Empfinden der Wohnzufriedenheit aus der Perspektive von Menschen mit geistiger Behinderung


Examensarbeit, 2008

128 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I Theoretischer Hintergrund

1. Wohnen – Mehr als nur ein Dach über dem Kopf
1.1 Menschliche und wohnbezogene Grundbedürfnisse
1.2 Die besondere Bedeutung der Wohnung für Menschen mit geistiger Behinderung

2. Leitideen und Prinzipien des Wohnens von Menschen mit geistiger Behinderung
2.1 Das Normalisierungsprinzip
2.2 Selbstbestimmtes Leben
2.3 Soziale Integration und Inklusion
2.4 Empowerment
2.5 SGB IX und HeimG

II. Eigene Untersuchung

3. Fragestellung

4. Planung der Untersuchung
4.1 Das qualitative Paradigma
4.2 Auswahl des Erhebungsverfahrens
4.2.1 Qualitative Interviews
4.2.2 Methodisch-technische Aspekte
4.2.3 Das problemzentrierte Interview
4.3 Der Interviewleitfaden

5. Darstellung der Untersuchung
5.1 Beschreibung der Wohneinrichtung
5.2 Auswahl der Interviewpartner

6. Auswertung der Untersuchung
6.1 Auswahl der Auswertungsmethode
6.2 Definition der Analyseeinheiten
6.3 Bemerkungen zu den Transkripten
6.4 Darstellung und Interpretation der Untersuchungsergebnisse
6.4.1 Wohlbefinden innerhalb der Wohneinrichtung
6.4.2 Empfinden der Wohnzufriedenheit in Bezug auf das Leben in einer Gemeinschaft mit Mitbewohnern und Betreuern
6.4.3 Wahrnehmung des Wohnens in Hinsicht auf Selbstbestimmung und Autonomie aus der Perspektive der Bewohner
6.4.4 Kontakte zu Familie und Freunden innerhalb und außerhalb der Wohneinrichtung
6.4.5 Aussagen zur Beständigkeit der Gruppe

7. Zusammenfassung und Resümee
7.1 Ausblick

Literatur

Einleitung

Die Betrachtungsweise von Menschen mit geistiger Behinderung hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Sie führt weg von einem Defizit orientierten Blickwinkel „hin zu einem kompetenzorientierten und ökologischem Verständnis, welches die Relativität und Relationalität von Behinderung anerkennt“ (Metzler & Wacker 2001, zit. nach Wacker et al. 2005, S. 10). Diese neue Sichtweise lässt sich in allen Bereichen der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung wieder finden, so auch im Bereich Wohnen.

Genau diesem Bereich soll diese Arbeit gewidmet sein. Sie will sich mit der Lebenssituation von Bewohnern in Wohnheimen befassen, d.h. konkret, sie will das Empfinden der Wohnzufriedenheit aus der Perspektive von Menschen mit geistiger Behinderung darstellen. Dies soll exemplarisch anhand eines Wohnheims des Miteinander Leben e. V. in Köln - Rondorf geschehen, in welchem ich seit nunmehr fast drei Jahren arbeite. Um auswertbare Daten zu erheben, werden Interviews mit den Bewohnern und Bewohnerinnen geführt.

Da ich, wie bereits gesagt, seit längerer Zeit im Bereich des Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung tätig bin und das Leben in der genannten Wohneinrichtung dadurch regelmäßig beobachten und miterleben darf, kommt diesem Bereich der Geistigbehindertenpädagogik mein besonderes Interesse zu.

Durch die Tatsache, dass ich während meiner Arbeit an allen Bereichen des Lebens der Bewohner teilnehme, als da wären alltägliche Situationen vom Aufstehen am Morgen bis zum Aufbrechen zur Arbeit sowie der Rückkehr am Nachmittag bis zum Schlafengehen, das Verbringen der Wochenenden ebenso wie besonders individuelle Situationen, z.B. Geburtstags- oder Familienfeiern, bis hin zu sehr persönlichen, quasi intimen Kontakten während der Pflege, ist zwischen den Bewohnern und mir eine besonders vertrauensvolle Beziehung in Hinsicht auf Vertrauen und Vertrautheit entstanden. Daher ist es für mich von besonderem Interesse, das Leben dieser Menschen und ihr individuelles Empfinden für ihre Wohnsituation exemplarisch darzustellen. Eine solche Arbeit kann selbstverständlich immer nur eine Momentaufnahme darstellen, da das Leben der Bewohner immer dem fortlaufenden Wandel der jeweiligen individuellen Lebensverhältnisse sowie den sozial und gesellschaftlich bedingten Versorgungsstrukturen unterworfen ist (vgl. Metzler et al. 1997, S. 109).

Insbesondere die Zufriedenheit mit der eigenen Wohnsituation spielt eine zentrale Rolle im Leben eines jeden Menschen. Nur wenn wir uns wohlfühlen, wenn wir uns „beheimatet“ (vgl. Bollinger 1990, S. 5; Speck 2005, S. 336) fühlen, kann Wohnen als zentraler Wert für ein menschenwürdiges Dasein aufgefasst werden. Wie wichtig das Wohnen auch für Menschen mit geistiger Behinderung ist, zeigen z.B. Wacker et al. (2005, S. 23), indem sie „die häusliche Situation“ an erster Stelle aufführen, wenn sie die ganzheitliche Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung analysieren.

