Die Grundgedanken der Dialogizität, d.h. der Redevielfalt oder Polyphonie, wurden vom russischen Literaturwissenschaftler und Philosophen Michail Bachtin entwickelt. Laut Bachtin spiegeln sich in Worten, Äußerungen und Texten teils bündelnde, teils konkurrierende Stimmen wider. In einem polyphonen Kunstwerk, wie es der zu behandelnde Roman ist, ergänzen sich viele unterschiedliche Stimmen, Perspektiven und Weltanschauungen, die auch miteinander in Konflikt treten können. Somit steht der polyphone Roman im deutlichen Gegensatz zum monologischen Roman, bei dem eine dominante Stimme hervortritt, die alle anderenverstummen lässt2. Assia Djebar legt, wie ich im Laufe dieser Arbeit immer wieder aufzeigen werde, großen Wert auf eine möglichst umfassende Darstellung von Geschichte, die sie nie durch ihre eigenen Anschauungen dominiert. Die Stimme der Autorin ist zwar vorhanden, aber vor allem im letzten Abschnitt „Les voix ensevelies“ wird ihr Bestreben klar ersichtlich, in L’Amour, la fantasia möglichst vielen verschiedenen Stimmen (im konkreten Beispiel den Stimmen vieler unterschiedlicher algerischer Frauen) Platz und Raum zur Entfaltung zu geben, ohne diese jedoch zu dominieren.
Im Laufe meiner Proseminararbeit werde ich auch kurz auf die Verbindungen zwischen dem filmischen Schaffen der Autorin und ihrer Literatur eingehen, weil ich denke, dass dies eine ganz wesentliche Rolle in Assia Djebars Werk spielt. Hauptsächlich möchte ich jedoch anhand von zahlreichen Textzitaten zeigen, wie die Autorin mit Geschichte umgeht.
Inhalt
1. Vorwort und Grundgedanken zur Thematik
2. Eine Geschichte erzählen – Geschichte erzählen – Assia Djebar zwischen Geschichte, Literatur und Gedächtnis
2.1 Montage, Collage und Pluralität – Film und Literatur
2.2 Daten und Zeiten des Romans
2.3 Wie unterscheidet Assia Djebar „Fiction“ und „Faction“?
2.4 Warum ist die Fiktion von so großer Bedeutung in diesem Roman?
3. „Quasi una fantasia ...“ – Orchestrierung und Aufbau des Romans
3.1 Der Aufbau des Romans und die Parallelen zur Entwicklung der Schriftstellerin
3.1.1 Erster Abschnitt: Kindheit – koloniale Eroberung (1830)
3.1.2 Zweiter Abschnitt: Jugend/Heirat – die Jahre 1840 – 1845
3.1.3 Erster und zweiter Abschnitt: Liebesbriefe vs. Kriegskorrespondenz
3.2 Dritter Abschnitt: Vielstimmigkeit (Polyphonie)
4. Opernmetaphorik
5. Mündlichkeit – Schriftlichkeit und Übersetzungsproblematik
5.1 Maskuline, französische, schriftliche Geschichte und weibliche, algerische, mündliche Tradition
5.2 Übersetzen in die „Sprache des Eroberers“
6. Schlussfolgerungen
7. Literaturverzeichnis
1. Vorwort und Grundgedanken zur Thematik
« Il y eut un cri déchirant – je l’entends encore au moment où je t’écris -, puis des clameurs, puis un tumulte... »[1]
Diese Worte aus Eugène Fromentins Werk Une année dans le Sahel bilden den Auftakt zu Assia Djebars Roman L’Amour, la fantasia, der das zentrale Thema meiner Proseminararbeit darstellen wird. Im Rahmen meiner Ausführungen möchte ich die Orchestrierung der Polyphonie, also der Mehrstimmigkeit, in L’Amour, la fantasia behandeln, bzw. ich möchte vor allem immer wieder anhand von konkreten Textausschnitten aufzeigen, wie Assia Djebar mit Geschichte umgeht. Ich will hierzu schon eines vorwegnehmen: Assia Djebar ist nicht nur Autorin, sie ist auch eine sehr exakt und authentisch arbeitende Historikerin. Diese Tatsache beeinflusst natürlich ihre Annäherung an Geschichte ganz wesentlich. Doch auf diese Problematik werde ich noch später ausführlicher im Kapitel „2.5 Wie unterscheidet Assia Djebar „Fiction“ und „Faction“?“ eingehen.
Der Roman L’Amour, la fantasia ist 1985 als erster Teil einer Tetralogie über die Geschichte und Gegenwart Algeriens entstanden. Den zweiten Teil dieser Tetralogie bildet der 1987 erschienene Roman Ombre Sultane, der dritte Teil entstand 1995 mit Vaste est la prison, und 1996 bildet schließlich das Werk Le blanc de l’Algérie den Abschluss. Da ich oft über Polyphonie, d.h. Mehrstimmigkeit sprechen werde, erscheint es mir durchaus angebracht, zunächst einmal kurz auf diesen wichtigen Begriff einzugehen.
