Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Vorkenntnisse zum bewegten Deutschunterricht (Umfrage)
3 Bewegungserziehung
4 Sprachtherapeutischer Förderungsansatz: Kontextoptimierung
5 Förderung sprachlicher Kompetenzen von Kindern durch bewegungsorientierte Maßnahmen
5.1 Auswahlkriterien für das didaktisch-methodische Anleitungsmaterial
5.2 Unterrichtsmethode der körperorientierten Freiarbeit: Die „Chefstunde“
5.3 Frühe Literacy-Erfahrungen
5.4 Spiele insbesondere zur Festigung der Präpositionen
6 Bewegtes Lernen
6.1 Bewegung in den Kompetenzbereichen im Fach Deutsch
7 Resümee
8 Anhang
9 Tabellenverzeichnis
10 Abbildungsverzeichnis
11 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
In den letzten Jahren wurde wieder eine verstärkte Tendenz zu einer funktionsorientierten Sprachförderung festgestellt. Diese weist Parallelen zu den deutlich kritisierten „Sprachtrainingsmappen“ (Schüller-Janikulla; 1971 zit. n. Zimmer; 2009: 8) auf. An diesen wurde beanstandet, dass sie zu funktionsorientiert ausgerichtet seien. Renate Zimmer entwirft mit ihrem „Handbuch Sprachförderung durch Bewegung“ (2009) ein Konzept einer ganzheitlichen Sprachförderung, welche auch Anwendung im Unterrichtsalltag erfährt. Bei diesem stehen vor allem die kindlichen Interessen im Fokus. Zimmer berücksichtigt dabei insbesondere die körperliche Reife der Lernenden und die Relevanz der sinnlichen Erfahrungen für den Spracherwerb (vgl. Zimmer; 2009: 8). Zentrale Erkenntnisse aus diesem Handbuch werden insbesondere im fünften Kapitel dieser Arbeit beschrieben.
Mittels Bewegung werden die Kinder zu aktiven sprachlichen Äußerungen animiert. Bewusst eingesetzte Bewegungsübungsformen können den Kindern zum Ausdifferenzieren ihres Sprachstandes verhelfen. Spielideen offerieren dabei sowohl für Sprach- als auch für Bewegungsaktivitäten die benötigten Settings, weshalb diese im Hauptteil ausführlicher dargestellt werden (vgl. ebd.: 15).
Doch nicht zuletzt durch die Einschränkungen - bedingt durch die Coronapandemie - weisen Kinder einen verstärkten Bewegungsmangel auf. Dies konnte etwa das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe in der Motorik-Modul-Längsschnittstudie (MoMo) belegen. Dieses Ergebnis stellt insofern eine Gefahr dar, als dass mentale Gesundheit und Bewegung eng miteinander zusammenhängen (vgl. Spilker; 2021: o.S.). Bereits zuvor entwickelte sich die kindliche Umgebung zunehmend bewegungseinschränkender. Etwa durch die Bebauung von Grünflächen, Digitalisierung sowie Tendenzen zur „Verhäuslichung“. Im Schulalltag herrscht auch heute oftmals noch der gewöhnliche Sitzunterricht vor. All diese Faktoren führen mehr und mehr zu Haltungs- sowie Konzentrationsschwächen, einer erhöhten Aggressivität, geringerem Leistungsvermögen sowie Auffälligkeiten im Sozial- und Arbeitsverhalten (vgl. Müller; 2006: 6).
Die Notwendigkeit, dass Kinder sich bewegen müssen, stellt keine neue Erkenntnis dar (vgl. Müller; 2003: 16). Bereits 1807 vertrat Pestalozzi die Ansicht, „dass Körperbildung vorbehaltlos und gleichwertig in die Gesamterziehung zu integrieren sei“ (ebd.). Auch die Reformpädagogik griff die Verknüpfung von Erziehung sowie körperlicher Bildung auf. So findet sich bei Maria Montessori: „Von gleich großer Bedeutung für die Entwicklung des Kindes ist seine eigene spontane Bewegung. Das Kind muss sich immer bewegen, kann nur aufpassen oder denken, wenn es sich bewegt“ (Montessori; 1971: 31 zit. n. ebd.).
Kretschmer (1981) stellte unter Bezugnahme auf Scherler (1975) diverse Bewegungsfunktionen für die kindliche Entwicklung dar: Die Gestaltung sowie Exploration der Umwelt, die Verständigung und Komparation, die Kommunikation und die körperliche Anstrengung. All dies geschieht durch Bewegung (vgl. Müller; 2003: 17).
Die Bewegung stellt ein anthropologisch fundiertes Grundbedürfnis dar, neben Denken und Sprechen eine basale Daseinsfunktion des Menschen. Insbesondere für Kinder fungiert die Bewegung als Mittler zwischen sich selbst sowie Um- und Mitwelt. Auf diese Weise entstehen Kontakte und Beziehungen. Bewegung vereint Gestalten und Erfahren. Im Unterschied zur Erbmotorik bei den Tieren, ist die menschliche Bewegung erlernt beziehungsweise erworben. Daraus resultiert eine Notwendigkeit zur Bewegungserziehung (vgl. ebd.).
Forschungsbelege unterstreichen die Tatsache, dass Bewegungsaktivität Einfluss auf die Bildung neuer Nervenzellen im Gehirn sowie auf die Verstärkung von Synapsen besitzt. Dadurch arbeitet das Gehirn leistungsfähiger. Die Verschaltung dieser Nervenzellen markiert in höheren Jahren dann die Basis für Intelligenzleistungen (vgl. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration; 2007: 62; vgl. Müller; 2003: 46). Die positive Interdependenz von Bewegung zeigt sich auch darin, dass dadurch viele kognitive Fähigkeiten ausgeprägt werden. Dies zieht wiederum positive Auswirkungen auf die soziale sowie sprachliche Entwicklung nach sich. Durch den regelmäßigen Einsatz von Bewegung können die SchülerInnen ihr Selbstbewusstsein wie auch ihre physische und psychische Gesundheit und das Wohlbefinden stärken (vgl. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration; 2007: 62). Dass Bewegungsaktivitäten aber noch ausbaufähig in ihrer Integration im Unterricht sind, untermalt die Tatsache, dass im Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan (Stand 2007) nur zwei Seiten zu diesem Bereich vorzufinden sind und Beispiele für die Praxis fehlen (vgl. ebd.). Daher besteht die Intention dieser Arbeit darin, Konzepte und Umsetzungsideen für einen Bewegten Deutschunterricht in der Primarstufe aufzuzeigen, unter dem Blickwinkel der Sprachtherapie und -förderung sowie unter Einbezug des Hessischen Kerncurriculums für das Fach Deutsch. Auch wenn es bisher keine Studien zu den Auswirkungen des Bewegten Deutschunterrichts allein gibt, so sollen dennoch anhand ausgewählter Studien Effekte für den Zusammenhang von Bewegung und Fähigkeiten in Deutsch dargestellt werden. Dazu wurden unter anderem Studien von Christina Müller zu ihrem Konzept der Bewegten Grundschule herangezogen.
Im ersten Kapitel erfolgt die Darstellung der Ergebnisse einer durchgeführten Umfrage zu den Vorkenntnissen zum Bewegten Deutschunterricht. Daraufhin wird im zweiten Kapitel dieser Arbeit auf die Bewegungserziehung im Allgemeinen eingegangen und wie auch unterschiedliche Lerntypen die bestmögliche Unterstützung erfahren können. Dabei spielen auch die exekutiven Funktionen eine bedeutende Rolle. Dies wird anhand des Beispiels zur Förderung von Automatisierungen bei der Rechtschreibung in Bewegung unterstrichen. Daraufhin erfolgt im dritten Kapitel die Vorstellung des sprachtherapeutischen Förderungsansatzes der Kontextoptimierung, auch mit einer konkreten Therapieeinheit zum „faulen Wort“ zur Festigung der Verbzweitstellungsregel und die Präsentation der Unterrichtsideen Greifsack sowie zum Format „Der große Preis“. Nach diesen theoretischen Ausführungen wird ein Blick darauf geworfen, wie sprachliche Kompetenzen durch Bewegung ausgebildet werden können. Dazu werden konkrete Fallbeispiele herangezogen. So geht es zunächst um die Auswahlkriterien für das didaktisch-methodische Anleitungsmaterial. Daraufhin erfolgt die Vorstellung der Unterrichtsmethode „Chefstunde“, bevor es um frühe Literacy-Erfahrungen geht, welche anhand eines Lesepfads praktisch verdeutlicht werden. Außerdem werden Spiele insbesondere zur Festigung der Präpositionen vorgestellt. Anschließend wird im fünften Kapitel ein theoretischer Teil zum Bewegten Lernen ausgeführt, wobei es dort als Abschluss des Hauptteils um die Bewegung in den Kompetenzbereichen des Faches Deutsch aus dem Hessischen Kerncurriculum geht. Dazu wird unter anderem das Beispiel einer szenischen Umsetzung zu Strawinskys „Feuervogel“ eingesetzt. Abschließend werden die Ergebnisse dieser Arbeit in einem Resümee zusammengefasst.