Um dem Begriff der Wohnzufriedenheit mit Inhalt zu füllen, wird in Kapitel 1 dieser Arbeit zunächst einmal der Begriff des Wohnens und der Wohnung betrachtet. Schon Bollinger (1990, S. 4) stellt sich in ihrer Arbeit die Leitfragen, „Was bedeutet Wohnen überhaupt? Welche Bedürfnisse des Menschen können mit dem Wohnen befriedigt werden?“

Diese Fragen sollen im ersten Teil dieser Arbeit beantwortet werden, denn „vor dem neuen Selbstverständnis von Menschen mit Behinderung, Bürger mit gleichen Rechten und mit den Potentialen für eine selbstbestimmte Lebensführung zu sein“ (Wacker et al. 2005, S. 4), sind ihre Bedürfnisse in keiner Weise von den unseren (bzw. denen der empirischen Sozialforschung) zu unterscheiden. Auch die Wohnqualität soll hier nicht unterschlagen werden, ist sie doch maßgeblich entscheidend für die Zufriedenheit mit der Wohnsituation.

In diesem Zusammenhang soll auch gekennzeichnet werden, warum es (insbesondere für Menschen mit geistiger Behinderung) wichtig ist, sich in entsprechendem Alter vom Elternhaus zu lösen und die Verantwortung für das eigene Leben auch selbst zu tragen.

Welche Faktoren im Leben von erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung eine Rolle spielen und wie sie daran mitwirken, diesem Personenkreis ein selbstbestimmtes, autonomes und zufriedenes Leben zu ermöglichen wird im darauf folgenden Kapitel 2 dieser Arbeit diskutiert. Hier sollen aktuelle Prinzipien, Modelle und Leitgedanken der Geistigbehindertenpädagogik wie das Normalisierungsprinzip, die Selbstbestimmt-leben-Bewegung, der Empowerment-Gedanke und ihre Absicherung durch Heimgesetz und SGB IX hinterfragt werden, inwieweit sie auf die Wohnzufriedenheit Einfluss nehmen bzw. was sie dazu beitragen können und wie sie umgesetzt werden (sollten).

Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen wird in Kapitel 3 eine Fragestellung für die empirische Untersuchung entwickelt.

Anhand der in der aktuellen Literatur zu findenden Indikatoren für Wohnzufriedenheit soll dann ein offener Fragenkatalog erstellt werden, mit dessen Hilfe qualitative Interviews geführt werden (Kapitel 4), welche im darauf folgenden Kapitel 5 dargestellt werden. Diese sollen dann in Bezug auf die dargestellten Kriterien der Wohnzufriedenheit untersucht und mit dem aktuellen Stand der Forschung verglichen werden (Kapitel 6).

In einer Abschlussbetrachtung werden die Ergebnisse nochmals zusammengefasst und bewertet (Kapitel 7).

Im Nachfolgenden spreche ich die meiste Zeit von Bewohnern, womit konkret Menschen mit geistiger Behinderung gemeint sind. Da der Begriff der „Geistigen Behinderung“, gleich allen seinen Vorgängern wie z.B. Idiotie, Schwachsinn, Geistesschwachsinn oder als Personenkennzeichnung Geistigbehinderte (vgl. Fornefeld 2002, S. 40; Speck 2005, S.47) negativ belastet ist, versuche ich hauptsächlich die Charakterisierung als Bewohner vorzunehmen. Hierbei ist mir besonders wichtig, dass der Ausdruck „Bewohner“ nicht gleichzusetzen ist mit „Nutzer eines Dienstes/eines Wohnheims“, sondern den beschriebenen Menschen als vollständiges und individuelles Wesen aus dem Betrachtungswinkel eines seiner vielen persönlichen Merkmale, dem des Wohnens, darstellt.

Dennoch ist es wichtig, den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung überblicksartig vorzustellen.

Zunächst möchte ich feststellen, dass es den Menschen mit (geistiger) Behinderung nicht gibt (vgl. Fornefeld 2002, S. 45; Speck 2005, S. 49).

„Die organische Schädigung und ihre geistig-seelischen oder sozialen Folgen sind bei jedem betroffenen Menschen individuell andere. Sie bestimmen dessen Lebenswirklichkeit, die als solche nur begrenzt objektiv erfassbar ist“ (Fornefeld 2002, S. 45f).

Auch Speck (2005, S. 48) stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das, was eine geistige Behinderung ist, nicht sicher und gleich bleibend bestimmt werden kann. Weiterhin führt er aus, das geistige Behinderung ein komplexes Phänomen darstellt, welches individuell zusammengesetzt ist und aus den unterschiedlichsten Bestandteilen und Komponenten besteht, die wiederum bei jedem Menschen auf eine andere Art und Weise in seine Umwelt und sein Umfeld eingeflochten sind.

