücksicht auf die Neigungen der Rezipienten. So gestaltete das Publikum die Märchen aktiv mit, entwickelte sie und veränderte sie nach ihren Vorstellungen. Letztlich wurden über Jahrhunderte verschiedenste Varianten mündlich tradiert. Der Begriff Volksmärchen bezeichnet daher durch das Volk und durch jeden einzelnen Hörer individuell bewahrte, gestaltete veränderte und geprägte Märchen. Zu späterer Zeit wurden sie gesammelt und schriftlich festgehalten. Sie sind in ihrer historischen Vermittlung heute als Buchmärchen gegenwärtig und haben ihre eigene literarische Tradition. Derzeit ist die wohl bekannteste Märchensammlung, nämlich die der Gebrüder Grimm, in den meisten Kinderzimmern vorzufinden. Die klassischen Kriterien eines Volksmärchens lassen sich relativ einfach zentralisieren: Wünsche werden erfüllt, alles neigt sich am Ende zum Guten, der Held siegt und Ängste können überwunden werden.[11]

2.3 Abgrenzungen vom Kunstmärchen zum Volksmärchen

Unternimmt man den Versuch, eine allgemeingültige Definition für die Erzählgattung „Kunstmärchen“ zu finden, so muss man relativ schnell feststellen, dass trotz der Vielzahl an Kunstmärchenstudien die Gattung noch nie klar definiert wurde.[12] „Kunstmärchen ist ein Begriff von zweifelhaftem definitorischem Wert.“[13] Um sich der Materie schrittweise anzunähren, ist zunächst ein Vergleich mit dem nah verwandten Volksmärchen sinnvoll, um die Besonderheiten des Kunstmärchens besser herausstellen zu können. Ein relativ simples Kriterium zeichnet das Kunstmärchen aus: Es ist von einem einzelnen, namentlich bekannten Autor geschaffen. Das Volksmärchen hingegen geht, wie bereits erwähnt, zurück auf eine lange Erzähltradition und ist „Gemeinschaftsdichtung“[14]. Gewiss waren auch Volksmärchen ursprünglich Kunstmärchen, da ein Mensch sie ursprünglich ersonnen hat. Dieses Kriterium allein reicht für eine Zuordnung zu Kunst- oder Volksmärchen aber nicht aus. Daneben dienen auch Form, Inhalt und Anspruch des jeweiligen Märchens der Unterscheidung. Zur Entstehungszeit des romantischen Kunstmärchens konnte ohnehin noch nicht exakt zwischen den Gattungen unterschieden werden, da bis zu dieser Zeit quasi keine Kunstmärchen existierten. „Der blonde Eckbert“ von Ludwig Tieck wird als erstes seiner Art angesehen und deshalb auch von C.A. Nicolai 1797 zunächst in den ersten Band der „Volksmärchen“ aufgenommen.[15]

Vom Aufbau und inhaltlich unterscheiden sich die Kunstmärchen allerdings recht erheblich von den heute so bezeichneten „Volksmärchen“[16]. Im Volksmärchen existiert eine „ideale Welt“[17] beziehungsweise eine „Zauberwelt“[18], in der keine vollendet charakteristischen Protagonisten, sondern standardisierte und idealisierte Personen, wie die Prinzessin, der König oder das arme Mädchen auftreten. Zudem führt genau ein Handlungsstrang den Hauptdarsteller der Geschichte stringent von A nach B. Der Held muss Aufgaben lösen, um das Ziel erreichen zu können und meistert diese bravourös. Am Ende des Märchens bestimmt das ‚Happy End’ den Schluss. Auf Nebenfiguren wird lediglich eingegangen, um die Handlung voran zu treiben. Ist ihr Dienst erfüllt, verschwinden sie wieder. Überraschende Reaktionen der Protagonisten sind die Ausnahme. Oft ist ein Volksmärchen auch episodisch aufgebaut, wobei die einzelnen Elemente theoretisch auch in anderer Reihenfolge stehen können. Die allwissende Erzählperspektive ist nicht nur dominierend sondern ausschließlich. Eine innere Handlung sucht man bei den Figuren ebenfalls vergeblich. In seiner Gesamtheit ist ein Volksmärchen in einfacher Sprache verfasst und kommt ohne jeglichen Bezug zur Realität aus. Die fiktive Welt von Zauber und Übernatürlichem ist im Volksmärchen gegenwärtig. Sie ist durch und durch irreal, dennoch in sich selbst natürlich.[19]