2 Vorkenntnisse zum bewegten Deutschunterricht (Umfrage)
Mithilfe einer Umfrage zum bewegten Deutschunterricht sollte ein Meinungsbild dazu eingeholt werden, wie sich GrundschullehramtsstudentInnen sowie GrundschullehrerInnen diesen vorstellen und ob schon Erfahrungen diesbezüglich vorhanden sind. Es ist anzunehmen, dass manche diese Unterrichtsformen mit Standbildern oder dem Tanzen des eigenen Namens an Montessorischulen assoziieren. In dieser Umfrage wurden L1-StudentInnen ab dem zweiten Semester befragt, darunter einige mit Sport als Drittfach, welche dadurch mehr Wissen zur Bedeutsamkeit von Bewegung erlangten. Außerdem wurden zum Vergleich Grundschullehrkräfte befragt, um ein möglichst aussagekräftiges Meinungsbild zu erhalten, wie es derzeit in der Unterrichtspraxis aussieht.
Insgesamt wurden drei Fragen gestellt und es nahmen 37 Personen an der Umfrage teil. Die erste Frage lautete: „Was stellen Sie sich unter dem bewegten Deutschunterricht vor?“ Eine TeilnehmerIn antwortete hierauf, dass bei Lernprozessen mithilfe von Bewegungen beispielsweise Grammatikthemen oder Begrifflichkeiten verinnerlicht werden können. Die zweite Frage bestand aus einer kurzen Begriffserklärung des bewegten Deutschunterrichts. So werden in einem bewegten Deutschunterricht Inhalte mithilfe von Bewegung vermittelt. Die Bewegung kann dabei zwei verschiedene Funktionen einnehmen, nämlich die lernerschließende sowie die lernbegleitende Funktion. Auf diese wird im weiteren Verlauf auch anhand von Beispielen noch ausführlicher eingegangen. Somit handelt es sich um eine Verknüpfung der Fächer Deutsch und Sport. Hiernach wurde gefragt, ob dazu bereits Erfahrungen in der Unterrichtspraxis (sei es in Praktika, im erlebten oder durchgeführten Unterricht) vorlägen. 28 von 37 Befragten bejahten dies. Abschließend wurden diese 28 bei der dritten Frage nach konkreten Unterrichtsbeispielen beziehungsweise Umsetzungsideen gefragt (Auflistung aller Ergebnisse s. Anhang).
3 Bewegungserziehung
Die Anthropologie sieht Bewegung als fundamental an, da die Kinder dadurch zu einer Auseinandersetzung mit ihrer materialen wie sozialen Umwelt animiert werden. Weiter fördert ein gesundes Bewegungsverhalten die Frustbewältigung und hilft dabei, mit Rückschlägen sowie Belastungen besser umzugehen (vgl. Arzberger; Erhorn; 2013; 16).
Mithilfe von Bewegung ist, nach Hirnforscher Manfred Spitzer, auch die Bereitstellung einer positiven Lernkultur möglich (vgl. ebd.). Aufgrund der Einteilung in Unterrichtsfächer vollzieht sich eine Grenze zwischen Bewegung und Sprache. So verfolgt der Deutschunterricht die Förderung der Kompetenzbereiche „Sprechen und Zuhören“, „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“, „Schreiben“, „Lesen – mit Texten und Medien umgehen“. Dennoch kann Bewegung mithilfe von Unterrichts- sowie Sozialformen und Spielen immer einen hilfreichen Beitrag für das Lernen leisten. Dabei kann das Lernen auf drei verschiedene Arten stattfinden: Mit, in und durch Bewegung (vgl. ebd.: 17).
Beim Lernen mit Bewegung wird diese aktiv im Unterricht von der Lehrperson eingefordert und eingeplant. Ein Merkmal besteht darin, dass sich ein Wechselspiel zwischen körperlicher sowie seelischer Entspannung und Anspannung vollzieht. Dabei ist es auch bedeutsam, die Eigentätigkeit der SchülerInnen für den Lernerfolg auszuprägen. Diese Funktionsweise wird verwendet, um eine höhere Konzentration für das Lernen zu bekommen und auch, um dem Unterrichtsablauf mit wechselhaft ablaufenden Phasen von Anspannung und Ruhephasen eine sinnhafte Struktur zu verleihen (vgl. Beckmann; 2013: 44). Wichtig ist auch, dass bei dieser Bewegungsform nicht im Kontext des fachlichen Lerngegenstands gehandelt wird, stattdessen geht es um bewegte Methoden wie etwa bewegte Lernspiele oder um das Lernen an verschiedenen Stationen (vgl. Arzberger; Erhorn; 2013.: 17f). Darin resultiert dann letztendlich der bewegte Unterricht. Verschiedene Prinzipien werden unter dieser Form subsumiert. So geht es auch darum, vor und nach intensiveren Lern- und Arbeitsphasen Bewegung einzusetzen (vgl. ebd.: 17).
Das Lernen in Bewegung findet lernbegleitend statt. Auch hierbei besteht keine inhaltliche Verknüpfung mit dem Lerngegenstand, sondern nur eine zeitliche (vgl. Beckmann; 2013: 44). Im Deutschunterricht bietet es sich beispielsweise an, Laufspiele oder auch Spiele mit Bällen einzusetzen. Dabei können die Lernenden zu einem vorgegebenen Inhalt Begriffe festhalten (vgl. Arzberger; Erhorn; 2013: 17).
Um das Lernen durch Bewegung handelt es sich, sofern ein direkter Kontext zwischen Bewegung und Lerngegenstand auf inhaltlicher sowie zeitlicher Ebene vorherrscht. Dadurch erhält die Bewegung „(…) eine lernerschließende Funktion“ (Beckmann et al.; 2012: 6 zit. n. Arzberger; Erhorn; 2013: ebd.).
Mithilfe von Bewegung wird insbesondere die taktil-kinästhetische Wahrnehmung gefördert, welche maßgebend für eine zielführende Körpervorstellung ist und sich damit auch positiv auf die Raumorientierung auswirkt. Das Ganze stellt aufgrund der Tatsache einen Mehrwert für den Unterricht dar, dass diese im Deutschunterricht beispielsweise für das Schreiben von Buchstaben benötigt wird, so etwa auch beim Verinnerlichen der Schreibrichtung und bei der Lage der Buchstaben im Raum. Außerdem wird die taktil-kinästhetische Ebene aktiv, sobald szenische Darstellungen erfolgen. Hierbei wird die Sache im Ganzen verinnerlicht (vgl. Beckmann; 2013: 45). Diese Funktion beinhaltet, dass durch die Bewegung etwas begriffen wird. Nach den Erkenntnisstufen von J.S. Bruner (1988) umfasst diese Art die enaktive Stufe, bei welcher das Lernen mit den eigenen Handlungen verknüpft ist (vgl. Beckmann; ebd.: 44). Der Stoff wird durchdrungen, darin besteht ein bedeutsamer Vorteil der lernerschließenden Funktion (vgl. ebd.: 44f). Somit wird eine aktive Auseinandersetzung mit den Inhalten gefördert. Die Kompetenzbereiche im Fach Deutsch können dadurch weiter ausgeprägt werden. „Sprechen und Zuhören“ kann etwa in Spielen mit kommunikativen Praktiken gefördert werden, wenn also beispielsweise Beschreibungen und exakte Benennungen verlangt werden. Die Lehrpersonen sollten es anstreben, eine demokratische Gesprächskultur in ihren Unterricht zu integrieren (vgl. ebd.: 21). Dabei ist der Einsatz der Bildungssprache zwingend erforderlich, damit sich die SchülerInnen korrekt ausdrücken und auch Beschreibungen, Erklärungen sowie Argumentationen ausführen. Damit dies gelingt, wird ein elaborierter Wortschatz benötigt, welcher beispielsweise auch Komposita oder Passivkonstruktionen enthält. In der Primarstufe geht es jedoch eher noch darum, das Repertoire der sprachlichen Mittel um etwa den korrekten Gebrauch von Präpositionen zu erweitern (vgl. ebd.). Bewegungselemente lernerschließend und lernbegleitend in die Unterrichtspraxis zu integrieren, meint, die Laute und Zeichen der deutschen Sprache zu „erspüren“ (Beckmann; 2013: 45). Außerdem zieht dies auch mit sich, sich von Sätzen, Dialogen, Gedichten, Sprachspielen sowie Wörtern bewegen zu lassen (vgl. Both u.a.; 2005: 22 zit. n. ebd.).
