Der Naturbegriff im klassischen griechischen Denken

Platon und Aristoteles


Hausarbeit, 2009

42 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

Einführung

1. Entstehung einer neuen Denkform

2. Naturbegriff in der neuen Denkform

3. Naturbegriff bei Platon

4. Naturbegriff bei Aristoteles

5. Vergleich: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Schlussfolgerung: Warum ist es wichtig den griechischen Naturbegriff zu verstehen?

Beantwortung der Fragen:

(1) In Griechenland entsteht eine neue Denkform – nämlich die Theorie, d.h. eine Frage nach der Erklärung (nach dem Ursprung und Gründen) und ein allgemeiner Erklärungsversuch.

(2) Bei Platon gelangt der griechische Geist durch eine Anwendung des geometrisch-mathematischen Paradigmas zur Metaphysik in der Form der Ideenlehre. Die Naturphilosophie wird dadurch spezifisch, dass sie erst von der Ideenlehre abgeleitet wird. Bei Aristoteles gelangt der griechische Geist von der Betrachtung der menschlichen Erfahrung zum poietischen Naturbegriff zum Substanzbegriff und zur Vorstellung eines Unbewegten Bewegers, der als erste Ursache aller Bewegung notwendig ist. Substanz und Theion im Sinne des Unbewegten Bewegers sind dann Themen der reinen Metaphysik (bzw. der Ersten Philosophie und Theologie).

(3) Unser Denken ist im tiefsten Inneren immer noch ein griechisches Denken. (Allgemein) Auch wir verlangen eine rationale Erklärung, fragen uns nach den Gründen und Ursachen, wenden das Konstruktions- und Rekonstruktionsmodell an. (Im Einzelnen) Unser Naturbegriff ist im Kern ein Naturbegriff des klassischen Griechenlands (ein platonisch-aristotelischer Naturbegriff).

Literaturverzeichnis

Einführung

In Griechenland ist eine ganz neue Denkform und Denkweise entstanden. Vom griechischen Denken fühlt man sich immer wieder angezogen, weil dieses einen Anfang der Rationalität bzw. Vernunft darstellt – einen Anfang dessen, worin wir uns heute stets befinden. Das interessanteste am griechischen Denken ist, dass es unser eigenes Denken ist. Es ist für uns unmöglich, das griechische Denken von Außen zu betrachten und zu rekonstruieren. Wenn wir das griechische Denken rekonstruieren, machen wir dies schon innerhalb dieses Denkens. Die Rekonstruktion ist somit im tiefsten Sinne ein Teil dieses Denkens. In einer solchen Forschung rekonstruiert das Rekonstruierende sich selbst. Dessen muss man sich bewusst werden, weil man erst dann versteht, dass die Geschichte der griechischen Philosophie im eigentlichen und ursprünglichen Sinne eine Selbstforschung der Philosophie (bzw. der Rationalität an sich) ist. Nur eine solche Sichtweise ermöglicht uns einen komplexen Blick auf die griechische Philosophie und macht eine Forschung des griechischen Denkens zu einer gleichzeitig systematischen.

In dieser Arbeit möchte ich mich näher mit dem Naturbegriff im klassischen griechischen Denken (d.h. mit fýzis-Begriff bei Platon und Aristoteles) auseinandersetzen. Im Zusammenhang mit diesem Begriff kommt die spezifisch griechische Denkform deutlich zum Ausdruck. Eine nähere Untersuchung dieses Begriffes wird uns abschließend ermöglichen, drei allgemeinere systematische Fragen zu beantworten: (1) Entsteht in Griechenland tatsächlich eine neue Denkform und in welcher Hinsicht ist das griechische Denken neu? (2) Wie gelangt der griechische Geist durch die Entdeckung dieser Denkweise zu rein metaphysischen Fragen? Und (3) ist unser Denken im Kern tatsächlich immer noch ein griechisches Denken? Diese Fragen stehen im Hintergrund dieser Arbeit und bilden den roten Faden. Eine direkte und explizite Antwort werde ich in der Schlussfolgerung anhand der vorangegangenen Analysen formulieren.