Die Grundgedanken der Dialogizität, d.h. der Redevielfalt oder Polyphonie, wurden vom russischen Literaturwissenschaftler und Philosophen Michail Bachtin entwickelt. Laut Bachtin spiegeln sich in Worten, Äußerungen und Texten teils bündelnde, teils konkurrierende Stimmen wider. In einem polyphonen Kunstwerk, wie es der zu behandelnde Roman ist, ergänzen sich viele unterschiedliche Stimmen, Perspektiven und Weltanschauungen, die auch miteinander in Konflikt treten können. Somit steht der polyphone Roman im deutlichen Gegensatz zum monologischen Roman, bei dem eine dominante Stimme hervortritt, die alle anderen verstummen lässt[2]. Assia Djebar legt, wie ich im Laufe dieser Arbeit immer wieder aufzeigen werde, großen Wert auf eine möglichst umfassende Darstellung von Geschichte, die sie nie durch ihre eigenen Anschauungen dominiert. Die Stimme der Autorin ist zwar vorhanden, aber vor allem im letzten Abschnitt „Les voix ensevelies“ wird ihr Bestreben klar ersichtlich, in L’Amour, la fantasia möglichst vielen verschiedenen Stimmen (im konkreten Beispiel den Stimmen vieler unterschiedlicher algerischer Frauen) Platz und Raum zur Entfaltung zu geben, ohne diese jedoch zu dominieren.
Im Laufe meiner Proseminararbeit werde ich auch kurz auf die Verbindungen zwischen dem filmischen Schaffen der Autorin und ihrer Literatur eingehen, weil ich denke, dass dies eine ganz wesentliche Rolle in Assia Djebars Werk spielt. Hauptsächlich möchte ich jedoch anhand von zahlreichen Textzitaten zeigen, wie die Autorin mit Geschichte umgeht.
2. Eine Geschichte erzählen - Geschichte erzählen Assia Djebar zwischen Geschichte, Literatur und Gedächtnis
2.1 Montage, Collage und Pluralität – Film und Literatur
Assia Djebar stellt für ihre Leserschaft und somit auch für mich eine der bedeutendsten Stimmen des „weiblichen Algeriens“ dar. Nicht nur durch ihre Romane, sondern auch durch ihre Filme bringt sie die lange Zeit (und teilweise auch noch heute) nur im Verborgenen und in der Mündlichkeit existierende Kultur der algerischen Frauen zum Ausdruck. Das zentrale Thema ihrer Romane ist stets die feminine Selbstfindung und Selbsterfahrung. In den 70er und 80er Jahren beginnt sie damit, mittels Kamera und Tonband sowohl die Sprache, als auch das alltägliche Leben und das Lebensgefühl algerischer Frauen einzufangen. Sie strebt daher schon zu dieser Zeit eine Mehrstimmigkeit an. Es entstehen bedeutende Dokumentarfilme wie:
- La Nouba des femmes du Mont Chenoua (1979), bzw.
- La Zerda et les chants de l’oubli (1982).
Diese behandeln vor allem den Aufbruch der arabischen Frau. Der Film wirkt nun in direkter Folge auf die Literatur, die ebenfalls sehr stark geprägt ist durch die Mündlichkeit, die Polyphonie bzw. die filmische Montagetechnik.[3]
Doch was genau versteht man nun unter Montage- bzw. Collagetechnik? Ich beziehe mich hierzu auf einen Artikel im Metzler-Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie[4]. Montage, abgeleitet vom frz. Wort „monter“, was soviel wie aufbauen und zusammensetzen bedeutet, bzw. Collage, das auf das frz. Wort „coller“, d.h. soviel wie kleben, zurückgeht, bezeichnen beide ein ästhetisches Verfahren, das aus ursprünglich separaten Teilen unterschiedlicher Herkunft etwas Neues zusammenfügt. Während sich das Wort Montage vor allem auf die performative Kunst, Foto, Film und Theater bezieht, verwendet man Collage eher dann, wenn man von der Malerei oder der bildenden Kunst und somit auch der Literatur spricht. In dem vorher schon zitierten Lexikonartikel sagt man dazu folgendes:
„Eine solche spezifische ästhetische Definition verlangt, dass die Partikel unvermittelt zusammengefügt sind, heterogen bleiben und als erkennbare Bruchstücke inhomogen wirken.“[5]
Werfen wir nun einen Blick auf die Struktur des vorliegenden Romans L’Amour, la fantasia, sehen wir deutlich, dass dieser wie eine Collage aus eigentlich auf den ersten Blick unzusammenhängenden und heterogen wirkenden Bruchstücken – ähnlich wie ein Mosaik – zusammengesetzt ist. Assia Djebar verbindet hier Fakten und Fiktion, Autobiographie und Geschichte, Individual- und Sozialgeschichte und schafft dadurch ein Gesamtkunstwerk, das deutlich über herkömmlichen einseitigen Geschichtsberichten steht[6]. Andererseits stehen sich Autobiographie und Geschichte aber nicht vollkommen unverbunden gegenüber – beide Elemente ergänzen sich gegenseitig und stehen in Wechselbeziehungen[7]. Darauf möchte ich noch später ausführlicher im Abschnitt „3.1 Der Aufbau des Romans und die Parallelen zur Entwicklung der Schriftstellerin“ eingehen.