Im Gegensatz dazu stehen fast alle Elemente des romantischen Kunstmärchens. Es existiert eben nicht in einer Welt für sich. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, dem Greifbaren und dem Übernatürlichen verwischen. Den Ursprung hierfür wird man dadurch begründen können, dass die Romantiker in der Welt des Wirklichen, in der sie nur eine niedere Wahrheit vermuteten, die Welt des Wunderbaren entwarfen. In ihr suchten sie eine höhere Wahrheit, die für die romantischen Schriftsteller in der Poesie lag.[20] In all ihren Werken findet man den Bezug auf diese Metawelt. Geradezu ideal für die literarische Umsetzung erscheint die Form des Märchens, das ja ohnehin mit Wunderbarem umgeht.

2.4. Wesenszüge des romantischen Kunstmärchens

„Keine Gattung hat die romantische Dichtung weltweit so berühmt gemacht wie das Märchen“[21] und kein Etikett wird dem „blonden Eckbert“ so häufig verliehen wie das des Kunstmärchens. Im Kontrast zum Volksmärchen zeichnet es sich hauptsächlich dadurch aus, dass es „das Wunderbare nicht nur als Schutzmacht, sondern gelegentlich auch als Grauenerregendes und Irritierendes“[22] darstellt.

[...]


[1] Giehrl, Hans E.: Volksmärchen und Tiefenpsychologie. München 1970. S. 11.

[2] insbesondere Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Vgl. dazu: Giehrl, Hans E.: Volksmärchen und Tiefenpsychologie. München 1970. S. 9 – 19.

[3] Vgl. Pöge-Alder: Märchen als mündlich tradierte Erzählungen des Volkes. Frankfurt am Main 1994.

[4] Giehrl, 1970, S. 11.

[5] Die anthropologische Märchentheorie stützt sich auf die unabhängige Entstehung der Märchen an verschiedenen Orten (Polygenese) und das angebliche Vorhandensein von Völkergedanken.

[6] Vgl. Giehrl, 1970, S. 11-15.

[7] Vgl. Lüthi, Max: Märchen. Stuttgart 1996. S.1.

[8] Vgl. ebd. S.1.

[9] Vgl.ebd,1f.

[10] ebd. S.8.

[11] Vgl. ebd. S. 8.

[12] Vgl. Grätz, Manfred: Kunstmärchen. Berlin, New York 1996. S. 615.

[13] Ebd. S. 612.

[14] Wagner, Kurt: Märchen. Berlin 1965. S. 266.

[15] Vgl. Fischbacher, Andrea: Freundschaft und Einsamkeit. Erzähltheoretische Überlegungen zu Ludwig Tiecks „Der blonde Eckbert“. Amsterdam, Atlanta 1998. S. 609.

[16] Vgl. Jehle, Mimi Ida: Das deutsche Kunstmärchen von der Romantik zum Naturalismus. Illinois 1935. S. 15.

[17] Ebd., S. 7.

[18] Wagner, 1965, S. 263.

[19] Vgl. Wagner, 1965, S. 266ff.

[20] Vgl. Lobeck, Helmut: Kunstmärchen. Berlin 1958. S. 910.

[21] Greif, Stefan: Märchen/Volksdichtung. Stuttgart 1994. S.257.

[22] Ebd. S. 267.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Tiefenpsychologische Aspekte bei Kunst- und Volksmärchen. Grimms „Jorinde und Joringel“ und Ludwig Tiecks „Der blonde Eckbert“
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Germanistik)
Veranstaltung
Proseminar: Affektpoetik
Note
1,5
Autor
Jahr
2007
Seiten
25
Katalognummer
V129164
ISBN (eBook)
9783640354696
ISBN (Buch)
9783640354962
Dateigröße
437 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Auseinandersetzung, Volks-, Kunstmärchen, Berücksichtigung, Aspekte, Umgang, Angst, Textgrundlagen, Jorinde, Joringel, Ludwig, Tiecks, Eckbert
Arbeit zitieren
Susanna Hattar (Autor:in), 2007, Tiefenpsychologische Aspekte bei Kunst- und Volksmärchen. Grimms „Jorinde und Joringel“ und Ludwig Tiecks „Der blonde Eckbert“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/129164

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