Die Bewegungserziehung umfasst keineswegs das Fach Sport allein, sondern stellt eine fächer- sowie lernbereichsübergreifende Aufgabe dar, welche auch den außerunterrichtlichen Bereich tangiert (vgl. Müller; 2003: 39). Im Vergleich zu den Fächern Musik, wo durch Rhythmen ein hoher Bewegungsanteil vorhanden ist sowie Mathematik, wo es immerhin viele Praxisanregungen, auch in Bezug auf Geometrie sowie räumliches Vorstellungsvermögen gibt, spielt im Fach Deutsch die Verknüpfung mit der Bewegung bisher nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Müller; 2006: 10). Intention dieser Erziehung sollte es auch sein, dass sich die SchülerInnen eigenständig zu Bewegungshandlungen animieren. Doch gerade in der Primarstufe bedarf es dazu einer intensiven Einarbeitung durch die Lehrkräfte, da die Lernenden noch über wenige Vorkenntnisse verfügen (vgl. Müller; 2003: 39).
Das Hauptziel der Bewegungserziehung besteht in der „Befähigung der Kinder zur individuellen Handlungskompetenz, die darauf gerichtet ist, durch Bewegung die Umwelt zu erfahren und zu gestalten“ (ebd.: 40). Damit diese Erziehung ganzheitlich stattfinden kann, werden konkrete Teilziele verfolgt, welche mit der Bewegungsaktivität erreicht werden sollen (vgl. ebd.). Diese lauten: Förderung der sinnlichen Wahrnehmung, Herausbildung von Selbst- und Sozialkompetenz, stärkerer Einbezug des kinästhetischen Analysators beim kognitiven Lernen, Erhöhen der Sensibilität für den eigenen Körper und Verstärken emotionalen Erlebens, Verbessern der Körperhaltung, Schulen der Koordination (unter Bezugnahme auf die koordinativen Fähigkeiten), Sensibilisieren für kulturelle Werte sowie Förderung der Bewegungssicherheit (vgl. ebd.: 40f.).
Für den Professor für Psychiatrie Dr. John J. Ratey markiert Bewegung einen „Superfaktor“ (Ratey; 2013 zit. n. Schramm; Wieden; 2019: 5). Dadurch werden „Bausteine des Lernens im Gehirn“ (Ratey; 2013: 11 zit. n. ebd.) angeregt. Die Bewegung besitzt vielfältige positive Auswirkungen, nicht nur auf das Herz-Kreislauf-System. Ein Mehrwert besteht darin, dass durch eine erhöhte Sauerstoffversorgung das Gehirn besser funktioniert, was sich wiederum vorteilhaft auf das Lernen auswirkt. Außerdem vervielfacht sich dadurch der Noradrenalin-, Serotonin- sowie Dopamingehalt. Diese drei Botenstoffe stellen bedeutsame Neurotransmitter dar, welche Vorteile für die Psyche nach sich ziehen (vgl. Schramm; Wieden; 2019: 5).
Das Forschungsprojekt Bewegung in der frühen Kindheit (BiK) konnte verschiedene Bedeutungsfelder für die Bewegung in Bezug auf kindliche Entwicklungs- und Bildungsprozesse eruieren. Bei der Bewegung als Lerngegenstand wird sich auf die Ausdifferenzierung motorischer Kompetenzen fokussiert. Dazu müssen die Kinder zunächst einmal mit den Grundbewegungsformen wie beispielsweise laufen, springen, gehen vertraut werden. Gleichsam werden basale motorische Eigenschaften wie etwa koordinative und konditionelle Fähigkeiten ausgebildet. Gleichzeitig sollen auch die Mitgestaltungskompetenzen (dazu zählen unter anderem die Sozial- und Selbstkompetenz) durch die Bewegungsaktivität Ausprägung erfahren. Daneben wird den Lernenden auch der Zugang zu einer lebenslänglichen Partizipation an Spiel-, Bewegungs- und Sportkulturen garantiert (vgl. ebd.: 6).
Auf die Bedeutung der Bewegung als Medium der Gesundheitserziehung wird im Rahmen dieser Arbeit aufgrund des großen Umfangs nicht weiter detailliert eingegangen werden.
Bewegung als Medium des Lernens repräsentiert „die spielerische, experimentierende, explorierende Handlung des Kindes in der Auseinandersetzung mit und Erschließung der dinglichen und personalen Umwelt“ (Bahr et al.; 2012: 103 zit. n. Schramm; Wieden; 2019: 7). Es erfolgt vonseiten der Kinder ein Erschließungsprozess der personalen und materiellen Umwelt unter Einbezug der verschiedenen Sinne und gezielter Aktivitäten. Dadurch agieren die Lernenden zunehmend eigenverantwortlicher und differenzieren Körpererfahrungen aus. In Interaktion und Kommunikation mit anderen werden die Mitgestaltungskompetenzen entfaltet. Lehrkräfte sollten sich darüber im Klaren sein, dass bereits mit der Einschulung der Wert sowie der Einfluss der Bewegung auf emotionale, motivationale, kognitive und soziale Bildungs- und Entwicklungsverläufe zurückgeht, aber niemals gänzlich. Daher ist auch eine engere Verzahnung von Elementar- und Primarbereich erforderlich. Was jedoch im Kindergarten nicht an Bewegungserfahrungen gesammelt wurde, kann nicht in Gänze in der Grundschule nachgeholt werden (vgl. Schramm; Wieden; 2019: 7).
Zwei Ansätze nach Seewald
Zur Erläuterung des Zusammenwirkens zwischen Lernen und Bewegung differiert Seewald (2003) strukturaffine von nicht-strukturaffinen Ansätzen. Erstere implizieren den Erkenntnisgewinn in der Welt mithilfe einer direkten körperlichen Auseinandersetzung mit den Gegenständen. Probleme können mithilfe des eigenen Körpers gelöst werden, dadurch findet auch ein Lernprozess statt. Zweitere fundieren die Bewegungsauswirkungen auf das Lernen durch indirekte Proportionalitäten, wie zum Beispiel die Thematisierung von Erfolgen im Sportunterricht und die daraus resultierenden Vorteile in Bezug auf das persönliche Selbstkonzept, aber auch auf Einflussfaktoren des Lernerfolges wie Aufmerksamkeit oder Konzentration (vgl. ebd.). Sofern beim Lernen unterschiedliche Sinneskanäle simultan angeregt werden, so ist das Netzwerk, welches im Gehirn damit zusammenhängt, größer. Daher verknüpfen die Lernenden das Wissen, zudem ist es an dieser Stelle besonders vorteilhaft, wenn sie dieses über unterschiedliche Zugänge in der Zukunft erneut abrufen können. Somit sollte im Unterricht auch das wiederholte Üben im Blickpunkt stehen, da sich dadurch auch die Geschwindigkeit des Informationsaustauschs erhöht (vgl. ebd.: 8).