2.2 Daten und Zeiten des Romans
Assia Djebar schildert in L’Amour, la fantasia die französische Kolonialgeschichte, beginnend mit der Eroberung Algeriens im Jahre 1830 durch die Franzosen, bis hin zur blutig erkämpften Unabhängigkeit. Sie handelt dabei aus dem Bedürfnis heraus, eine andere Version der Geschichte ihres Landes zu erzählen, als jene, von denen die französische Kriegsberichterstattung bzw. die französischen Soldaten zeugen. Sie will den Blickwinkel ausdehnen auf die weibliche Seite, auf die Frauen und ihnen – wie ich bereits erwähnt habe – endlich eine Stimme geben. Obwohl die Aufarbeitung von Geschichte schon immer eine ganz wesentliche Rolle in ihrem Werk gespielt hat, kann man trotzdem sagen, dass sie erstmals in L’Amour, la fantasia an vorderster Stelle steht. Dazu möchte ich ein Zitat von Beïda Chikhi anführen:
« Tantôt horizon ou toile de fond, tantôt contexte ou prétexte, l’Histoire, dans les romans antérieurs d'Assia Djebar n'a, à aucun moment, atteint l’omniprésence de cette nouvelle production. »[8]
Die Epochen wechseln durch die Collagetechnik in schneller, nicht unbedingt chronologischer Abfolge, was das Lesen am Anfang etwas erschweren kann. Da Assia Djebar in diesem Roman einen Zeitraum von rund eineinhalb Jahrhunderten schildert, ist es für sie natürlich unmöglich, den gesamten Geschichtsverlauf in allen Details erschöpfend darzustellen. Sie beschränkt sich nur auf Schlüsseldaten, doch trotzdem erhält der Leser eine genaue Vorstellung von der Kolonialgeschichte Algeriens. Assia Djebar erhebt nicht in erster Linie den Anspruch Geschichte in ihrer historischen Vollständigkeit darzustellen, sie versucht vielmehr eine bestimmte Atmosphäre und Stimmung zu übermitteln.
Die Autorin widmet den gesamten ersten Abschnitt „La prise de la ville ou L’amour s’écrit“ der Unterwerfung Algeriens und dem Fall der „Ville Imprenable“ Algier im Jahre 1830. Der zweite Abschnitt „Les cris de la fantasia“ legt das Hauptaugenmerk auf die Ereignisse der Jahre 1840 – 1845, wobei besonders die grausamen Schilderungen der „enfumades“, der Ausräucherungen und Auslöschung von algerischen Stämmen, die sich vor der französischen Übermacht in Höhlen und Grotten zurückgezogen hatten, hervorstechen. Im dritten Abschnitt „Les voix ensevelies“, was übersetzt soviel wie „Die verschütteten oder vergrabenen Stimmen“ bedeutet, tritt die Autorin noch weiter in den Hintergrund und gibt das Wort an Frauen, die von den Gräueln des Unabhängigkeitskrieges aus eigener Sicht erzählen. In all diese geschichtlichen Darstellungen ist die Autobiographie eng verwoben, Geschichte und Autobiographie ergänzen sich, wie ich bereits angesprochen habe, gegenseitig. Das macht dieses Buch ebenfalls einzigartig.
[...]
[1] Fromentin, Eugène: Une année dans le Sahel. Zitiert nach: Djebar, Assia: L’Amour, la fantasia. Paris: Éditions Albin Michel, 1995, o.S.
[2] vgl. „Dialogizität“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen - Grundbegriffe. Stuttgart-Weimar: Metzler, 1998, S 111f.
[3] vgl. Keil-Savage, Regina: „Assia Djebar (eigtl. Fatma-Zohra Imalayen)“. In: U. Hechtfischer u.a. (Hrsg.): Metzler Autorinnen-Lexikon. Metzler: Stuttgart-Weimar 1998, S 137
[4] vgl. „Montage, Collage, Pluralität“. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S 453f.
[5] a.a.O.
[6] vgl. Keil-Savage: „Assia Djebar“. In: Metzler Autorinnen-Lexikon, S 137
[7] vgl. Rezzoug, Simone: „Emergence d’une parole féminine dans l’histoire: le dernier roman d’Assia Djebar“. In: présence de femmes. Itineraires d’apprentissage. Algier: Hiwer 1987, S 106 - 110
[8] Chikhi, Beïda: Les romans d’Assia Djebar. Offices des publications universitaires. Algier: 1990, S 9
- Arbeit zitieren
- Roswitha Geyss (Autor:in), 2003, L'Amour, la fantasia - Orchestrierung der Polyphonie des Romans oder Djebars Umgang mit Geschichte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13016
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