Einordnung der heutigen Arbeits- und Konsumgesellschaft ausgehend von Hannah Arendts "Vita activa"


Essay, 2022

5 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


„If the world is to contain a public space, it cannot be erected for one generation and planned for the living only; it must transcend the life-span of mortal men.“ (Hannah Arendt, 1958)1

„Wenn es eine Denkerin des 20.Jahrhunderts gibt, deren Thesen direkt zu unserer Zeit sprechen, dann ist es Hannah Arendt.“ (Wolfram Eilenberger, 2018)2

Hannah Arendt ist aktueller denn je, obwohl sie „sowas von letztes Jahrhundert“ ist.

Hannah Arendt zählt zu den bedeutendsten Denkern des vergangenen Jahrhunderts. Die damalige politische Theoretikerin und Publizistin hat auch heute noch Medienpräsenz – und das, obwohl sie schon knappe 50 Jahre verstorben ist. So werden immer noch Videos über sie veröffentlicht, unter denen sich Lobpreisungen zu ihrer Person und ihren Ideen tummeln. Nicht selten wird sie dort als großartige Philosophin betitelt, deren Präsenz vermisst und herbeigewünscht wird. Gewissermaßen hat Arendt Kultcharakter: Straßen, Schulen, Schnellzüge tragen ihren Namen; ihre Texte werden nach wie vor gelesen und diskutiert; auch in Ausstellungen ist sie zu finden. Das ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt, da sie sich ihr Leben lang intensiv dem Denken gewidmet hat. Schon mit 14 Jahren las sie philosophische Werke von Kant und Kierkegaard und beschäftigte sich Zeit ihres Lebens mit gesellschaftlichen, politischen sowie kulturellen Fragestellungen. Ihr ging es stets darum, zu verstehen, was um sie herum geschieht.

Wessen Ideen eignen sich also, um sich einen Reim auf unsere moderne chaotische Gesellschaft machen zu können, wenn nicht die von Hannah Arendt?

Arendts Überlegungen über Arbeit & Konsum, und warum sie heute noch relevant sind.

Arendts Überlegungen kreisen sich um einige zentrale Begriffe, die es erst einmal zu verstehen gilt. Hierfür bedeutend ist vor allem ihr Werk namens „Vita activa oder Vom tätigen Leben“, welches 1960 in deutscher Fassung erschien. In diesem unterteilt sie die menschlichen Tätigkeiten in drei Arten ein: dem Handeln, dem Herstellen und dem Arbeiten.

Das Handeln sieht sie als diejenige Tätigkeit, die das Menschsein ausmacht. Für sie ist es ein aktiver Vorgang, der einen Selbstzweck darstellt, zu dem jeder Mensch durch seine Geburt befähigt wird. Durch ebensolchen verwirklicht sich der Mensch und kann Wunder bewirken. Zum Handeln zählen Aktivitäten, die unabhängig von Dinglichkeit und Materialität sind, wie etwa zwischenmenschliche Interaktionen.

Im Gegensatz dazu sind das Herstellen und Arbeiten immer auch an Dinge bzw. Gegenstände geknüpft. Das Herstellen bezieht sich auf die Erzeugung von sog. „dauerhaften“ Objekten, welche nicht der Natur entsprechen und eine lange Haltbarkeit aufweisen. Diese Objekte sind greifbare, gegenständliche Produkte, die produktiv mit den Händen geschaffen wurden. Das Herstellen ist hierbei ein endlicher Prozess, der mit der Fertigstellung des Produktes endet. Produkte sind beispielsweise Gebrauchsgüter, wie etwa ein Stuhl. Das Herstellen an sich ist somit beispielsweise das Fertigen eines Stuhles.

Das Arbeiten bringt auch Produkte hervor, allerdings handelt es sich bei diesen eher um Verbrauchs- bzw. Konsumgüter. Das heißt sie sind flüchtig, kaum greifbar, nicht lange haltbar und haben damit keinen dinghaften Charakter. Das Arbeiten an sich versteht Arendt dabei als biologisch-physischen Prozess der Existenzsicherung, welcher fortwährend andauert und im Gegensatz zum Herstellen weder klaren Anfang noch klares Ende hat. In dem Sinne kann die Arbeit also nicht „ausgehen“.

Neben diesen drei Tätigkeitsbegriffen können die Menschen selbst noch unterschiedlich bezeichnet werden: entweder als Homo faber oder als Animal laborans.

Ein Homo faber (der schaffende Mensch, der Mensch als Handwerker) ist hierbei derjenige, der dem Herstellen nachgeht; während ein Animal laborans (das arbeitende Tier, das Arbeitstier) dem Arbeiten nachgeht.

Gut – und was haben all die Begriffe nun mit unserer modernen Gesellschaft zu tun?