Das Bedeutungsfeld der Bewegung als Medium der Entwicklungsförderung fokussiert neben dem Entwicklungsaspekt das kindliche Selbstkonzept. Dieses markiert „das mentale Modell einer Person über ihre Fähigkeiten und Eigenschaften“ (Moschner & Dickhäuser; 2010 zit. n. Schramm; Wieden; 2019: 8). Gesammelte Körper- und Bewegungserfahrungen sind bedeutsam für die Ausprägung des Selbstkonzepts. Die SchülerInnen erfahren mehr über den eigenen Körper und können Möglichkeiten und Grenzen ausloten. Dabei besteht ein Vorteil darin, dass sie ein unmittelbares Feedback über den Erfolg ihrer Ausführungen erhalten. Außerdem wird insbesondere im kindlichen Alter das Ansehen in einer Gruppe oftmals über motorische Kompetenzen beurteilt, dies äußert sich zum Beispiel im Sportunterricht, wenn Mannschaften gewählt werden (vgl. Schramm; Wieden; 2019: 8). Die Ausprägung des Selbstkonzeptes ist auch von sozialen Erlebnissen sowie emotionalen Erfahrungen abhängig (vgl. ebd.: 9).
Werden Beispiele für Gehirnleistungen angeschaut (vgl. nachfolgende Tabelle), so erschließt sich der Mehrwert einer Verknüpfung von Bewegung und kognitivem Lernen. Die linke Hirnhälfte ist besonders für die Verarbeitung analytischer Prozesse zuständig, dazu zählen das Sprachverarbeiten und das Sprechen. Dagegen laufen in der rechten Hirnhälfte kreative Arbeiten ab, wozu auch Bewegungsaktivitäten zählen (vgl. Barth; Maak; 2009: 7).
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Tabelle 1: Tätigkeiten der beiden Gehirnhälften (Barth; Maak; 2009: 7)
Lerninhalte sind länger im Gedächtnis abrufbar, wenn Bewegung und Sprache und somit die beiden Gehirnhälften miteinander verknüpft werden und sich in der Konsequenz stabilere Synapsen ausbilden. Es ist nachweislich bekannt und auch empirisch fundiert, dass Bewegung eine verbesserte Informationsverarbeitung beim Lernen nach sich zieht. Im Anfangsunterricht in Deutsch werden die Kinder mit Wörtern und Buchstaben konfrontiert. Für den sich anbahnenden Lese- und Schreibprozess differieren die Kinder zuerst Zeichen auf Papier (vgl. ebd.). Damit sie sich sicher im zweidimensionalen Schriftsystem zurechtfinden können, sind ganzheitliche Erfahrungen im dreidimensionalen Bereich empfehlenswert (vgl. ebd.: 7f).
Beim Einsatz von Bewegungshandlungen können Bewegungspausen herangezogen werden, welche kurzzeitige Unterbrechungen des Unterrichts markieren. Dabei werden angeleitete Bewegungsaufgaben durchgeführt.
Beispielsweise lassen sich regelmäßige, geplante Unterrichtsunterbrechungen, zum Beispiel vorgeschriebene Lüftungspausen, dazu einsetzen, für regelmäßige Bewegungsaktivitäten zu sorgen. Denn während der Coronapandemie wird oftmals bemängelt, dass durch die Testungen viel Unterrichtszeit verloren geht und demzufolge nicht so viel Bewegung eingeplant wird, da der Lehrplan erfüllt werden muss. Dennoch können beispielsweise die stündlich vorgeschriebenen Lüftungspausen dazu genutzt werden, um Bewegung zu generieren (vgl. Kuhn; 2021: o.S.).
Zum Lerngegenstand der Stunde existiert bei dieser Art der Bewegungsaktivitäten kein direkter Zusammenhang (vgl. Barth; Maak; 2009: 8).
Lernbegleitende Aktivitäten markieren Unterrichtsformen, in welchen der Input durch simultan ablaufende Bewegungshandlungen verinnerlicht wird. Folglich befassen sich die Kinder mit dem Lerngegenstand und sind gleichzeitig in Bewegung (vgl. ebd.).
Lernerschließende Aktivitäten repräsentieren Unterrichtsformen, wo der Input unmittelbar über Bewegung behandelt wird. Bei dieser Form besteht ein direkter Zusammenhang zum Unterrichtsthema. Daher findet eine Erschließung des Lerngegenstands durch die Bewegungsausführung statt (vgl. ebd.).
Eine positive Interdependenz besteht auch zwischen Bewegung und Motivation. Da die Motivation einen relevanten Erfolgsfaktor für den Lernprozess darstellt, liegt auch hier ein Mehrwert vor. Sofern eine Schule viel Raum für Bewegungshandlungen einräumt, wird einerseits ein Lernen mit allen Sinnen ermöglicht, was insgesamt in einer Kultur des bewegten Lernens mündet. Insbesondere im Deutschunterricht sollte beim bewegten Lernen die emotionale Komponente der SchülerInnen gesondert berücksichtigt werden. Lehrkräfte verhelfen den Kindern somit zu einer ganzheitlichen Ausreifung der sozialen, sprachlichen, kognitiven und emotionalen Kompetenzen (vgl. ebd.). Der Deutschunterricht wird diesen Anforderungen gerecht, indem er rhythmische Übungen, Bewegungen, Tanz, Theater sowie Musik integriert. Für die Bewegungshandlungen werden auch Gestik, Mimik sowie Körpersprache in ausreichendem Maß benötigt. Die kindliche Freude am Singen kann dazu genutzt werden, um komplexe Zusammenhänge schneller zu durchdringen. Dazu sind auch keine teuren Materialien von Nöten. Für die rhythmische Umsetzung eignen sich etwa Klangstäbe, Bleistifte oder auch der eigene Körper, wie zum Beispiel die Hände zum Klopfen oder Klatschen. Die enge Verknüpfung von Tanz und Musik bietet das Potential, Bewegungsspiele zur Einführung des Alphabets mit diesen Elementen umzusetzen (vgl. ebd.: 9).
Unterschiedliche Lerntypen
Mittels eines varianten- und methodenreichen Unterrichts kann jedes Kind seinen individuellen Lerntyp ausleben, da oft nicht alle Sinneskanäle gleichsam angeregt werden.
Der auditive Lerner kann sich die gehörte Information am besten behalten und diese später abrufen. Außerdem fällt es diesem leicht, mündlichen Erklärungen zuzuhören. Als Lernhilfen eignen sich Vorträge, Gespräche, eine ruhige Umgebung oder auch Musik (vgl. ebd.).
Am einfachsten fällt es dem visuellen Lerner durch optische Veranschaulichungen die Inhalte zu verinnerlichen, wenn er diese beispielsweise durchliest. Skizzen, Bücher, Poster, Bilder sowie Videos stellen Lernhilfen dar (vgl. ebd.).
Am besten lernt der kommunikative Lerner über die sprachliche Konfrontation mit dem Lernstoff oder über Gespräche. Für diesen Lerntyp ist es relevant, Inhalte mit anderen zu diskutieren. Folglich markieren Diskussionen, Spiele, Lerngruppen sowie Dialoge Lernhilfen (vgl. ebd.).
Dem motorischen Lerntyp fällt es am leichtesten, wenn er Handlungen selbstständig durchführen kann (vgl. ebd.). Hierbei ist auch vom „Learning by doing“ (ebd.) die Rede. Rollenspiele, Gruppen- und Bewegungsaktivitäten fungieren als Lernhilfen (vgl. ebd.).
Trainingszirkel im Team
Der Trainingszirkel repräsentiert eine effektive Möglichkeit, um die Bewegungsübungen in den Förderunterricht zu integrieren. Dazu erhalten alle Lernenden zu Beginn eine Farbkarte, welche ihnen über den gesamten Zirkel erhalten bleibt. Jede Lehrkraft bereitet sich auf eine Unterrichtsstunde vor, welche sich ebenfalls nicht verändert (vgl. ebd.: 10).
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Tabelle 2: Trainingszirkel im Team (ebd.)
Nach diesem Schema werden die Übungsgruppen durchrotiert. Ein Vorteil dabei besteht darin, dass die Lernenden bereits nach vier Unterrichtsstunden ohne großen Vorbereitungsaufwand für die Lehrkräfte eine Vielfalt an Bewegungsübungen durchführten (vgl. ebd.).
Brain-Gym
Insbesondere zwei Ursachen stehen dem Einsatz von mehr Bewegungsaktivitäten weltweit im Weg (vgl. Hannaford; 2016: 149):
1. „Das tief in unserer Gesellschaft verwurzelte Vorurteil, dass Körper und Geist voneinander getrennt seien und dass kein Zusammenhang zwischen Bewegung und Intellekt bestehe.