1. Entstehung einer neuen Denkform

Bevor wir uns direkt mit dem Naturbegriff in Griechenland beschäftigen, müssen wir verstehen, wie die Griechen im Allgemeinen Begriffe hervorgebracht und verwendet haben: Wie haben die Griechen allgemein gedacht und in welcher Hinsicht hat diese Denkweise etwas Neues dargestellt?

In Griechenland entsteht ungefähr 700 v. Ch. wie aus dem Nichts eine Denkform, die sich bei keiner früheren Kultur nachweisen lässt[1], eine Denkform, die wir heute als eine theoretische verstehen und bezeichnen. Ohne jedes Vorbild entstehen in Griechenland zum ersten Mal theoretische mathematische Sätze[2], die klar formuliert sind und einen expliziten Beweis fordern. Im Zusammenhang mit diesen mathematischen Sätzen wurde zum ersten Mal ein axiomatisch-deduktiver Denkvorgang verlangt. Es ist gerade diese Forderung im Hintergrund der griechischen Mathematik bzw. Geometrie, die diese Sätze zu theoretischen im eigentlichen Sinne macht, und somit auch die Mathematik bzw. Geometrie zu einer Theorie (bzw. zu einem theoretischen Wissen). Das Denken löst sich hier von dem rein Praktischen (Täglichen und Konkreten bzw. Bestimmten) ab und wird zum Theoretischen (Allgemeinen). Es handelt sich zwar immerhin um ein die Praxis stabilisierendes Wissen, d.h. der Bezug auf die Praxis steht stets in den Wurzeln des Denkens, jedoch gehört die Praxis nicht mehr zum eigenen Wesen des Wissens. Das Denken verlässt hier also den ursprünglichen, rein praktischen Kontext.

Platon knüpft an dieses mathematisch-geometrische Paradigma an, dies wurde in seinem Denken (v. a. in seiner Ideenlehre) weiter entwickelt. Platon stellt sich als Erster im Zusammenhang mit den mathematischen Sätzen eine noch allgemeinere Frage: „Wenn das mathematisch Theoretische wahr ist, woher kommt ihre Wahrheit?“ und versucht diese zu beantworten. Die mathematischen bzw. geometrischen Sätze handeln laut Platon von Ideen. Diese stützen dann ihre Wahrheit. Ein Satz wie „Jeder Kreis ist durch sein Halbmesser halbiert.“[3] ist kein Satz, der sich mit einem konkreten Einzelkreis beschäftigt. Es ist eher ein Satz, der zum Ausdruck bringt, was für alle Kreise, d.h. für die Idee des Kreises, gültig ist.

Auf Platons Ideenlehre lässt sich dann die These zurückführen , dass sich jedes Denken mit Konstrukten beschäftigt. Alles, was wir sehen können (d.h. alles in der materiellen, sinnlich erfahrbaren Welt), dient nur zur Veranschaulichung und evoziert in uns eine Idee. Sieht man zum Beispiel einen gemalten Kreis auf der Tafel, wird in ihm die Idee des Kreises evoziert. Platon selbst spricht in diesem Zusammenhang von der sog. anamnésis (Erinnerung): Die Suche nach der Wahrheit und das Lernen[4] bedeutet nichts anderes als sich an die „richtige Vorstellungen“ zu erinnern, die schon in der Seele des erkennenden Subjekts vorhanden sind, wobei mit diesen „richtigen Vorstellungen“ im Menschen bzw. in der menschlichen Seele die Ideen gemeint sind.[5] Das Theoretische (d.h. eine begründete epistémé) spricht nur von solchen Ideen. Alles, was nicht auf solche Ideen zurückgeführt werden kann, ist dagegen nur eine unbegründete Meinung (doxa). Alle wahrnehmbaren Dinge, die uns umgeben (z.B. der Kreis auf der Tafel oder ein kreisförmiger Untersetzer oder ein Teller usw.), sind nur Beispiele bzw. mehr oder weniger gelungene Realisierungen dessen, was eigentlich gemeint ist (nämlich die Idee des Kreises). Ideen sind also gewisse Gesichtspunkte, unter denen man über sinnliche Sachen reden kann – z.B. „Kreisförmigkeit“ ist ein Gesichtspunkt, unter dem wir verschiedene Dinge entweder als kreisförmig oder nicht kreisförmig verstehen, also als bessere oder schlechtere Realisierungen der Idee des Kreises.[6]