Der Begriff der „Geistigen Behinderung“ selbst geht zurück auf die 1958 in Marburg gegründete „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e. V.“ (vgl. Fornefeld 2002, S. 41; Speck 2005, S. 43). Da auch der Terminus „Geistige Behinderung“ seitdem wieder einen stigmatisierenden und negativ belasteten Beigeschmack bekommen hat, ist man dazu übergegangen,

„die defizitäre Sichtweise zu überwinden, indem man die kategoriale Festschreibung als „geistig Behinderte“ vermeidet und eine „allgemeine Kategoriebezeichnung wie ‚Kinder’, ‚Erwachsene’, ‚Schüler’, ‚Männer’, ‚Frauen’ voranstellt, die Behinderungsproblematik wird als sekundäres Merkmal oder besser als Kennzeichnung einer besonderen Lebenslagenproblematik beschreibend hinzugefügt (…)“ (Fornefeld 2002, S. 50).

Man spricht also vom „Menschen mit geistiger Behinderung“. In manchen Zitaten dieser Arbeit mag es vorkommen, dass dennoch abweichende Begrifflichkeiten verwendet werden. Diese entsprechen dann selbstverständlich nicht den von mir bevorzugten Bezeichnungen, sondern entstammen dem Originaltext des zitierten Autors.

Zuletzt sollte aus anthropologischer Sicht die Frage gestellt werden: „Was ist der Mensch?“ (Speck 2003, S. 128). Ist er nun ein Mensch, welcher als eines seiner Persönlichkeitsmerkmale eine geistige Behinderung hat oder hat er diese Behinderung nur, weil sie so im Menschenbild des Außenstehenden gefestigt ist?

Der Beantwortung dieser Frage kann und soll der Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht gerecht werden.

An dieser Stelle möchte ich lediglich eine Zusammenfassung des aktuellen Verständnisses von geistiger Behinderung nach Thimm (1999, zit. nach Fornefeld 2002, S. 50) anbieten:

„Die geistige Behinderung eines Menschen wird als komplexer Zustand aufgefasst, der sich unter dem vielfältigen Einfluss sozialer Faktoren aus medizinisch beschreibbaren Störungen entwickelt hat. Die diagnostizierbaren prä-, perie- und postnatalen Schädigungen erlauben keine Aussagen zur geistigen Behinderung eines Menschen. Diese bestimmt sich vielmehr aus dem Wechselspiel zwischen seinen potentiellen Fähigkeiten und den Anforderungen seiner konkreten Umwelt“.

Anmerkungen zur formalen Gestaltung der vorgelegten Arbeit:

Bezüglich der verwendeten Terminologie wird darauf hingewiesen, dass die feminine Form aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung und des Leseflusses nicht explizit gekennzeichnet wird. Die weibliche Form wird sowohl im Singular als auch im Plural einbezogen.

I Theoretischer Hintergrund

1. Wohnen – Mehr als nur ein Dach über dem Kopf

Der Titel dieses Kapitels entstammt einer Informationsbroschüre der Lebenshilfe Österreich (1995, S. 6), mit der sie die Darstellung ihres Wohnkonzepts einleitet. In ihm spiegelt sich besonders gut die Mehrdimensionalität des Begriffs Wohnen wider, beinhaltet er doch nicht nur den Platz zum Schlafen und Essen, sondern „bildet für beinahe jeden Menschen in unserer Gesellschaft den Mittelpunkt ihrer Lebensgestaltung“ (Schwarte & Oberste-Ufer 2001, S. 22). Auch Beck (2006, S. 386) erweitert die Bedeutung des Wohnens über die physische Schutzfunktion hinaus um die soziale und psychologische Funktion. Hier wird Wohnen als Möglichkeit zum privaten und sozialintimen Lebensvollzug bezeichnet.

Wohnen erfüllt also mehr als nur einen Zweck. In der Wohnung vollziehen sich weite Teile des alltäglichen Lebens, in ihr findet der Mensch seinen autonomen Raum, in dem er nach seinen individuellen Vorstellungen leben kann. Die Wohnung stellt somit sozusagen einen „geheiligten Bezirk“ (Sack 1998, S. 194) dar, dessen Unverletzlichkeit in Deutschland einem besonderen Schutz untersteht, dem Hausrecht. Nicht umsonst sind die Strafen für Hausfriedensbruch unverhältnismäßig hoch (vgl. ebd.).

Betrachtet man den Ursprung des Wortes Wohnen wird deutlich, was aus menschlicher Sicht damit verbunden wird. „Wohnen hat mit ‚gewöhnt’ und ‚Gewohnheit’ zu tun und wurde ursprünglich im ganz allgemeinen Sinne von ‚zufrieden sein’, ‚etwas gern haben’, ‚Wohlbehagen empfinden’ gebraucht. Erst später wurde es auf die heutige Bedeutung von ‚sich aufhalten’ und ‚wohnhaft sein’ eingeengt“ (Speck 1998, S. 19).

Für den Menschen ist die eigene Wohnung also ein Ort der Ruhe, des Rückzugs aus der, im wesentlichen fremdbestimmten, Welt und der eigenen Ordnung. Sie entzieht sich „der immer wieder chaotischen Umwelt“ (ebd., S. 22) und bildet einen Raum, der für den Menschen überschaubar ist und in dem er zu sich selbst kommen kann. Hier kann ein selbstbestimmtes Leben geführt werden, welches nicht vor anderen, Außenstehenden, gerechtfertigt werden muss und wo nicht die Gefahr besteht, anderen hilflos ausgeliefert zu sein (vgl. ebd.).