2. Die Vorstellung, dass einfache körperliche Übungen, die nur wenig Zeit beanspruchen und für die man keine Geräte braucht, einfach nichts nützen können“ (ebd.)
Um auf einfache Art und Weise für mehr Bewegung zu sorgen und dabei auch noch die Motorik sowie kognitive Leistungen auszuprägen, eignen sich verschiedene Übungen des sogenannten Bewegungskonzepts „Brain-Gym“. Im Folgenden sollen drei davon kurz vorgestellt werden.
Übung: Die liegende Acht für das Schreiben
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Abbildung 1: Übung Liegende Acht für das Schreiben ( Hannaford; 2016: 164)
Diese Übung wird mithilfe von Bleistift und Papier umgesetzt. Sie soll insbesondere die schriftliche Kommunikation ausbilden (vgl. ebd.: 164). Durch diese Übungsform wird der für eine sichere Hand-Augen-Koordination benötigte Rhythmus verinnerlicht. Die liegende Acht funktioniert in der Weise, dass in einer fließenden Bewegung eine waagerecht liegende Acht, was auch unter dem Unendlichkeitszeichen geläufig ist, auf ein Blatt Papier gezeichnet wird. Das X, was ebenfalls aufgemalt wird, liegt bestenfalls auf der Mittellinie des Zeichners. Die Zeichnung fängt in der Mitte an und wird zunächst gegen den Uhrzeigersinn angefertigt (vgl. ebd.). „Nach oben und rund herum wieder zur Mitte; dann im Uhrzeigersinn: nach (rechts) oben, rund herum und zurück zur Mitte“ (ebd.). Es ist enorm relevant, dass sich der Beginn nach oben erstreckt. Diese Figur ist mindestens fünfmal in fließenden Bewegungen zu zeichnen, zuerst einzeln mit jeder Hand und später dann mit beiden gemeinsam. Es ist auch ratsam, diese Figur zunächst groß aufzumalen, wobei sie sich immer noch innerhalb des Sehfeldes befinden sollte. Als Resultat dieser Übungen werden die großen Muskeln aktiviert und die taktile Wahrnehmung wird gefördert. Insbesondere für ErstklässlerInnen ist es empfehlenswert, das X erst einmal mit der ganzen Hand auf Sand, Stofftapeten oder Teppichstücken, aber nicht mit Stiften, aufzumalen (vgl. ebd.). Dadurch findet eine Stimulation der sensorischen und motorischen Gehirnbereiche für beide Hände statt (vgl. ebd.: 164f). In der Konsequenz entspannt sich die Hand-, Schulter- und Armmuskulatur und die Augenfolgebewegungen werden ausgeprägter (vgl. ebd.: 165). Damit die Kinder diesen Lernprozess intensiv wahrnehmen, ist es empfehlenswert, ihnen im Voraus eine konkrete Aufgabenstellung mit auf den Weg zu geben. Beispielsweise: Ihr sollt nun einen kleinen Text schreiben. Achtet ganz bewusst einmal darauf, wie ihr den Stift haltet, wenn ihr mit dem Schreiben anfangt. Wisst ihr dann schon genau, was ihr aufschreiben wollt? Oder fällt euch das zunächst noch schwer? Malt die Liegende Acht auf eine gesamte DIN-A4-Seite. Im Anschluss notiert ihr wieder ein paar Sätze und nehmt wahr, wie ihr den Stift haltet, wie viel Mühe ihr mit dem Schreiben habt und ob ihr nun flüssiger schreibt. Vergleicht euer Schriftbild vor und nach der Übung: Wurden eure Bewegungen gleichmäßiger (vgl. ebd.)?
Die Neurophysiologin Dr. Carla Hannaford empfindet diese Übung bei auftretenden Schreibblockaden als sehr hilfreich. Diese Ansicht teilen auch StudentInnen und SchülerInnen. Diese greifen darauf in Stresssituationen wie etwa Prüfungen zurück. In der Folge ist es ihnen wieder leichter möglich, Antworten zu finden. Auch beim Zeichnen, Malen und Musizieren erweist sich diese Übung als wirksam. So erhielt ein bekannter Künstler in Südafrika die Aufgabe, eine anwesende Person in zehn Minuten zu malen. Im Anschluss sollte er ein paar Liegende Achten ausführen und daraufhin noch eine Person zeichnen. Es zeigte sich der überraschende Unterschied, dass der Künstler nach maximal zwei Minuten mit der Liegenden Acht das zweite Portrait viel besser und mit größerer Ausdruckskraft erstellen konnte (vgl. ebd.).
Die liegende Acht für die Augen
Die liegende Acht für die Augen funktioniert ähnlich der Liegenden Acht für das Schreiben, mit dem einzigen Unterschied, dass hierbei die Augenbewegungen und die Weiterentwicklung der Augen-Hand- und Hand-Augen-Koordination im Mittelpunkt stehen. Folgendermaßen wird die Übung ausgeführt: Die Augen werden vom sich bewegenden Daumen geführt, welcher das Unendlichkeitszeichen im Sichtfeld aufmalt. Dazu wird jeweils ein Daumen in Augenhöhe im Körpermittelfeld, ungefähr eine Ellbogenlänge von den Augen entfernt, positioniert. Die Bewegungsausführung sollte bewusst und langsam erfolgen, damit die Muskelgruppen optimal stimuliert werden (vgl. ebd.). Der Kopf befindet sich in entspannter Position, es bewegen sich nur die Augen, welche der Daumenbewegung folgen (vgl. ebd.: 165f). Mit dieser Übung werden erwiesenermaßen die äußeren Augenmuskeln gestärkt und auch die Bildung von Netzwerken. Weiter wird dabei auf Lernschemata zurückgegriffen, welche der Koordination der Augen-Hand- und Hand-Augen-Muskelabstimmung förderlich sind (vgl. ebd.: 166). Mithilfe der Liegenden Acht für die Augen können sich diese entspannen (vgl. ebd.: 167).
Eine angenehme Variation offeriert die Rückenmassage mit der Acht. Diese wirkt sich nicht nur positiv auf Augenabstimmung und Schreibprozess aus, sondern sie ruft auch die Produktion von Oxytocin sowie des Nervenwachstumsfaktors hervor, die sich beide förderlich für Aufmerksamkeit, Ruhe und Lernen zeichnen. Im Klassenraum sitzt ein Lernender am Tisch, der Kopf ist auf die Arme gestützt. Ein anderes Kind malt diesem nun Liegende Achten auf den Rücken. Der „Zeichner“ sollte die Bewegung seiner Hände bewusst mit den Augen nachverfolgen. Dadurch werden die sensorischen und motorischen Bereiche aktiviert (vgl. ebd.). Im Anschluss erfolgt ein Aufgabenwechsel (vgl. ebd.: 167f). Sofern diese Übung jeden Tag mindestens einmal für wenige Minuten ausgeführt wird, zieht sie positive Effekte für Ruhe, Lernen, Konzentration und Sicherheit mit sich (vgl. 168).
Der Elefant
Der Elefant zählt zu den Brain-Gym-Übungen, welche am meisten zur Integration verhelfen. Dazu befindet sich das linke Ohr auf der linken Schulter (vgl. ebd.). Dann wird der „linke Arm wie ein Rüssel ausgestreckt“ (ebd.). Die Knie sind entspannt, mit dem Arm wird eine Liegende Acht im Körpermittelfeld aufgemalt. Dabei markiert die Mitte erneut den Ausgangspunkt, von dort geht die Bewegung nach außen über. Die Augen fixieren die Fingerspitzenbewegung. Für eine hohe Effektivität sollte die Übung drei-bis fünfmal auf der linken Seite sowie ebenso häufig mit dem rechten Ohr auf der rechten Schulter durchgeführt werden. Dadurch werden alle Segmente des Körper-Geist-Systems gleichmäßig angeregt (vgl. ebd.). Bei einer regelmäßigen Durchführung wird das gesamte vestibuläre System aktiviert und es werden neuronale Verbindungen wiederhergestellt, welche unter anderem durch chronische Ohrinfekte in Mitleidenschaft gezogen wurden. Für Lernende mit Konzentrationsstörungen ist diese Übung ebenfalls hilfreich, da sie damit ihre Aufmerksamkeit erhöhen (vgl. ebd.: 169).