Platonische Überlegungen stellen somit ein Konstruktionsmodell des Denkens[7] dar. Das Konstruktionsdenken erstreckt sich bei Platon von seinem ursprünglichen fachlichen Kontext (von Mathematik und Geometrie) auf andere Gebiete – auch Gerechtigkeit oder Tapferkeit (Ethik), sowie Schönheit (Ästhetik) kann man als etwas verstehen, was sich auf Ideales bezieht (bzw. zurückführen lässt) und etwas, was in der sinnlichen Welt nur als eine mehr oder weniger gelungene Realisierung dieses Idealen auftritt.[8] Dementsprechend gibt es also für Platon zwei Sorten von Dingen: konkrete empirische Gegenstände und theoretische nicht-empirische Dinge. Die Ideen (ideai), d.h. die theoretischen, nicht-empirischen Dinge, sind dabei das eigentlich Seiende (onta), welches unvergänglich, ewig und wahr ist. Sie sind Vorbilder für die zwei Sorte der Dinge, für die pragmata bzw. erga (empirische Einzelgegenstände) in der sinnlichen Welt. Die empirischen, wahrnehmbaren Dinge (pragmata, erga) sind also Abbilder von Ideen – sie haben eine Teilhabe (methexis) an den Ideen.[9] So hängt auch der Begriff der Idee mit dem Begriff der Ursache (aitia) zusammen. Etwas ist schön, weil es Teil an der Schönheit hat. Es ist gerade der Bezug auf die Schönheit an sich (d.h. auf die Idee des Schönen), die ein Einzelding schön macht.[10]

Die Unterscheidung zwischen ideai-onta und pragmata-erga wird noch komplizierter in der ‚Politeia’, wo die Ideenlehre systematisch aufgefasst wurde. Im sog. Liniengleichnis[11] unterscheidet Platon zunächst zwei Sorten des Seienden: die denkbaren und unsichtbaren Ideen und die empirische, sichtbare und erfahrbare Erscheinungen. Für diese zwei Sorten des Seienden gibt es auch entsprechend zwei unterschiedliche Erkenntnisformen: Während man von Ideen das Wissen (epistémé) hat, kann man von Erscheinungen nur eine Meinung (doxa) haben. Diese Meinungen (doxai) sind dann im Vergleich zur epistémé nur wahrscheinlich und nicht definitiv verlässlich. Weiter unterscheidet Platon mathematische Ideen von den nicht-mathematischen, welche als einzige zur noiesis (Einsicht) führen können. Allem übergeordnet ist noch die spezifische Idee des Guten, die sich zum Denken (nús) und Gedachten, wie die Sonne zum Sehen (opsis) und Gesehenem, verhält.[12]

Trotz dieser Unterscheidung muss man nicht notwendigerweise auf eine Zwei-Welten-Lehre und einen naiven Dualismus schließen. Diese Unterscheidung lässt sich plausibel auch so interpretieren, dass es zwei Betrachtungsweisen der Welt gibt.[13] Laut dieser Interpretation gäbe es eigentlich nur eine einzige Welt, die man unterschiedlich betrachten und dementsprechend beschreiben könnte. Die dialektiké epistémé wäre dann die richtige Betrachtungs- und Beschreibungsweise für jeden, der sich mit einer Wissenschaft bzw. Philosophie beschäftigt.

Das berühmte Höhlengleichnis in ‚Politeia’ beschreibt dann die Anamnesislehre, das Aufklärungs- und Wissensbildungsprozess[14]. Hier wird die Situation des Menschen in der sinnlichen Welt (bzw. im Alltag) dargestellt und weiter die Wissensbildung als ein Akt der Selbstbefreiung beschrieben. Ein Akt, in dem der Mensch erkennt, dass das, was er bisher für Wahres gehalten hat, bloß Abbilder und Erscheinungen sind und dass es neben diesen eine andere wahre Sphäre des Wissens (bzw. des wahr Seienden) gibt (Sphäre von Ideen).

