Die vorliegende Hausarbeit erklärt die wesentlichen Grundzüge von Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Hauptsächliche Fragestellungen sind: Was ist ein soziales System, wie steht es in der Welt und wie funktioniert es? Schwerpunkt der Analyse bildet das Werk "Die Gesellschaft der Gesellschaft".
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Luhmanns wissenschaftliche Ausgangsposition und ihre Stellung zu anderen soziologischen Traditionen
3. Sinn
4. Die System - Umwelt - Differenz als Leitunterscheidung fur Luhmanns Systemtheorie
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit soll einen Überblick über einige Grundzüge der Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann bieten. Als Textgrundlage dient Luhmanns Werk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“. Schwerpunkt hierbei sind die Abschnitte I - V des ersten Kapitels des ersten Bandes, die ich in meinem Referat vom 29.05.2004 im Rahmen unseres Luhmann - Seminars inhaltlich vorgestellt habe. Angesprochen werden zu Beginn einige sozialwissenschaftliche (und andere) Tendenzen, die Luhmann weiterfuhrt oder gegen die er sich abgrenzt. Weitere Fragestellungen sind: Was ist ein soziales System, wie steht es in der Welt und wie funktioniert es? Zitate aus dem Primärtext werden mit '(1997)' gekennzeichnet und nicht als Fußnote aufgeführt.
2, Luhmanns wissenschaftliche Ausgangsposition und ihre Stellung zu anderen soziologischen Traditionen
In Kapitel 1, Abschnitt I äußert sich Luhmann zu der Frage, in welchem Verhältnis sein Werk zur soziologischen Tradition steht. Zentrale Punkte seiner Arbeit sind der Wunsch nach der Überwindung des alteuropäischen Denkens und der Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt in der wissenschaftlichen Betrachtung der Gesellschaft.
Luhmann lehnt vier Grundannahmen der bisherigen Sozialwissenschaft als Irrtum ab:
„1. daß eine Gesellschaft aus konkreten Menschen und aus Beziehungen zwischen Menschen bestehe,
2. daß Gesellschaft folglich durch Konsens der Menschen konstituiert oder doch integriert werde,
3. daß Gesellschaften regionale, territorial begrenzte Einheiten seien [...],
4. und daß deshalb Gesellschaften wie Gruppen von Menschen oder wie Territorien von außen beobachtet werden können.“ (1997, S.25)
Die Soziologie betrachtet sich in der Regel als „Wissenschaft von sozialen Tatsachen [...] - Tatsachen verstanden im Unterschied zu bloßen Meinungen, Wertungen, ideologischen Voreingenommenheiten.“ (1997, S.16) Luhmann hält dagegen, „daß auch die Feststellung von Tatsachen nur als Tatsache in die Welt kommen kann“ (1997, S. 17).
In der Gesellschaftstheorie beobachtet Luhmann Konzepte, „die den Anschluß an die Tradition noch nicht aufgeben, aber schon Fragen ermöglichen, die ihren Rahmen sprengen könnten.“ (1997, S.32) Der Begriff der Handlung wird verwendet um gesellschaftliche Prozesse auf individuelle Akteure zu reduzieren; der Begriff 'global system' wird gebildet, „um Globalisierungen anzuerkennen - und den Begriff der Gesellschaft auf nationalstaatlicher Ebene zurücklassen zu können.“ (1997, S.32) Die individualistische Theorie umfasst zuviel, die territoriale zu wenig. Als Grund für diesen Fehler sieht Luhmann den Wunsch, „daß man die Gesellschaft als etwas denken möchte, das man von außen beobachten kann.“ (1997, S.32)
Der Forscher „[...] möchte in Opposition zur Gesellschaft [stehen, weil er] die Gesellschaft zu gut kennt [um] sich selbst als Teil dieser Realität zu begreifen.“ (1997, S.32) Dieser autoritären Position möchte sich Luhmann entledigen.
Daher heißt es bereits im Vorwort seines Werkes „Die Gesellschaft der Gesellschaft“: „Wenn die Kommunikation einer Gesellschaftstheorie als Kommunikation gelingt, verändert sie die Beschreibung ihres Gegenstandes und damit den diese Beschreibung aufhehmenden Gegenstand.“ (1997, S.15) Diese These verdeutlicht Luhmanns Selbstverständnis als Wissenschaftler. Er betrachtet sich nicht wie viele andere Forscher als Subjekt außerhalb seines Forschungsgegenstandes, sondern als Teil des zu Erforschenden; die Entwicklung einer Gesellschaftstheorie erfordert „selbstreferentielle Operationen“ (1997, S. 17). Die Soziologie ist Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Die Wirklichkeit ist erkennbar am Widerstand, den sie ausübt, aber „solcher Widerstand gegen Kommunikation [kann] nur durch Kommunikation geleistet werden [...],“ (1997, S.33) Mit dieser Erkenntnis können die Subjekt / Objekt - Unterscheidung aufgehoben, und „die humanistische ebenso wie die regionalistische Begriffstradition“ (1997, S.33) in ihrer Unbrauchbarkeit entlarvt werden.