Weiterhin stellt Speck (ebd.) fest, dass die Wohnumgebung unser Leben wesentlich mitbestimmt, da sie Wohlbehagen und Geborgenheit vermittelt, indem sie emotionale Sicherheit gibt, Alltagsbelastungen vergessen lässt und ein Heimatgefühl erzeugt (vgl. ebd., S. 29f). Dem ist prinzipiell zu zustimmen, jedoch möchte ich an dieser Stelle erwähnen, dass sicherlich nicht alle Menschen mit ihrer Wohnsituation bzw. ihrer Wohnumgebung zufrieden sind und daher davon auszugehen ist, dass die von Speck genannten Gefühle auch umgekehrt werden können in Unbehagen, Unsicherheit und ein Gefühl der Heimatlosigkeit.

In erster Linie lässt sich also feststellen, dass Wohnen dem elementaren menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit, Schutz und Geborgenheit entspricht. Neben dieser zentralen Hauptfunktion lassen sich nach Bollinger (1990) und Thesing (1990) vier weitere grundlegende Bedürfnisse nennen, denen die Wohnung gerecht wird.

In seiner Wohnung erfährt der Mensch das Gefühl von Vertrautheit und Beständigkeit, denn sie stellt seinen privaten, von der Außenwelt abgeschlossenen Raum dar. Er identifiziert sich mit seiner Wohnung, indem er sie selbst gestaltet. So entsteht auch das Gefühl des Beheimatet-Seins.

Ein weiteres zentrales Bedürfnis des Menschen ist das der Selbstverwirklichung, welches ebenfalls zu einem großen Teil im Rahmen der Wohnung befriedigt werden kann. Dies geschieht hauptsächlich durch gestalterische Maßnahmen wie z.B. das Streichen der Wände, die Wahl der Möbel und das Dekorieren der Räume.

Ebenso stellt die Wohnung einen Raum für Kommunikation und Kontakt her. Freunde und Familienmitglieder werden eingeladen, in einer guten Nachbarschaft findet ein reger Austausch statt und besondere Anlässe können in ansprechendem Rahmen gefeiert werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Verbindung zur Beständigkeit zu betrachten, da sie Grundlage zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Kontakten und Freundschaften ist.

Zuletzt soll das Bedürfnis nach Selbstdarstellung genannt werden, spielt es doch im Leben eine weitere zentrale Rolle. Über die Art und Weise, wie ein Mensch seine Wohnung einrichtet, präsentiert er sich auch den Menschen, die ihn besuchen. Durch die Dekoration der Räume, beispielsweise mit Postern, Bildern oder Accessoires, kann eine bestimmte Lebenseinstellung oder die Angehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe (z.B. Fußballverein, politische Richtung, Musikgeschmack etc.) offenbart werden. Aber auch durch die Wahl der Möbel und des weiteren Inventars sagt der Bewohner etwas über seine Lebenseinstellung aus (vgl. Bollinger 1990, S. 4ff; Thesing 1990, S. 31ff).

Der Bereich Wohnen ist also als komplexes, viele Faktoren vernetzendes Phänomen zu betrachten, dem der Mensch mit großen Erwartungen entgegen tritt. Diese Erwartungen sind eng gekoppelt an die (individuellen) menschlichen Grundbedürfnisse und die Möglichkeiten ihrer Erfüllung im Bereich Wohnen. Daher sollen diese im folgenden Kapitel näher erläutert werden.

1.1 Menschliche und wohnbezogene Grundbedürfnisse

Jeder Mensch hat bestimmte idealisierte Vorstellungen von seinem Leben, die er verwirklichen möchte. Aus diesem Zusammenhang heraus entstehen Bedürfnisse, welche sich als „Mangelgefühl, verbunden mit dem Wunsch, diesen Mangel zu beseitigen“ (Hondrich 1975, zit. nach Schwarte & Oberste-Ufer 2001, S. 21) charakterisieren lassen. Demnach ist der Mensch ein „bedürftiges Wesen“ (Schwarte & Oberste-Ufer 2001, S. 21), welches nach der Erfüllung bestimmter Bedürfnisse strebt. Diese werden als Grundbedürfnisse bezeichnet und beinhalten den Bereich der physiologischen Bedürfnisse (Nahrung, Sexualität), die bereits genannten Sicherheitsbedürfnisse (Geborgenheit, Vertrautheit, Beständigkeit, Schutz vor Gefahren) sowie die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe (Kontakt, Kommunikation, lieben und geliebt werden), das Bedürfnis nach Achtung (Selbstachtung, Anerkennung und Bestätigung durch andere, Selbstvertrauen und Unabhängigkeit) und zuletzt die Bedürfnisse der Selbstverwirklichung (Aneignung, Entwicklung und Ausdruck von Fähigkeiten) (vgl. ebd.). Diese Grundbedürfnisse lassen sich ebenso bei Thesing (1990, S. 29) wieder finden.

Auch bei Wacker et al. (2005, S. 16) lassen sich verschiedene Kerndimensionen von Lebensqualität finden, welche mit der Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse gleichgesetzt werden können. Hier werden folgende Indikatoren genannt, anhand derer die Lebensqualität eines Menschen (mit geistiger Behinderung) untersucht werden kann: Emotionales Wohlbefinden, soziale Beziehungen, materielles und physisches Wohlbefinden, persönliche Entwicklung, selbstbestimmte Lebensführung, soziale Inklusion sowie der Anspruch auf Rechte (vgl. Schalock et al. nach Wacker 2005, S. 16).