Mithilfe solcher Brain-Gym-Übungen werden Veränderungen in der Physiologie der Hirnfunktionen hervorgerufen. Aufgrund der Tatsache, dass durch diese Bewegungen neuronale Netzwerke im Gehirn simultan in den beiden Hemisphären stimuliert werden, wird ein bedeutsamer Beitrag für das lebenslange Lernen geleistet (vgl. ebd.). Eine weitere positive Auswirkung markiert die Stressreduktion und somit eine Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden (vgl. ebd.: 170). Daher sollten Schulen diese einfachen Übungen in den Unterrichtsalltag integrieren, etwa als Bewegungspausen. Hannaford konnte belegen, dass sich die Lernleistungen bei allen ProbandInnen verbesserten. Die größten Fortschritte mit dem Einsatz von Brain-Gym konnten bei Kindern erzielt werden, welche Störungen oder Schwächen wie unter anderem ADHS, Lernbehinderungen, emotionale Störungen, Dyslexie, Autismus oder auch das Down-Syndrom aufwiesen. Ein markanter Vorteil dieser Übungen zeigt sich auch darin, dass für diese Übungen auch bei DefizitlernerInnen keine Medikamente oder zusätzlichen Materialien benötigt werden. Dadurch wird eine Feinabstimmung des Körper-Geist-Systems sowie eine emotionale Ausgeglichenheit impliziert, wodurch auch mehr Begeisterung und Verständnis Einhalt geboten wird (vgl. ebd.: 172).
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass vor allem die lernerschließende Funktion der Bewegung die SchülerInnen dabei unterstützt, die Inhalte besser zu durchdringen (vgl. Beckmann; 2013: 53). Daher sollte diese bei der Planung der Unterrichtseinheiten besondere Berücksichtigung erfahren.
Ergebnisdarstellung kindlicher Schulleistungen
Oftmals äußern Lehrkräfte die Bedenken, den Lehrplan nicht vollständig umsetzen zu können, wenn sie zusätzliche Bewegung in den Unterricht integrieren müssen. Folglich befasste sich die Forschung mit der Frage, ob der Anteil des kognitiven Lernens durch die Integration von Bewegung abnimmt. Schon 1984 konnte Wasmund-Bodenstedt dies nicht bestätigen. Joswig zeigte Interdependenzen zwischen geistiger und motorischer Leistungsfähigkeit auf. Die Ergebnisse stützten sich auf die Schulleistung der Kinder sowie die Einstellung der Lehrkräfte zum schulischen Erfolg ihrer SchülerInnen. Dazu durchliefen die Kinder allgemeine Schulleistungstests für die Klassen zwei bis vier. Auf der anderen Seite wurden die LehrerInnen schriftlich mithilfe eines Klassen- und SchülerInnenprofils sowie mündlich befragt (vgl. Müller/Petzold; 2002: 88).
Die folgenden Fragestellungen markierten die Basis der Erhebung im Zusammenhang mit dem Konzept der „Bewegten Grundschule“:
- Unterscheiden sich die Versuchs- und Kontrollschulen in Bezug auf die Schulleistung zu den einzelnen Messzeitpunkten (Klassen 2, 3, 4)?
- Bestehen durch das Geschlecht begründete Unterschiede generell und in den einzelnen Untersuchungsgruppen?
- Bestehen Zusammenhänge zwischen den Ergebnissen der Untertests zur Schulleistung und weiteren untersuchten Merkmalen (ebd.)?
Für die Analyse der schulischen Leistungen wurden die allgemeinen Schulleistungstests (AST) 2-4 eingesetzt, im Fach Deutsch mit den Untertests zu Wortschatz, Rechtschreibung und Leseverständnis sowie im AST 3 zum Sprachverständnis. Diese wurden von einer geschulten Mitarbeiterin in jeder Klasse als Gruppentest eingesetzt, unterstützt durch eine helfende Lehrperson. Von April bis Juni, also in den letzten drei Monaten des Schuljahres, wurde dies mit 149 VersuchsschülerInnen sowie 81 KontrollschülerInnen durchgeführt (vgl. ebd.: 89).
Im Fach Deutsch konnten bezüglich der Leistungen keine signifikanten Differenzen zwischen der Kontroll- und der Versuchsgruppe festgestellt werden. Ebenso wenig wurden Unterschiede zwischen den Geschlechtern vorgefunden (vgl. ebd.: 91).
Aus der mündlichen Befragung der Lehrkräfte geht hervor, dass wohl motorisch stärkere SchülerInnen in Bezug auf den schulischen Erfolg einen größeren Mehrwert aus dem Entwurf der bewegten Schule ziehen als motorisch schwächere (vgl. ebd.: 93). Ein auffälliges Ergebnis besteht darin, dass die sprachorientierten Verfahren im Fach Deutsch statistisch signifikante Auswirkungen auf die Leistungen in Sachunterricht sowie Mathematik besitzen. Zahlenmäßig wird dies etwa dadurch repräsentiert, dass durch die Gesamtleistung in Deutsch mehr als 40 Prozent der Varianz des Sachunterrichts sowie des Zahlenrechnens aufgeklärt wird. Werden jedoch noch andere Korrelationen zurate gezogen, so könnte dies auch der Tatsache geschuldet sein, dass die leistungsstarken SchülerInnen häufig auch in allen Fächern gute bis sehr gute Lernleistungen aufweisen (vgl. ebd.: 94). Abschließend lässt sich resümieren, dass die anfangs vorgestellten Bedenken sich als falsch erwiesen haben und zusätzliche Bewegung keinen Zeitverlust für das kognitive Lernen impliziert, da in diesem Projekt zumeist ähnliche Leistungen wie in den Kontrollschulen erzielt wurden (vgl. ebd.).
Ein Teil der Eltern (am Ende ungefähr ein Drittel) wurde mithilfe des Konzepts zum Reflektieren über die Freizeitgestaltung sowie über die Bewegungsgewohnheiten animiert. 61,1 Prozent bekamen insbesondere durch Elternbriefe inhaltliche Ideen. Neben diesen positiven Befunden bleibt es aber kritisch zu bewerten, dass das Auffordern zu selbstständiger Bewegung sich als noch komplexer darstellt als die Datenerhebung bezüglich der Relevanz für die kindliche Entwicklung (vgl. ebd.: 193). Anhand ausgewerteter Wochenprotokolle ließ sich aufzeigen, dass pro Unterrichtstag die durchschnittliche Bewegungszeit zwischen 25 und 29 Minuten darstellte. Dies macht pro Unterrichtsstunde einen Anteil von circa sieben Minuten aus. Deutlich und auch empirisch fundiert höhere Bewegungszeiten werden durch bewegtes Lernen ermöglicht, worauf im Verlauf dieser Arbeit noch genauer eingegangen wird. Das legt die These nahe, wonach die Lehrkräfte in dieser Realisationsform die bestmögliche Verknüpfung von kognitivem Lernen mit Bewegung sehen (vgl. ebd.: 221).
Exekutive Funktionen
Der Terminus „exekutive Funktionen“ stammt aus der englischen Neuropsychologie und repräsentiert unterschiedliche kognitive Kontrollinstanzen des präfrontalen Cortex. Darunter werden komplexe mentale Abläufe aufgefasst, welche weitestgehend vom Teil des Frontallappens der Großhirnrinde ausgehen. Diesen Funktionen wird eine höhere Wirksamkeit zuteil als dem Intelligenzquotienten (IQ), da dieser nur Aussagen zum derzeitigen Lernentwicklungsstand zulässt. Belegen konnte die Forschung, dass reichlich vorhandene exekutive Funktionen einen Faktor für den schulischen Erfolg darstellen, da die Lernenden dadurch eigentätiger, zuverlässiger sowie gründlicher agieren. Moffit et al. konnten 2011 in einer Längsschnittstudie aufzeigen, dass eine Ausdifferenzierung der exekutiven Funktionen sich auch günstig auf das soziale Milieu, die Gesundheit und den Wohlstand auswirkt (vgl. Schramm; Wieden; 2019: 9).