Mit dem Höhlengleichnis scheint die Ideenlehre abgeschlossen zu sein: Von der Philosophie der Geometrie, wo festgestellt wurde, dass die mathematischen bzw. geometrischen Definitionen nur Konstruktionsanweisungen und Ideen nur Konstruktionspläne bzw. Konstruktionsprinzipien sind, über die Philosophie des Guten und Schönen, wo die Ideen als erfüllte oder unerfüllte Normen bzw. Maßstäbe auftreten, gelangt man bis zu der Philosophie der Ideenlehre in den Dialogen ‚Phaidon’, ‚Phaistos’ und ‚Politeia’, wo der Gegensatz von Vorbild-Abbild problematisiert wird und die Unterscheidung zwischen Ideen als onta und Dingen als pragmata gemacht wird. Die Philosophie der bloßen Geometrie erweitert sich also in Platons Händen bis zu rein metaphysischen Überlegungen über das wahr Seiende.

Das Theoretische (bzw. das mathematisch-geometrische Paradigma) scheint sich hier jedoch nicht auf alle Dinge zu erstrecken, die wir in unserer Umgebung wahrnehmen können. Die Naturgegenstände (wie Baum oder Feuer) scheinen keine mehr oder weniger gelungene Realisierungen von Ideen zu sein. Wie könnte man von einer idealen Vorlage eines Baumes sprechen? Platon lehnt die Vorstellung von Ideen natürlicher Dinge definitiv ab, weil man dann auch viele andere Ideen anerkennen müsste, und zwar ebenfalls von hässlichen Dingen. Der Begriff der Idee ist jedoch in seinem Denken fest mit der Vorstellung des Guten verbunden.[15] Anders als mit Naturgegenständen ist es dann mit den Artefakten (d.h. mit den von Menschen hergestellten Sachen). Es ist leicht einzusehen, weshalb ein wackliger Tisch eine wenig gelungene Realisierung ist. Ein Tisch (oder andere Artefakte) kann nämlich eine Realisierung sein, weil er nach einer Vorlage bzw. nach einem Muster geschaffen ist. Diese Vorlage ist eine Vorstellung im menschlichen Geist. Später (im Kap. 3) werden wir sehen, dass und wie diese Vorstellung, nämlich dass Artefakte im Gegensatz zu den Naturgegenständen mehr oder weniger gelungene Realisierungen sein können, Platons Verständnis der Natur und der natürlichen Dinge beeinflusst und wesentlich modifiziert.

Um das Konstruktionsmodell des Denkens wirklich begreifen zu können, muss man den Platonischen Begriff der Idee richtig verstehen. Die Platonische Idee ist keine psychologisch entstandene Vorstellung, sondern etwas noch vor dem konstruierenden modellhaften Denken Vorgegebenes. Platonische Idee ist ein a priori existierender Maßstab, anhand dessen man die in der Welt existierenden Realisierungen beurteilt. Die Gegenstände der sinnlichen Welt orientieren sich primär also auf bestimmte schon vorher gegebene Maßstäbe. Nur wenn man die Platonische Idee so versteht, kann man wirklich einsehen, warum die Behandlung der Naturgegenstände (bzw. warum die Naturphilosophie) problematisch ist.[16]

Platon hat mit seiner Ideenlehre das konstruktivistische Denken entdeckt und die rein theoretische Denkform auf mehrere Wissensgebiete ausgeweitet. Aristoteles hat dann in seiner Reaktion auf diese Ideenlehre die Erfahrungsform des Denkens bzw. der Rationalität entwickelt und ausgearbeitet. Aristotelisches Denken ist ein Rekonstruktionsdenken. Jede Konstruktion benötigt seiner Meinung nach eine Begründung in der Sinnlichkeit[17]. Das bedeutet, dass die Konstrukte notwendigerweise einen Bezug bzw. einen Anfang im Alltag und in der alltäglichen Erfahrung haben müssen[18]. Daher sind sie keine Konstruktionen, sondern Re konstruktionen (und zwar Rekonstruktionen der Erfahrung in dem Denken). Die theoretischen Sätze versteht Aristoteles also nur als eine Generalisierung von partikulären Fällen.