Selbstverständlich sind Grundbedürfnisse in unterschiedlichen Kulturkreisen verschieden ausgeprägt, da sie hauptsächlich kulturell vermittelt werden. Auch spielen die Lebenssituation und das Alter einer Person eine wichtige Rolle, wandeln sich doch die Bedürfnisse im Laufe eines Lebens und damit auch während des menschlichen Reife- und Sozialisationsprozesses. Dennoch existiert „eine grundlegende Gemeinsamkeit aller Menschen [Hervorhebung im Original], unabhängig davon, ob behindert oder nicht, denn die gesamte Bandbreite der Grundbedürfnisse ist für jeden Menschen zu jeder Zeit gültig“ (Schwarte & Oberste-Ufer 2001, S. 21). Begründen lässt sich dies durch die Tatsache, das „Grundbedürfnisse nicht durch kognitive Leistungen bestimmt [Hervorhebung im Original] und daher auch nicht abhängig vom Denkvermögen eines Menschen und seinen lebenspraktischen Kompetenzen“ (ebd., S. 21f) sind.

Im Kontext dieser Arbeit gebührt speziell den wohnbezogenen Bedürfnissen eine besondere Beachtung. Die Wohnung als zentraler Mittelpunkt des Lebens ist der Verbindungspunkt zwischen der äußeren, konstruierten und fremdbestimmten Umwelt und der inneren, individuell gestalteten Lebenswelt. Sie soll allen Bedürfnissen nach Sozialisation, Kommunikation, Erholung und Entspannung sowie der Selbstverwirklichung gerecht werden. Daraus lässt sich schlussfolgernd feststellen, dass Wohnen nicht nur bedeutet, „dauerhaft an einem Ort zu sein“ (ebd., S. 22), sondern vielmehr ein „zentrales soziales Handlungsfeld des Menschen“ (ebd.) repräsentiert und somit auch immer „wertbezogen“ (ebd.) ist, denn die Ansprüche verschiedener Menschen, mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, lassen sich nur schwer miteinander vergleichen. Die eigene Lebensqualität in Bezug auf den Bereich des Wohnens liegt also quasi im Auge des Betrachters, der Beurteilung der Lebens- bzw. Wohnsituation kommt durch die Person selbst eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Wacker et al. 2005, S. 14; Hahn u. a. 2003 nach Speck 2005, S. 336).

Alle hier von mir genannten Aspekte der menschlichen Grundbedürfnisse gelten jederzeit und überall für alle Menschen und somit selbstverständlich auch für Menschen mit geistiger Behinderung. Dennoch stellt die Lebens- und Wohnsituation von Menschen mit geistiger Behinderung ein besonders zu betrachtendes Themengebiet dar, auf das ich mich im Folgenden konzentrieren werde.

1.2 Die besondere Bedeutung der Wohnung für Menschen mit geistiger Behinderung

Um die besondere Bedeutung der Wohnung für Menschen mit geistiger Behinderung darzustellen, bedarf es zunächst eines kurzen Exkurses in die historische Entwicklung ihrer Lebens- und Wohnsituation.

Historische Quellen über das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung lassen sich laut Fornefeld (2002, S. 26) zurück bis in die Antike nachvollziehen. Dabei waren sie, bis auf wenige Ausnahmen, in den meisten Kulturen stigmatisierenden und diskriminierenden Lebensbedingungen ausgesetzt, welche oftmals bis zur vorsätzlichen Tötung und ihrer Vernichtung führten. Erst im 19. Jahrhundert erfuhren sie, ausgehend von karikativen und christlichen Motiven der Nächstenliebe, systematische Pflege. Zwar kam es auch im vorherigen Lauf der Geschichte immer wieder zu Gründungen von entsprechenden Anstalten und Institutionen, deren Aufzählung würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit übersteigen.

Mit Beginn des 19. Jahrhunderts kam es, begünstigt durch die Industrialisierung (bürgerliche Nutzbarkeit) und das Gedankengut der Aufklärung (Recht auf Bildung) zu vielen Anstaltsgründungen. Der prägende Leitgedanke war „vom Almosenempfänger zum Steuerzahler“ (ebd., S. 31), doch auch privates Interesse von Ärzten an den Störungsbildern sowie die Suche nach neuen Erziehungsmethoden durch Pädagogen begünstigte die Lebenssituation für Menschen mit (geistiger) Behinderung. Die Institutionen waren aber meist geprägt von Zentralismus, Massenunterbringung und Fremdbestimmung und hatten somit eher den Charakter von „Verwahranstalten“.

Der mit Beginn des 20. Jahrhunderts wieder stark zunehmende Gedanke der menschlichen Nützlichkeit fand seinen traurigen Höhepunkt in Deutschland durch die nationalsozialistische Politik Hitlers, die Menschen mit (geistiger) Behinderung das Recht zu Leben absprach und zu ihrer systematischen Vernichtung führte, der so genannten Euthanasie. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 waren alle Anstalten und Institutionen geleert, nur die Menschen mit (geistiger) Behinderung, die das Glück hatten, sich zu verstecken bzw. versteckt zu werden, überlebten (vgl. ebd., S. 26ff).