Eine Störung der exekutiven Kontrolle lässt sich nicht diagnostizieren. Nichtsdestotrotz existieren Lernstörungen, wie die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die allgemeine Lernschwäche oder auch die sogenannten Underachiever, welche mit Lücken in der Handlungsregulation sowie der Selbststeuerung verbunden sind. Auch Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Störung besitzen in diesem Kontext häufig Defizite (vgl. ebd.). Hier treten Schwierigkeiten in Bezug auf kurzfristige Speicherungen auf und das Gehirn agiert nicht sehr flexibel (vgl. ebd.: 9f).
Exekutive Funktionen mit den vorliegenden Spielideen fördern
Zwar sind exekutive Funktionen mithilfe von kognitiven Übungen verbesserbar, dazu ist aber ein stetiger Einsatz notwendig. Die Forschung konnte stattdessen eruieren, dass sich die Kombination exekutiver Funktionen mit Bewegung effektiver darstellt. Bei der Auswahl und Durchführung der Bewegungsspiele ist zu beachten, dass die Kinder nicht ihre Aufmerksamkeit dafür aufwenden müssen, die Bewegungen korrekt auszuführen. Somit besitzt die Bewegung in diesem Kontext eine Stützfunktion und keinen Selbstzweck. Schließlich wird es in der Unterrichtspraxis oftmals ersichtlich, dass die Lernenden, welche Defizite bezüglich der exekutiven Funktionen besitzen, bereits eine große kognitive Kapazität dafür aufbringen müssen, um die Spielregeln zu befolgen. Dementsprechend ist es relevant, den Kindern von Anfang an deutlich zu signalisieren, dass Unterrichtsstörungen Sanktionen wie beispielweise Strafpunkte zur Folge haben. Exekutive Funktionen können im Bereich des Arbeitsgedächtnisses in der Form gefestigt werden, dass die Spielregeln beibehalten sowie mögliche Lösungen vorgestellt und verglichen werden (vgl. ebd.: 12).
Die Inhibition, das heißt die Fähigkeit, einem spontanen Reiz zu widerstehen, kann bereits in Erklärungsphasen trainiert werden, wenn den SchülerInnen etwa die Spielregeln demonstriert werden (vgl. ebd.: 10, 12). Außerdem, indem Zwischenrufe unterdrückt werden und die Kinder abwarten müssen, bis sie am Zug sind (vgl. ebd.: 12). Das Feld der kognitiven Flexibilität wird etwa beim Wechsel von einer bestehenden Aufgabe zu einer anderen angeregt, darin ist auch das Wechseln der Arbeitsformen eingeschlossen. Des Weiteren stellt die Perspektiveneinnahme ebenso wie die Selbstkorrektur eine relevante Übungsvariante dar. Auch wenn die Ausprägung des präfrontalen Cortex bis in das Erwachsenenalter hinein andauert, so können mithilfe von Übungsformen stetige Akzente gesetzt werden und somit erwünschte Verhaltensweisen hervorgerufen werden (vgl. ebd.).
Automatisierungen bei der Rechtschreibung in Bewegung fördern
Für die Segmentierung der Silben und Laute benötigen die Lernenden eine ausgeprägte phonologische Bewusstheit, daneben ist aber mit dem Alter zunehmend auch die Anwendung von Rechtschreibstrategien bedeutsam. Werden diese immer mehr automatisch verwendet, so reduziert sich gleichzeitig der kognitive Aufwand, was sich wiederum vorteilhaft auf die inhaltliche Arbeit, etwa an einem Text, auswirkt. Dies lässt sich sinnvoll durch Bewegung unterstützen, insbesondere bei den Rechtschreibstrategien Verlängern und Ableiten. Selbiges gilt auch für das Merkwörtertraining. Ein Lesetraining in Bewegung erweist sich als wenig sinnvoll, da für die erforderliche selektive Aufmerksamkeit gleichzeitig körperliche Ruhe benötigt wird. Eine Möglichkeit besteht jedoch darin, die Bewegung als motivationalen Stützfaktor zu integrieren, zum Beispiel, wenn sich die SchülerInnen durch das Klassenzimmer bewegen und dabei Wortkarten erlesen und ordnen. Denn oftmals ist das sitzende Lesen am Tisch mit negativen Assoziationen konnotiert, insbesondere bei schwachen LeserInnen. Auch dann sollte das Lesen spielerisch trainiert werden, dabei erhöhen verschiedene Arbeitsformen die Attraktivität zusätzlich (vgl. ebd.: 13).
4 Sprachtherapeutischer Förderungsansatz: Kontextoptimierung
Einführung ins Therapiekonzept
Aufgrund der Tatsache, dass die Förderung grammatischer Kompetenzen häufig als Herausforderung angesehen wird, welche im Unterrichtsalltag zudem als schwierig umsetzbar gilt, rief Hans-Joachim Motsch das Konzept der „Kontextoptimierung“ ins Leben. Damit sollten spracherwerbsgestörte Kinder Unterstützung bei der Ausprägung grammatischer Fähigkeiten erhalten (vgl. Berg; 2008: 29). Die Forschung zeigte auf, dass nicht alle Lernenden immer gleichermaßen von den Therapiesequenzen profitieren. Zu den erfolgsversprechenden Faktoren gehören demnach der individuelle momentane Entwicklungsstand sowie der Spracherwerbsstil und die intendierte grammatische Zielstruktur (vgl. Motsch; 2002: 91 zit. n. ebd.). Ein Vorzug dieses Konzeptes besteht darin, dass keine Festlegung auf ein Vorgehen mehr vorzunehmen ist, sondern dass eine Synthese verschiedener Ideen, auf Grundlage von Adaption und Modifizierungen erfolgt. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, jedes Kind bestmöglich im grammatischen Lernprozess zu unterstützen. Zum besseren Verständnis werden die zwei Therapiekonzepte „Pattern Practice“ und der „entwicklungsproximale Ansatz“ gegenübergestellt (vgl. Berg; 2008: 29).