Aristoteles’ Erste Philosophie (proté philosophia) bzw. Metaphysik[19] beschäftigt sich mit dem Allgemeinen, was man aus dem Partikulären abstrahieren kann. Sie fragt nach ersten Gründen (aitia) und Ursachen (arché) und untersucht das Seiende als Seiendes (to on hé on).[20] Die Erste Philosophie thematisiert also den Aspekt des Seins (esti), anhand dessen wir jedes Seiende gerade als Seiendes verstehen und zwar vom Gesichtspunkt von aietón (vom Gesichtspunkt der Bewirkung bzw. Verursachung). Das erkennende Interesse richtet sich hier also an Gegenstände im Allgemeinen, d.h. an das Seiende im Ganzen und nicht nur an seine partikulären Ausschnitte.[21] Deshalb ist die Erste Philosophie die reinste Theorie.

Trotz ihrer Allgemeinheit ist jedoch Aristotelische Theorie primär und prinzipiell ein erfahrungsstabilisierendes Wissen, d.h. Wissen, das die alltägliche Erfahrung des Menschen erfassen soll und muss. Die Erfahrung wird hier zum Kern der Philosophie. Sie wird als ein Medium verstanden, durch das man erst die Tatsachen in der Welt verstehen kann. Allein in der vortheoretischen alltäglichen Erfahrung werden uns die weltlichen Zusammenhänge gegeben. Man kann sogar sagen, dass die Tatsachen sich uns durch die Erfahrung geben, d.h. die Tatsachen sind uns durch sich selbst gegeben. Das erkennende „Ich“ bei Aristoteles ist das Ich-in-der-Welt und Ich-mit-der-Welt; ein Ich, das innerlich und untrennbar mit der Welt verknüpft und vertraut ist. Wenn ein solches Ich theoretisiert, bewegt es sich (und kann sich) bloß in den schlichten Erfahrungszusammenhängen (bewegen).

Dementsprechend ist das Seiende der Ersten Philosophie von Aristoteles in der erfahrenen (und erfahrbaren) Vergänglichkeit verfasst, als etwas, was in der Welt eingewurzelt ist – „(...) das, was sich verändert, [muss] ein Seiendes sein; denn die Veränderung geht aus etwas zu etwas.“ (Met.Γ3.1012b27-29) In dieser Weise reagiert Aristoteles auf die Platonische Ideenlehre, die nur das Unveränderliche und Ewige als das eigentliche und einzig wahr Seiende versteht. Das Sein ist zwar auch bei Aristoteles Eins (to hen) – „(...) das Seiende und das Eine [ist] ein und dasselbe, und eine Natur (...)“ (Met.Γ3.1003b24), jedoch im Sinne der Einheit von unterschiedlichen Arten des Seins.[22] Das Eins wird uns in gewisser Mannigfaltigkeit gegeben und diese Mannigfaltigkeit spiegelt sich in unserer alltäglichen Rede von dem Sein wieder – „Man spricht vom Seienden in vielfachen Bedeutungen, doch stets im Hinblick auf Eines und auf eine Natur (...).“ (Met.Γ3.1003a33-35) In diesem Zitat, wie auch an anderen Stelle, benutzt Aristoteles gerade unsere gewöhnliche Sprache als Ausgangspunkt seiner Forschungen. Es ist offensichtlich die Sprache[23], als ein Teil unserer Erfahrung, die uns Wissen über das höchst Theoretische vermittelt.

Obwohl dieses Kapitel nur sehr weit und allgemein mit dem Thema des Naturbegriffes zusammenhängt, war es meiner Meinung nach wichtig, ihn hinzufügen.

Erstens wurden hier die Ausgangspositionen und die allgemeinen Arten des Denkens von Platon und Aristoteles geschildert, die verständlich sein müssen, bevor man sich mit dem Naturbegriff befassen will. Zweitens wurde hier angesprochen, in welcher Hinsicht das griechische Denken neu ist. Drittens können wir schon hier teilweise sehen, dass unser Denken im Grunde ein griechisches Denken ist – bis heute sind in unserem Denken nämlich sowohl das Platonische Konstruktionsmodell (als eine Konstruktion nach idealen Maßstäben gedachte Welt) als auch das Aristotelische Rekonstruktionsmodell des Denkens (als eine Rekonstruktion des Partikulären in der Erfahrung gedachte Welt) enthalten. Wir können auch feststellen, dass die ursprünglich gegensätzlichen Konzeptionen, nämlich die Platonische und die Aristotelische als Kritik an der Platonischen, in unserem Denken in eine gewisse „Einheit“ zusammenflossen sind.