Aus einer solchen Situation heraus konnte natürlich nicht von einem selbstbestimmten, normalen Leben bzw. Wohnen die Rede sein. In einem durch die Kriegseinflüsse sozial und materiell völlig zerstörten Nachkriegsdeutschland entstand nur mühselig ein neues System von Hilfen und Institutionen (Schulen, Horte, Heime etc.) für Menschen mit (geistiger) Behinderung, hauptsächlich ausgehend von Elterninitiativen.

„In den 60er Jahren erkannte man, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht nur der schulischen Erziehung und beruflichen Beschäftigung, sondern auch der angemessenen Wohnmöglichkeiten außerhalb der Familien bedurften“ (ebd., S. 133).

Bis zu diesem Zeitpunkt wurden sie, wenn sie nicht auch im Erwachsenenalter noch bei den Eltern oder anderen Familienmitgliedern wohnten, in großen, totalitären Anstalten und Psychiatrischen Landeskrankenhäusern untergebracht. Der Alltag dort war bestimmt durch (gruppen)konforme Tagesabläufe, ein Minimum an Förderung, deprivatisierende Unterbringung in Massenschlafsälen oder Mehrbettzimmern, einer oftmals großen Distanz zur Familie und mehr oder weniger nicht vorhandener individueller Ansprache durch Betreuer.

Diese Lebenssituation führte zu massiven Verhaltensproblemen, wie z.B. dem Hospitalismus-Syndrom[1], bei den dort wohnenden Menschen, weswegen sich insbesondere ihre Eltern dafür einsetzten, die Wohn- und Lebensverhältnisse ihrer Kinder zu verbessern. Sie beriefen sich auf das aus Skandinavien kommende Normalisierungsprinzip (auf welches im kommenden Kapitel 2 noch konkreter eingegangen werden soll) und erreichten unter anderem die Auflösung und Umstrukturierung vieler Großeinrichtungen in kleinere, familiennahe und gemeindeintegrierte Wohnformen (vgl. ebd., S. 133).

Eine gute Zusammenfassung nach Seifert (1997) lässt sich bei Fornefeld (2002, S. 133) finden: „Die Wohnsituation von Menschen mit geistiger Behinderung hat sich in den letzten 30 Jahren kontinuierlich verändert. Während traditionell die Betreuung der nicht mehr zu Hause lebenden Personen mit geistiger Behinderung vor allem von zentralen großen Behindertenanstalten in konfessioneller Trägerschaft oder von Psychiatrischen Landeskliniken getragen wurde, entstanden in den 60er Jahren als Folge des in Skandinavien formulierten und praktizierten Normalisierungsprinzips überwiegend auf Initiative von Elternvereinen zunehmend kleinere Wohneinrichtungen mit eher wohnortbezogenem Einzugsgebiet. Im Zuge der Integrationsbewegung in den 80er Jahren wurden – vor allem für selbstständigere Bewohner – mehr und mehr gemeindeintegrierte Wohngruppen (z.B. Wohngemeinschaften) eingerichtet, die dem Anspruch auf größtmögliche Normalisierung der Lebensbedingungen und auf Autonomie in der Lebensgestaltung sehr nahe kommen“.

Speck (2005, S. 336f) unterscheidet derartige, normalisierte Wohnbedingungen in zwei Ebenen. Er stellt die äußeren, materiellen Gegebenheiten dem subjektiven Wohlbefinden der Bewohner gegenüber. Zu den äußeren Bedingungen gehört in erster Linie ein für jeden Bewohner ausreichender Privatraum, über dessen Einrichtung und Gestaltung ausschließlich er selbst entscheidet. Dies impliziert selbstverständlich auch die Unantastbarkeit des Privateigentums und die Respektierung der Privatsphäre, nicht nur durch Betreuer, sondern gleichwohl durch Familienmitglieder und Angehörige.

Ebenso wichtig ist die Beständigkeit des Zuhauses, was ein willkürliches Verlegen der entsprechenden Person ausschließen muss. Dies betrifft nicht nur den einzelnen Bewohner, sondern die gesamte Wohngemeinschaft. Sie sollte eine möglichst hohe Kontinuität haben, in der es jedoch keine Zwänge zur Konformität geben darf. Zu guter Letzt sollte die Wohnsituation „ausreichend Gelegenheiten zur persönlichen Gestaltung der Freizeit und zur Pflege von Geselligkeit, Freundschaften und Partnerschaft“ (Speck 1982, zit. nach Speck 2005, S. 336) bereithalten.

Noch wichtiger als dieser äußere Rahmen sind für die Bewohner jedoch das subjektiv empfundene Wohlbefinden und die damit zusammenhängende Wohnzufriedenheit. Diese beiden Faktoren bildet der Mensch nicht durch kognitive, sondern „vielmehr durch emotionale Prozesse [Hervorhebung im Original]“ (Speck 2005, S. 336). Der Alltag im Wohnumfeld festigt das eigene Erleben und verleiht ihm Stabilität, wodurch jeder Mensch individuell stärker oder schwächer ausgeprägt ein Gefühl von Ortsidentität und Zugehörigkeit erfährt. Zu beachten sind hierbei Faktoren wie der persönliche Geschmack, individuelle Interessen und sonstige Vorstellungen vom eigenen Wohnen, die jeder Mensch, je nach Interessen und Sozialisationshintergrund, nur für sich selber entscheiden kann. „Die eigene Wohnwelt gilt als zentraler Referenzpunkt für die Verwirklichung eigener Bedürfnisse und Ziele“ (ebd.). Nur wenn dies realisiert wird, kann die Wohnung als qualitativ hochwertiger Ort eines normalen Lebens aufgefasst und erlebt werden (vgl. ebd., S. 336f).