Hannah Arendt war der Meinung, dass in der Neuzeit die Arbeit glorifiziert wird und jegliche menschliche Aktivitäten zunehmend auf das Niveau der Arbeit reduziert werden. Auffallend ist, dass hierbei das Arbeiten mit dem Herstellen verwechselt wird und sich der Spielraum zum Handeln schmälert. Durch die Möglichkeit der Massenfabrikation wird das Arbeitsprinzip auf den Herstellungsprozess übertragen. Dadurch werden Konsumgüter dauerhaft, müssen aber trotzdem schnell verbraucht werden. Erschwerend kommt hinzu, dass mit kollektiver Arbeitskraft die Arbeit zu einer unerschöpflichen wird. Als Folge werden Güter in Massen hervorgebracht, die dann aber auf individuell begrenzte Konsumkapazitäten treffen. Der Mensch selbst wird immer mehr zum Animal laborans degradiert, einem passiven „Tier“, das entwurzelt und verlassen ist und nur im ewigen Kreislauf von Arbeit und Konsum sein Glück findet. Generell wird das Glück, das nunmehr als Lust in der größten Anzahl verstanden wird, nur dem Arbeitenden zugestanden. Der Mensch soll leben, um zu arbeiten, damit er sich mit seinem Einkommen Konsumgüter leisten kann. Das Ideal des Homo faber wird durch das Ideal des Animal laborans ersetzt – Dauer, Haltbarkeit und Bestand verlieren zunehmend ihre Wertschätzung.

In wenigen Worten: Arendt beschreibt die moderne Gesellschaft als eine ‚waste economy‘ (Wegwerfgesellschaft), die auf eine sehr negative Weise von den Idealen des Konsums und der Arbeit geprägt ist – immer unabdingbar mit dem Überfluss verbunden. Sie beruht auf Vergeudung und hat nur das schnelle Glück (das schnelle Konsumieren) im Sinn. In ihr wird der moderne Mensch gewissermaßen zum Arbeitstier, das zu wenig Zeit zum Menschsein (zum Handeln) hat.

Betrachtet man unsere heutige Lebens- und Arbeitswelt, finden sich Arendts damalige Thesen durchaus bestätigt:

- In Sweatshops arbeiten Hunderte von Menschen als „kollektive Arbeitskraft“ unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen an der Produktion von unzähligen fast-fashion-Kleidungsstücken, die ähnlich schnell konsumiert wie auch ersetzt und entsorgt werden.
- 過労死/Karōshi (jap. für ‚Tod durch Überarbeitung‘) ist nicht nur ein Wort, sondern häufige Realität. Auch im Chinesischen (过劳死/guolaosi) und Koreanischen (과로사/kwarosa) hat man diesem Phänomen einen Namen gegeben.
- Kaufsucht ist weit verbreitet und wird durch soziale Medien immer weiter angetrieben. Oftmals wird mit ihr das Bedürfnis nach Freude kurzfristig befriedigt. Folgen sind erhebliche Schäden an der Umwelt und den Menschen, die am Herstellungsprozess der Konsumgüter beteiligt sind.

Alternative Perspektiven für solche und ähnliche Entwicklungen sind schwer zu finden. Selbst Hannah Arendt schien diesbezüglich zu keinem optimistischen Schluss kommen zu können.

Mein eigener naiver Wunsch wäre, dass wir das Handeln als Priorität sehen, dass wir uns dafür aktiv Zeit nehmen, genauso wie wir diese Zeit auch anderen zugestehen; dass wir uns erlauben, mehr Mensch zu sein. Dass wir unser Glück nicht im Arbeiten und Konsumieren suchen - auch der Umwelt zuliebe. [7221 Zeichen inkl. Leerzeichen]

[...]


1 Arendt, H. (1959). The Human Condition. Chicago: The Common.

2 SRF Kultur (2018). Eva von Redecker über Hannah Arendt: Wir müssen lernen zu streiten | Sternstunde Philosophie | SRF. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=fkf1G46lZHQ [29.08.2022]

Ende der Leseprobe aus 5 Seiten

Details

Titel
Einordnung der heutigen Arbeits- und Konsumgesellschaft ausgehend von Hannah Arendts "Vita activa"
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Veranstaltung
Unsichtbare(s) sichtbar machen – Klassikerinnen der Pädagogik
Note
2,0
Autor
Jahr
2022
Seiten
5
Katalognummer
V1298541
ISBN (eBook)
9783346764935
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hannah Arendt, Konsum, Arbeit, Homo Faber, Animal laborans, Handeln, Herstellen, Arbeiten, Neuzeit, Glück, waste economy, Massengesellschaft, Wegwerfgesellschaft, Überfluss, fast fashion, karoshi, Kaufsucht, Umwelt
Arbeit zitieren
Clara Schoch (Autor:in), 2022, Einordnung der heutigen Arbeits- und Konsumgesellschaft ausgehend von Hannah Arendts "Vita activa", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1298541

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