Wir können also schon jetzt das feststellen, was wir mit der Untersuchung des Naturbegriffes noch näher bringen, veranschaulichen und konkretisieren werden.

2. Naturbegriff in der neuen Denkform

Der Naturbegriff spielt im griechischen Denken von Anfang an eine zentrale Rolle. Bevor wir also diesen Begriff bei Platon und Aristoteles untersuchen, möchte ich noch ein paar allgemeine Notizen zu diesem Begriff im griechischen Denken hinzufügen.

Der griechische Begriff fýzis[24] (bzw. der lateinische Begriff natura) taucht natürlich schon vor der klassischen Ära der griechischen Philosophie auf. Von Anfang an spielt dieser Begriff bei den sog. Vorsokratikern, die im wahren Sinne die Anfänger unseres Denkens sind, eine wesentliche Rolle. Man kann sogar sagen, dass die neue griechische Denkweise gerade im Zusammenhang mit diesem Begriff zum ersten Mal zum Ausdruck gekommen ist, nämlich in der sog. Miletischen Naturphilosophie.[25]

In Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit ist es nicht erforderlich zu wissen, welche konkrete Konzeptionen die einzelne Vorsokratiker von der Welt bzw. von der Natur entwickelt haben, jedoch muss man sich dessen bewusst werden, dass der Begriff fýzis von Anfang an eine gewisse Spannung enthalten hat. Unter „Natur“ hat man einerseits all das verstanden, was nicht der Mensch geschaffen hat. Das kann man sehr gut anhand der semantischen Zusammenhängen veranschaulichen: Das griechische Verb fylestai bedeutet „geboren“ oder „erzeugt werden“, d.h. im übertragenen und erweiterten Sinne „von sich Selbst eine Form anzunehmen“; das Nomen fýzis ist daher als „das Werden eines (aus sich selbst) Wachsenden“[26] zu verstehen.[27] fýzis ist also „(...) derjenige Teil der Welt, dessen Zustandekommen (...), Erscheinungsform und Wirken unabhängig von Eingriffen des Menschen ist bzw. gedacht werden kann.“[28] Eine solche Natur, die wir heute als „ unberührte Natur “ bezeichnen würden, stellt nicht nur den Gegenteil zu den (künstlichen) Artefakten dar[29], sondern im weiteren Sinne auch einen Gegensatz zu der Natur, die schon vom Menschen geformt worden ist. Andererseits war die Natur auch für die Vorsokratiker das, in dem der Mensch lebt. Mensch und Menschlichkeit sind mit der Natur und mit dem Natürlichen fest verbunden, weil die Natur einen Ort des Lebens darstellt und der Mensch ein Lebewesen ist. Der Gedanke, dass die Natur für den Menschen geschaffen wurde, ist also auch ursprünglich mit dem fýzis-Begriff verknüpft.[30] Damit die Natur ein Lebensraum für den Menschen (bzw. für andere vernünftige Wesen) sein kann, muss sie an sich eine Ordnung darstellen. Das Leben und das Lebende kann sich nur in einer Ordnung orientieren, weil es sich nur auf die Ordnung verlassen kann. Es könnte kein Leben im Chaos (das die einzige Alternative zur Ordnung darstellt) geben. Mit diesen Gedanken ist die Vorstellung der Natur als kosmos („eine einsehbare gegliederte Ordnung“) verbunden: Wir leben und können nur in einer Ordnung, in einer geordneten Welt bzw. Natur, leben.[31]

[...]