Menschen mit geistiger Behinderung soll demnach durch das Leben in einer eigenen Wohnung, oder wie es hauptsächlich der Fall ist, dem Leben in einer Wohneinrichtung, mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung ermöglicht werden.

Dies ist auch aus entwicklungspsychologischer Sicht sinnvoll. Die Adoleszenz, das Übergangsstadium der Entwicklung des Menschen von der Kindheit über die Pubertät bis hin zum vollen Erwachsensein, endet mit etwa 18 bis 20 Jahren (vgl. Senckel 2006, S. 104). „In dieser Lebensstufe geht es darum, der vorangeschrittenen emotional-geistigen Loslösung von den Eltern die materielle Verselbständigung folgen zu lassen. Die selbstverantwortete Lebensführung beginnt“ (ebd.). Gerade dieser Loslösungsprozess stellt für Menschen mit geistiger Behinderung eine große Hürde dar. Streben viele von ihnen mit Beginn des jungen Erwachsenenalters nach Selbstständigkeit und Eigenverantwortung, so haben ihre Eltern oft Angst davor „dass es die Kinder’ nicht schaffen, sie sehen Gefahren, sie möchten zurückhalten“ (Lebenshilfe Österreich 1995, S. 11). Somit kommt es oft zu Spannungen und schmerzlichen Sozialisationsprozessen innerhalb der Familie (vgl. ebd.).

Diese schwierige Phase gilt es zu überwinden, um die Möglichkeiten „der unabhängigen Lebensgestaltung“ (Senckel 2006, S. 106) wahrzunehmen und das Freiheitsgefühl zu steigern und damit eine Ich-Identität ausbilden zu können.

Als primäre Faktoren zur Anhebung des Freiheits- und somit auch des Selbstgefühls nennt Senckel (ebd.) die Anpassung des Lebensrhythmus an die eigenen Bedingungen und Bedürfnisse, die Gestaltung des Wohnraums nach dem eigenen Geschmack, den Entzug des kontrollierenden elterlichen Blicks und die Eigenverantwortung für das berufliche Fortkommen. Weiterhin führt sie aus, dass das Gelingen der Bewältigung dieser Aufgaben zu einer Steigerung der Sicherheit, „den praktischen Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein“ (ebd.), führt. Auf der anderen Seite kann die Trennung vom Elternhaus in jungen Erwachsenen aber auch ein Gefühl von Einsamkeit oder Verlassenheit hervorrufen, genauso wie die Angst davor, nicht allen Aufgaben gewachsen zu sein. Dies muss kein permanentes Gefühl darstellen, sondern kann auch temporär auftreten. Durch diese Erfahrung und die Erkenntnis, „daß (sic!) eine freiheitsschenkende Wahl zugleich Verpflichtungen mit sich bringt“ (ebd.), vollzieht sich ein wichtiger Reifungsschritt. Nur so können junge Erwachsene ihre Kraft erleben, Fähigkeiten einsetzen und erweitern, die Umsetzung ihrer Ideal- und Wertvorstellungen erproben und in Bezug zur Realität setzen und ihr Belastungsniveau schulen (vgl. ebd., S. 106ff).

Betrachtet man nun diesen entwicklungspsychologischen Schritt in Hinblick auf Menschen mit geistiger Behinderung, fallen gewisse Einschränkungen, denen sie unterliegen, deutlich auf.

„Denn aus ihrer Behinderung folgt ja gerade, daß (sic!) sie nicht in der Lage sind, alle für ein selbständiges Leben notwendigen Fähigkeiten in hinreichendem Maß zu erwerben. Deshalb bleiben sie ihr Leben lang auf besondere, ihrem Entwicklungsstand angepaßte (sic!) Unterstützung in emotionalen, kognitiven und lebenspraktischen belangen angewiesen (…)“ (ebd., S. 109).

Hierbei gilt besonderer Aufmerksamkeit, dass erwachsene Menschen auch als solche angesprochen werden müssen, auf der Kommunikationsebene ist demnach eine Altersgemäßheit zu beachten. So steigert das neue Lebensumfeld die Reifungschancen und die Verselbstständigung (vgl. ebd., S. 110ff).