Zwischen Forscher und Gesellschaft besteht eine Wechselbeziehung, denn der Versuch einer Gesellschaftsanalyse kann nicht „außerhalb der Gesellschaft stattfinden. Er benutzt Kommunikation. Er aktiviert soziale Beziehungen. Er setzt sich in der Gesellschaft der Beobachtung aus. [...] Die Definition selbst ist schon eine der Operationen des Gegenstandes“ (1997, S.16), wodurch sie ihren Gegenstand verändert.
Die Beschreibung der Gesellschaft muß „sich selber mitbeschreiben. Sie muß ihren Gegenstand als einen sich selbst beschreibenden Gegenstand erfassen.“ (1997, S. 16); der Gegenstand ist ein „seine eigenen Beschreibungen enthaltendes System“ (1997, S.15) Luhmann distanziert sich also von der gängigen erkenntnistheoretischen Unterscheidung zwischen „Denken / Sein, Erkenntnis / Gegenstand, Subjekt / Objekt“. (1997, S.32)
Mit diesem Standpunkt setzt er sich von anderen Soziologen deutlich ab, z.B. von Emile Dürkheim, dessen soziologische Wissenschaftsauffassung ’objektiv' ist, „weil sie von dem Grundsatz ausgeht, daß die soziologischen Tatbestände ’Dinge' sind und auch wie Dinge behandelt werden müssen. Deshalb können nur methodisch kontrollierte Beobachtungen den 'Dingen' ihr Geheimnis entreißen.“ [1]. Objekt dieser streng positiven sozialwissenschaftlichen Forschung „ist nach den methodischen Vorschriften Dürkheims jeweils eine Gruppe von Erscheinungen [..,] die durch gemeinsame Merkmale definiert“[2] sind. Der Forscher und seine Analyse werden also nicht als Teil des Forschungsobjektes angesehen.
Max Webers handlimgstheoretischer Ansatz sieht „das einzelne handelnde Individuum als Ausgangspunkt theoretischer Bemühungen.“ [3] Der Begriff des sozialen Handelns des Individuums ist „die Fundamentalkategorie [für] alle denkbaren Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsformen [...] wie Betrieb, Verein [...] Solidarität etc.“ [4] Zentral ist für Weber der „'subjektive Sinn’ des 'sozialen Handelns'“ [5]: Interaktionen können durch die Motive der Handelnden erklärt werden. Soziologie kann also Kollektive nur als „mehrere einzelne Personen“ [6] auffassen, sie soll „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären [...]“ [7] Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von einem „werttheoretischen Handlungsbegriff4, einer ,Anleihe beim Neokantianismus“ (1997, S.18)
Sowohl Durkheim als auch Weber betrachten „eine auf Konsens beruhende Integration“ als das „Prinzip, mit dem die Gesellschaft als Einheit [...] identifiziert wird.“ (1997, S.27) Helmut Schelsky beobachtet einen Prozeß, der mit der Industrialisierung begann und durch die beiden Weltkriege befördert wurde: den sozialen Abstieg des „ehemaligen Besitz- und Bildungsbürgertums“ hin zu einer „kleinbürgerlich - mittelständischen“ [8] Lebensform. Dies führt ihn zu seiner „kulturpessimistischen Zeitdiagnose“ [9] von der „'nivellierten Mittelstandsgesellschaft'“ [10], in der „Klassen - und Schichtbegriffe unpassend geworden“ [11] sind. Luhmann wirft ihm vor, dass sich seine „Forderung einer 'transzendentalen Theorie der Gesellschaft' [...]auf das einzelne Subjekt festlegte und so nicht weiterkam“ (1997, S.18)
Herbert Spencer,reduziert soziale Erscheinungen [...] auf organische oder psychische Bedingungen“ [12], indem er - in Anlehnung an die Biologie - die Evolution sozialer Institutionen in den Mittelpunkt stellt. Gemeint ist damit ein „sich gesetzmäßig entfaltender Verlauf von einfachen zu immer komplexeren Formen“ [13]
Diese Institutionalisierung steht in Zusammenhang mit dem Forschungsmodell des „Organizismus“, weiches „in der Gesellschaft das Abbild emes Organismus sah, in dem die einzelnen Elemente wie Organe Zusammenwirken“ [14] Spencer benutzt also biologische Prinzipien, um zu soziologischen Erkenntnissen zu kommen.