[1] Es waren Werke der sog. Vorsokratiker, die diese neue Denkform (die sich wesentlich von der früheren Mythologie und der mythologischen Auffassung der Welt unterscheidet) als Erste verkörperten. Namentlich Fragmente von Thales, Anaximander (sog. miletische Naturphilosophie), weiter dann Anaximenes, Pythagoras und Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit, Parmenides und Zenon (sog. Eleaten), Empedokles, Anaxagoras, Leukipp und Demokrit (sog. Atomisten). Vgl. mit Vorsokratiker I und II (2005).

[2] Zum ersten Mal bei Thales – vgl. mit Vorsokratiker I (2005), S.44-49, später hat sich dann die Euklidische Geometrie entwickelt.

[3] Einer von den Thaletischen Sätzen, vgl. Vorsokratiker I (2005), Thale 8, S.49.

[4] Mit Lernen ist das Erwerben der wahren Kenntnis gemeint.

[5] Diese sog. Anamnesislehre stellt Platon erstmalig im Dialog „Menon“ dar. Sie kann als der erste Schritt zu der Ideenlehre verstanden werden. Die These, dass Lernen in der anamnésis (d.h. sich auf das schon Anwesende zu erinnern) besteht, veranschaulicht Platon mit seinem Experiment mit einem unausgebildeten Sklaven und einer geometrischen Figur im Sand. Wenn der Sklave eine geometrische Aufgabe bekommt, kann er selbst zur Lösung gelangen, ohne dass es ihn Sokrates lehren müsste. Es genügt, wenn ihn Sokrates zum Lernen bzw. Selbst-Lernen lenkt. Der Sklave benötigt nur das Sich-Erinnern, um die mathematische Aufgabe beantworten zu können. Dieses Sich-Erinnern besteht dann im Einsehen der Ideen. S. in: Menon 80d – 85e. Auf diese Anamnesislehre knüpft dann die „Zwei-Welten-Lehre“ an, nämlich die Vorstellung, dass es zwei Welten gibt: die Welt der Begriffe bzw. Ideen und die materielle, empirische, wahrnehmbare und sinnlich erfahrbare Welt. Die Seele war einst in der Welt der Ideen, wo sie diese Ideen gesehen hat. Wenn man dann die Dinge der materiellen Welt wahrnimmt, kann man sich an die Ideen erinnern, bzw. man nimmt die Dinge in der sinnlichen Welt durch „das Prisma der Ideen“ wahr. Vgl. Platons Rede über das Gleiche und die Gleichheit in: Phaidon. Vgl. auch Mittelstraß (1962), Kap. II, 1, S. 29ff.

[6] Zum Verständnis vom Guten als „Gelungenes“ und zur Idee als ein Maßstab für den Vergleich und die Beurteilung, vgl. Heinemann (2001), S. 263 – 265.

[7] Terminologie von J. Mittelstraß, benutzt in der Vorslesung „Grundbegriffe der griechischen Metaphysik“.

[8] Vgl. Phaidon – Von einer Ideen zu reden ist nur dort sinnvoll, wo es in der Welt mehrere Realisierungen eben dieser gibt, d.h. in dem Bereich der Mathematik bzw. Geometrie, Ethik und Ästhetik.

[9] Vgl. Phaidon 100a.

[10] Vgl. Faidon 100b.

[11] Politeia 509c – 511e.

[12] Vgl. mit dem sog. Sonnengleichnis in: Politeia 508a – 509b. Weiteres zur Idee des Guten in Heinemann (2001), S. 263 – 265.

[13] Vgl. Politeia 120c oder 525c.

[14] Politeia 515a – 515b.

[15] Vgl. Heinemann (2001), S.263ff.

[16] Das Problem wird später im Kapitel 3 unter „prinzipielle Unmöglichkeit einer Naturwissenschaft“ erörtert.

[17] Kantianisch gesprochen.

[18] Vgl. Düring (1966), S.210: „Wie gewöhnlich geht er [Aristoteles] von den Verhältnissen im Alltagsleben aus.“ Düring bringt an dieser Stelle sogar Beispiele: Aristotelischen Kategorienlehre, Philosophie vom telos und Staatstheorie haben alle den Ursprung in Erfahrungstatsachen.

[19] „Erste Philosophie“ ist die von Aristoteles gewählte Bezeichnung. Der Termin „Metaphysik“ stammt von dem Herausgeber Andronikus von Rhodos, der die Schriften über die Erste Philosphie hinter (metos, meta) die Schriften über die Physik geordnet und dementsprechend bezeichnet hat.