Gegenüberstellung mit dem Pattern Practice
Den ältesten Ansatz in der Grammatikförderung stellt das „Pattern Practice“ mit seinen klassischen Satzmusterübungen dar. Dabei fokussiert dieses Konzept - unter Bezugnahme auf die Vorstellung, dass hohe Wiederholungszahlen hilfreich sind - die Sprachproduktion des Kindes. Nach linguistischen Untersuchungsergebnissen ist dies jedoch nicht korrekt. Nichtsdestotrotz generieren einige Kinder auch einen Mehrwert mit dieser Therapie. Die Kontextoptimierung greift daher auf dieses Konzept für die grammatische Förderung zurück, wobei allerdings grundlegende Anpassungen erfolgten. Während das Pattern Practice aufgrund der Komplexität der eingesetzten Satzmuster die Kinder oftmals in ihrer Sprachkapazität überfordert und das grammatische Lernziel nicht genug im Mittelpunkt steht, integriert das Konzept von Motsch Zielstruktur-Pattern, welche oft durch Ellipsen beschrieben werden anstatt dieser geläufigen Satzmuster. Dies bringt den Vorteil mit sich, dass die kognitiven Ressourcen des Kindes entlastet werden und auch die Intention der Förderung deutlicher in den Blickpunkt gerät. Ein Beispiel für diese Integration markiert ein Bauernhofspiel im Kontext der Akkusativ-Förderung, in welcher der achtjährige Bastian seiner Therapeutin Aufgaben zuweist (vgl. ebd.: 30):
Therapeutin: „ Wen soll ich denn in den Stall bringen?“
Bastian: „ Den Esel“ (ebd.: 30)
Den Materialien des Pattern Practice liegt nur selten eine Orientierung an den gewohnten Grammatikerwerbsschritten zugrunde. Dadurch begründet sich die Festlegung der Ziele mit einer Attraktivität der Spiele anstelle linguistischer Gedankenzüge (vgl. ebd.). Hier bietet die Kontextoptimierung die Chance, dass sie den Stufen des Grammatikerwerbs folgt. Dazu ist es jedoch notwendig, stets über den momentanen kindlichen Spracherwerbsstand im Bild zu sein und erst in der Konsequenz das passende Therapieziel festzulegen. Eine weitere Barriere im Pattern Practice markieren die fiktiven Kommunikationssettings, welche offensichtlich der Übernahme der erlernten Strukturen in die Spontansprache im Weg stehen. Dagegen offeriert die Kontextoptimierung einen angemessenen Rahmen, um die Zielstruktur sinnvoll in Kommunikationssituationen zu integrieren und dabei gleichzeitig auch ihre Funktion wahrzunehmen. Dabei wird auch auf das Prinzip der zwingend erforderlichen Kommentierung zurückgegriffen. Eine weitere Differenz repräsentiert die Tatsache, dass beim Pattern Practice nur vereinzelte lexikalische Bestandteile abgeändert werden und die Satzmusterstruktur gleichbleibt. Auf der anderen Seite setzt Motsch gezielt auf Gegensätze, wodurch die Lernenden erst Regeln entdecken können. Dies ist etwa beim Prinzip der Subjekt-Verb-Kongruenz der Fall (vgl. ebd.: 31)
Gegenüberstellung mit dem entwicklungsproximalen Ansatz
Dannenbauer (1999) hatte entscheidenden Anteil an der Entwicklung des entwicklungsproximalen Ansatzes. Dieser repräsentiert den Fakt, dass Kinder nicht durch Nachahmung zur Grammatik gelangen, sondern durch die Exploration der grammatischen Regularitäten in der Sprache, welche sie in der Umwelt wahrnehmen. Dies ist sowohl pädagogisch wie auch linguistisch fundiert. In Anlehnung an die Stufen des Grammatikerwerbs erfolgt die Auswahl der grammatischen Zielstrukturen, welche dann jeweils individuell auf das Kind zugeschnitten werden. Folglich besitzt das Sprachmodell der Therapeutin und somit die rezeptive Ebene eine besondere Relevanz. Es geht um das Möglichmachen von Explorationen in der Grammatik mithilfe von Modellierungstechniken (vgl. ebd.). Die kindlichen Äußerungen sowie die Zielstruktur können dabei in Form des korrektiven Feedbacks, Extensionen, Expansionen oder auch Umformulierungen auftreten. Motsch greift in seinem Konzept folglich viele Prinzipien dieses Ansatzes auf. So wird auch die Relevanz von Motivations- und Beziehungsebene berücksichtigt. Bei beiden Konzepten soll die Sprache als sinnvoll wahrgenommen und daher auch in Kommunikationssituationen eingesetzt werden. Als Ergänzung erfolgt bei der Kontextoptimierung auch ab und an das Einfügen von Abschnitten, in welchen die Zielstruktur das Mittel des Gesprächs und Nachdenkens darstellt. Daher lässt sich ein Wechsel von unbewusstem sowie bewusstem Umgang mit sprachlichen Formen konstatieren. Aufgrund der Tatsache, dass das entwicklungsproximale Vorgehen auch die kindliche Sprachproduktion integriert, ist dieser Ansatz nicht nur auf die Rezeptionsebene begrenzt. Im Unterschied dazu wird beim kontextorientierten Ansatz nicht so viel dem Zufall überlassen, sondern es wird bereits zu Beginn gezielt eine Erzeugung der Zielstruktur beim Kind intendiert. Aufgrund dessen vollzieht sich hier auch eine vermehrte Kombination der reflexiven, rezeptiven sowie produktiven Phase. Der Fokus richtet sich bei der Kontextoptimierung auf die Vermeidung von sprachlicher Verwirrung und Ablenkung, da dies wieder für eine kognitive kindliche Überforderung sorgen würde (vgl. ebd.: 32). Ein wesentlicher Unterschied wird zudem dadurch beschrieben, dass die Kontextoptimierung auf die Gründe für grammatische Störungen eingeht, was von enormer Bedeutsamkeit für diesen Ansatz ist (vgl. ebd.: 33).
Prinzipien der Kontextoptimierung
Da sprachunbewusste wie sprachbewusste Vorgehensweisen eingesetzt werden, wird bereits ein markantes Charakteristikum dieses Ansatzes ersichtlich, nämlich der Modalitätenwechsel (vgl. ebd.: 34). Aufgrund der wechselseitigen Kombination von produktiver, rezeptiver sowie reflexiver Ebene „wird Sprache sowohl zum Gegenstand des Nachdenkens und des bewussten Handelns gemacht als auch in hohem Maße als Mittel der Kommunikation genutzt und erprobt“ (ebd.)
Insgesamt besteht dieser Ansatz aus drei wichtigen Säulen: Dem Modalitätenwechsel, der Ursachen- sowie der Ressourcenorientierung (vgl. ebd.).
Häufig ist es für spracherwerbsgestörte Kinder herausfordernd, sich auf formale Kennzeichen der Sprache zu fokussieren. Dementsprechend besteht der Auftrag der Sprachtherapie darin, dem Kind die Handlungsräume einzugestehen, um trotz dieser Hindernisse grammatische Regularitäten eruieren zu können (vgl. ebd.). Zur besseren Strukturierung und als Unterstützung zur Umsetzung gibt es verschiedene Grundregeln. So sollte dem Kind, in Hinblick auf die Sensibilisierung für bedeutsame morphologische Veränderungen, Hilfe geleistet werden (vgl. ebd.: 35). Daneben sollte auch die kürzestmögliche Zielstruktur Verwendung finden, wozu bereits Sätze, die aus Ellipsen bestehen, ausreichen. Denn dadurch wird das phonologische Arbeitsgedächtnis entlastet und eine Ablenkung vermieden (vgl. ebd.: 35f). Als ungünstig für den Spracherwerb erweisen sich eine Reizüberflutung in der Therapiedurchführung sowie zu komplizierte Regeln in den Materialien. In der Unterrichtspraxis selbst markiert die Einführung mehrerer neuer Inhalte in einer Stunde eine Ablenkung. Neben diesen situationsbedingten Ablenkungsfaktoren existieren auch noch solche, welche aus dem sprachlichen Anforderungsniveau resultieren. So sollten morpho-syntaktische Konstruktionen umgangen werden, sofern sie nicht das Therapieziel darstellen (vgl. ebd.: 36). Wenn das Kind etwa die Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz explorieren soll, so sollte nicht der Satz „Ich fahre mit dem Auto“ (ebd.: 36) eingesetzt werden, da hierbei auch der Dativ, welcher jedoch erst später erworben wird, auftritt und sich das Kind daher nicht nur auf die Verbzweitstellung fokussieren kann. Besser wäre das Schema „Ich fahre los. – Da vorne bremse ich. (ebd.)“ Weiter repräsentiert auch zu herausforderndes Wortmaterial eine Beeinträchtigung. Sofern phonetisch-phonologische Beeinträchtigungen bestehen, stellen auch diese eine Ablenkung vom grammatischen Ziel dar, daher ist stets auch das Charakteristikum der Aussprache auf einfacher Stufe zu halten (vgl. ebd.). Aufgrund dieser Erkenntnisse steht beim kontextorientierten Vorgehen die jeweils verfolgte Zielstruktur im Mittelpunkt (vgl. ebd.: 37).
Auch eine professionelle Sprechweise ist für spracherwerbsgestörte LernerInnen von Nöten. Dies stellt gleichzeitig die Anforderung an die Lehrkraft, ein korrektes Sprachvorbild zu sein (vgl. ebd.).
Das dritte Charakteristikum der Kontextoptimierung, die Ressourcenorientierung, setzt sich aus den Ressourcen der Reflexion über Sprache, der Integration kindlicher Neigung sowie individueller Stärken, wie dem Einsetzen von Schrift, zusammen, welche auch gewöhnlich den Unterrichtsalltag ausmachen. In diesem Bereich werden also gezielt Konzepte aufgegriffen, welche so nicht bei einem normalen kindlichen Sprachentwicklungsverlauf Verwendung finden würden. Dabei ist es stets bedeutsam, die Sprachförderung in einen motivierenden Rahmen einzubetten. Dadurch wird eine doppelte Entlastung erreicht, indem einerseits die Konzentration des Kindes nicht ständig auf neue Themen gelenkt werden muss, was wiederum eine Ablenkung darstellen würde und andererseits kann die Lehrkraft auch zielgerichteter Materialien auswählen und sinnvoll variieren (vgl. ebd.: 38). Auch Rituale erzeugen Sicherheit und Vertrautheit im Umgang mit dem eigenen Sprachverhalten (vgl. ebd.: 39).
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