Er beschreibt seine Wissenschaftsauffassung wie folgt: „Meine Absicht geht [...] dahin, den Ursprung der zur Natur gehörigen Phänomene zu erklären. Dort wird etwas Subjektives, hier etwas Objektives behandelt. Wie sollte da das Eine der Urheber des Anderen sein?“ [15]
Georg Simmel, auf den die Entstehung der Tormalen Soziologie' zurückgeführt wird, versucht, „die neuen Fakten der pluralistischen Machtoffenheit in ein stark an Darwin angelehntes und auf Spencer zurückweisendes evolutionstheoretisches Konzept des 'allgemeinen Kulturfortschritts' einzuarbeiten,“ [16]
Er erklärt die Entstehung von Interessenverbänden, Gewerkschaften und Massenparteien „als eine höhere Stufe der arbeitsteiligen Differenzierung“ [17], und den Freiheitsgewinn und die verbesserten Entfaltungsmöglichkeiten durch die Existenz des Individuums „'im Schnittpunkt' verschiedener und möglicherweise sehr unterschiedlicher 'sozialer Kreise'.“ [18] Als Problem benennt Simmel die „zunehmende Trennung der menschlichen Subjektivität von der Welt der Kulturinhalte“ [19], den Widerspruch zwischen dem „objektiven [...] Geist der Gesellschaft“ und „den menschlichen Subjekten“ [20].
Luhmann bewertet dies kritisch: „Georg Simmel [...] opferte [...] lieber den Gesellschaftsbegriff als das soziologische Interesse an Individuen.“ (1997, S.26)
Luhmann lehnt „die Problematisierung der menschlichen Individualität im Blick auf die Eigenart der Assoziationen und Gefühlsbildungen des Einzelnen“ (1997, S.26) ab. Seiner Ansicht nach hat die Betrachtung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft „Mitte des 18. Jahrhunderts [...] die traditionsreiche kosmologische Situierung des Menschen in einer Ordnung, die ihm Rang und Lebensform zuweist“
(1997, S.26) abgelöst, da es nicht mehr ausreichte, den Menschen mit anthropologischen Begriffen „wie Vernunft, Verstand, Wille, Einbildungskraft, Gefühl, Sittlichkeit“ (1997, S.25) zu beschreiben. Statt dessen versuchte man, auf „wissenschaftliche und empirische Bezeichenbarkeit Wert“ (1997, S.26) zu legen. Dabei hat man aber übersehen, daß „[...] nicht alles, was den Menschen individualisiert zur Gesellschaft“ (1997, S.26) gehört. Außerdem ändert die Gesellschaft „nicht mit jeder Geburt und jedem Tod ihr Gewicht.“ (1997, S.26) Die Gesellschaft ist also etwas anderes als nur die Summe ihrer Bürger.
Durkheim, Weber, Schelsky Spencer und Simmel haben als Forscher einen rein wissenschaftlichen, distanzierten Bezug zum sozialen Objekt, sie sehen sich nicht als Teil des betrachteten Gegenstandes.
Dieses klassische Subjekt / Objekt - Schema lehnt Luhmann ab, weil es dafür verantwortlich ist, dass „seit etwa 100 Jahren [...] die Soziologie in der Gesellschaftstheorie keine nennenswerten Fortschritte gemacht“ (1997, S.20) hat.
Der Forscher - ebenso wie jeder andere Beobachter - ist „kein vernünftiges Subjekt“ (1997, S.18), sondern hat einen „entsubjektivierten Status“. (1997, S.18) Für die Welt, die der Forscher als Objekt betrachtet, ist er ebenfalls Objekt.
Weitere Gründe für das bisherige Versagen der Gesellschaftstheorie sind die „immense Komplexität der Gesellschaft [...] und das Fehlen einer brauchbaren Methodologie für den Umgang mit hochkomplexen und differenzierten Systemen“ (1997, S.22), ferner die Vielfalt von möglichen Gesellschaftsbeschreibungen.