[20] Vgl. z.B. Met.E5.1025b3: „Wir suchen die Prinzipien und Ursachen des Seienden, offenbar aber, insofern es ein Seiendes ist.“

[21] Vgl. Met.Γ3. 1003a21-24: „Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende, insofern es seiend ist, betrachtet und das, was ihm an sich zukommt. Diese ist aber mit keiner der sogenannten Einzelwissenschaften identisch; denn keine der anderen Wissenschaften betrachtet allgemein das Seiende, insofern es seiend ist, sondern, indem sie sich einen Teil vom Seienden herausschneiden, betrachten sie diesen hinsichtlich seines Akzidens (...).“

[22] Vgl. Filosofická Propedeutika (1998), § 16.

[23] Den üblichen Sprachgebrauch als Ausgangspunkt zu nehmen, ist ein sehr moderner Ansatz. Für Aristoteles ist jedoch die übliche Sprache ein Teil unserer elementaren Erfahrung, die seine Theorie stabilisieren will. Die sog. linquistische Wende (Wittgenstein u.a.) kommt also mit einem ursprünglich Aristotelischen Gedanken, nämlich dass wir immer nur in einer Sprache denken und dass unseres Denken also sprachlich sein muss.

[24] Für die Transkription von dem griechischen Begriff φύσις habe ich die tschechische Variante fýzis gewählt, weil sie für mein Empfinden der griechischen Schreibweise eher entspricht. Die deutsche Transkription wäre dann physis.

[25] Vgl. mit Vorsokratiker I (2005).

[26] So versteht auch Aristoteles die Natur– vgl. die erste Bedeutung von Natur in seiner Definition in: Met.∆41014b16-17, näher im Kap. 4.

[27] Vgl. Enzyklopädie 1984, S. 961.

[28] Enzyklopädie 1984, S. 961.

[29] Das Natürliche kann also als ein Gegensatz zum Künstlichen verstanden werden, daher der Gegensatz von Natur und Kunst (techné). Das Natürliche kann weiter als Gegensatz zu dem von den Menschen Geschaffenen (Artifiziellen im eigentlichen Sinne) verstanden werden. Daher dann der Gegensatz zwischen Natur und Gesetz (nomos) – Nomos sind gesellschaftliche Normen und politische Institutionen, die durch eine Vereinbarung bzw. Konvention (nóma) legitimiert sind, und die daher veränderlich sein können; im Gegensatz dazu wird Natur nur durch sich selbst legitimiert und ist daher unveränderlich. Vgl. dazu Enzyklopädie 1984, S. 961. Mit dem Gegensatz zwischen Kunst und Natur werden wir uns noch im Kapitel 3 und 4 beschäftigen. Den Gegensatz zwischen Natur und Nomos findet sich auch bei Platon in den Dialogen ‚Gorgias’ und ‚Politeia’, vgl. dazu Heinemann (2001), S. 265 - 266. Dieser soll jedoch nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein.

[30] Vgl. zum Beispiel mit Heinemann (2001), S.273.

[31] Näher zum Kosmos-Gedanken bei den Vorsokratikern in Heinemann (2001), S.258: Die Welt als eine Ordnung, als ein gelungenes Ganzes aus verschiedenartigen, zueinander passenden Teilen, als eine harmonia findet man schon bei Parmenides, Heraklit oder Pythagoreer. Vgl. auch mit Vorsokratiker I (2005).

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Details

Titel
Der Naturbegriff im klassischen griechischen Denken
Untertitel
Platon und Aristoteles
Hochschule
Universität Konstanz  (Fachbereich Philosophie)
Veranstaltung
Vorlesung: Grundbegriffe der griechischen Metaphysik
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
42
Katalognummer
V130104
ISBN (eBook)
9783640362561
ISBN (Buch)
9783640362301
Dateigröße
943 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Naturbegriff, Denken, Platon, Aristoteles
Arbeit zitieren
Radka Tomeckova (Autor:in), 2009, Der Naturbegriff im klassischen griechischen Denken, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/130104

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