Luhmanns Wissenschaftsverständnis unterscheidet sich auch deutlich von Jürgen Habermas, mit dem er geraume Zeit in kontroversem wissenschaftlichen Austausch an der Universität Frankfurt stand [21]. Habermas vertritt eine subjektbezogene handlungstheoretische Position, die ihre Wurzeln maßgeblich in den Lehren Max Webers hat. „Einzelne Menschen handeln kommunikativ (oder auch nicht). [...] Kommunikatives Handeln zielt auf Verständigung, gesellschaftlichen Konsens“ [22] Habermas' Standpunkt ist also humanistisch.
Für Luhmann ist die Sozialwissenschaft die „Beobachtung der Gesellschaft, genauer: Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Gesellschaft“ [23], er hat also ein lernendes Verhältnis zum Gegenstand seiner Arbeit. Habermas hingegen sieht in der Soziologie einen lehrenden Auftrag, denn „Soziologie ist Kritik an der Gesellschaft. Wissenschaft ist Moral, moralische Verpflichtung.“ [24] Er will die Gesellschaft „von einer ideologiekritischen, d.h. besserwisserischen Position aus“ [25] analysieren. Der Hintergedanke ist, „dass die Gesellschaft alles viel besser machen könnte“ [26]
Luhmann bezeichnet „das intellektuelle Schicksal von Jürgen Habermas“ (1997, S.l 116) daher als „konsequente Endposition [der] großen bürgerlichen Tradition von Krise und Kritik“ (1997, S. 1116) und bemerkt spöttisch über ihn: „Man muß die Hoffnung nicht aufgeben. [...] Es muß gleichsam eine gute Gesellschaft hinter der Gesellschaft geben [...] “ (1997, S. 1116) Habermas und andere halten - so Luhmann - „an einem menschbezogenen liumanistischen' Gesellschaftsbegriff1 (1997, S.30) fest, weil sie befurchten, andernfalls „die Forderung, die Gesellschaft solle 'menschlich' eingerichtet werden, aufgeben zu müssen.“ (1997, S.30)
Das „Denken um eine moralische Verpflichtung von Gesellschaftstheorie [...] gibt dieser Theorie zwar eine besondere Attraktivität, zeigt zugleich aber auch ihre Grenzen an Von einer solchen Position aus kann man beispielsweise die Geldwirtschaft, das Recht oder die politische Maschinerie nicht oder nur negativ [...] sehen.“ [27]
Im Gegensatz zu Habermas ist er der Ansicht, dass man „mit der Gesellschaft zurechtkommen [muß], die als Resultat von Evolutionen entstanden ist“ (1997, S. 1117) Sein Ziel ist also nicht eine bessere Gesellschaft, sondern eine bessere Gesellschaftstheorie. Man muß seine moralische, kritische Wertung bzw. ein Streben nach Reform der Gesellschaft zurückhalten, um so sehen zu können, wie die Gesellschaft ist - nicht, wie sie sein soll. [28] Luhmann wünscht die alteuropäische Tradition vom „Bewußtsein des Ungenügens“ (1997, S.22) zu überwinden und mit ihr die ideenorientierten Gesellschaftsbeschreibungen, denen „die Vorgefundene Wiklichkeit nicht genügte“ (1997, S.21) Er kritisiert „[das] Ethos der natürlichen Perfektion des Menschen [und die] Bemühung um Erziehung und um Vergebung der Sünden“ (1997, S.21/22) und sogar die spätere „[...] Aufklärung und [...] ihre Doppelgottheit Vernunft und Kritik.“ (1997, S.22)
[...]
[1] Deimling 1998, S.221
[2] Deimling 1998, S.222
[4] Amann 1996, S.48
[5] Klages 1969, S.112
[6] Klages 1969, S.112/113
[7] Klages 1969, S.112
[8] Rehberg, Karl - Siegbert: Helmut Schelsky (1912 - 1984); in: Kaesler Bd. Π; S, 89
[9] Geißler, Rainer und Meyer, Thomas: Theodor Geiger (1891 - 1952); in: Kaesler Bd. I, S. 288
[11] Rehberg, Karl - Siegbert: Helmut Schelsky (1912 - 1984); in: Kaesler Bd. Π; S. 89
[12] Deimling 1998, S.221
[13] Amann 1996, S.401
[14] Amami 1996, S. 140
[15] Deimling 1998, S.209
[16] Klages 1969, S.120
[20] Klages 1969, S.120/121
[21] so in Berghaus 2003, S.20
[22] Berghaus 2003, S.21
[27] Luhmann 1987, S. 126/127
[28] vgl. Luhmann 1987, S. 127/128
- Arbeit zitieren
- Fedor Singer (Autor:in), 2005, Einführung in die Grundlagen von Niklas Luhmanns Systemtheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/129591