Ebenfalls sehr bedeutsam für das Leben der Bewohner ist die Tatsache, dass sie mit der Aufnahme in eine Wohneinrichtung oftmals an einen Lebensort gelangen, „an dem sie über viele Jahre und Jahrzehnte verbleiben“ (Häussler-Sczepan 1998, S. 57). Dies belegt unter anderem eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend[2]. Das gilt es explizit zu beachten, denn „welche Wohnform für einen Menschen mit geistiger Behinderung die beste ist, kann stets nur auf den Einzelfall bezogen und unter weitestgehender Beteiligung des Betroffenen entschieden werden“ (Schwarte & Oberste-Ufer 2001, S. 22). Vor dem Grundsatz, „dass Menschen mit geistiger Behinderung so normal wie möglich leben können [sollen] und dazu jede Hilfe bekommen, die sie brauchen“ (ebd., S. 24) wird deutlich, wie wichtig es für sie ist, die Wohnsituation so weit es nur geht selbst zu bestimmen und an die individuellen Bedürfnisse und Wünsche anzupassen – dies gilt selbstverständlich unabhängig vom Grad und der Schwere der Behinderung für jede betroffene Person (vgl. ebd.).

Schlussfolgernd lässt sich festhalten, dass es für Menschen mit geistiger Behinderung ein wichtiger Schritt im Leben ist, das Elternhaus zu verlassen um ein eigenverantwortliches Leben zu führen. Durch die neue Lebens- und Lernsituation können sie ihre Kompetenzen erweitern und die Eigenverantwortung für sich selbst übernehmen. Hierbei gilt es jedoch besonders zu beachten, dass die Leitung und Konzeption einer entsprechenden Wohneinrichtung in einem Höchstmaß dafür verantwortlich ist, ob und wie dem Menschen mit geistiger Behinderung Eigenverantwortung zugesprochen wird und inwieweit sie ein selbstbestimmtes Wohnen zulässt!

2. Leitideen und Prinzipien des Wohnens von Menschen mit geistiger Behinderung

Im vorhergehenden Kapitel wurde deutlich aufgezeigt, dass das Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre damit verbundenen Bedürfnisse sich nicht von den allgemeingültigen wohnbezogenen Bedürfnissen unserer Gesellschaft unterscheiden. Dennoch ist dieses Wohnen in den meisten Fällen durch ein Leben in Gemeinschaft in einer Wohneinrichtung geprägt und „Leben im Heim bedeutet eine Existenzform mit Kompromissen“ (Metzler & Wacker 1998, zit. nach Häussler-Sczepan 1998, S. 77). Um ihnen dort ein Höchstmaß an selbstständiger Lebensführung zu gewährleisten wurden in der Geistigbehindertenpädagogik verschiedene Leitideen und Prinzipien entwickelt, welche die heutige Arbeit in Wohneinrichtungen bestimmen. Thesing (1990, S. 42) stellt die Frage: „An welchen Leitbildern orientieren sich Betreuer, verantwortliche Träger, Politiker, wenn sie das Wohnen behinderter Menschen anregen, planen, konzipieren und realisieren?“. Diese Frage soll im Folgenden beantwortet werden, da sie von grundlegender Bedeutung für die Arbeit von Wohneinrichtungen und der damit verbundenen Wohnzufriedenheit der Bewohner ist.

Zu diesen Leitideen und Prinzipien gehören das Normalisierungsprinzip, der Leitgedanke der Selbstbestimmung, die Prinzipien der sozialen Integration und Inklusion ebenso wie die Idee des Empowerments (vgl. Fornefeld 2002; Thesing 1990). Die Einhaltung dieser Richtlinien werden durch das HeimG[3] und das SGB IX[4] gesichert, weswegen diesen auch besondere Beachtung zukommt.

2.1 Das Normalisierungsprinzip

Der Ansatz des Normalisierungsprinzips geht zurück auf den Dänen Niels Erik Bank-Mikkelsen, dessen schriftliche Formulierung dieses Prinzips 1959 Eingang in das dänische „Gesetz über die Fürsorge für geistig Behinderte“ fand (vgl. Thimm 1979, S. 20). Bank-Mikkelsen sagte, Menschen mit geistiger Behinderung sollten ein Leben so nah wie möglich an der Normalität leben können[5].

Dieser Grundgedanke wurde Anfang der 70er Jahre von dem Schweden Bengt Nirje aufgegriffen und in acht Grundprinzipien konkretisiert, welche sich zu den wichtigsten der heutigen Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung etabliert haben. Sie lassen sich wie folgt beschreiben:

[...]


[1] Das Hospitalismus-Syndrom beschreibt eine Form von Deprivationserscheinungen, die durch mangelnde Privatsphäre oder die „Außerkraftsetzung notwendiger sozialer Kontakte“ (Antor & Bleidick 2006, S. 212) ausgelöst werden.

[2] Häussler-Sczepan, M. (1998): Möglichkeiten und Grenzen einer selbständigen Lebensführung in Einrichtungen: integrierter Gesamtbericht zur gleichnamigen Untersuchung.

Hrsg.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Stuttgart

[3] Heimgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. November 2001 (BGBI. I S. 2970), zuletzt geändert durch Artikel 78 der Verordnung vom 31. Oktober 2006 (BGBI. I S. 2407).

[4] Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (Artikel 1 des Gesetzes vom 19. Juli 2001, BGBI. I S. 1046), zuletzt geändert durch Artikel 28 Abs. 1 des Gesetzes vom 7. September 2007 (BGBI. I S. 2246).

[5] „Letting the mentally retarded obtain an existence as close to normal as possible. “ (Bank-Mikkelson zitiert nach Thimm 1979, S. 20)

Ende der Leseprobe aus 128 Seiten

Details

Titel
Empfinden der Wohnzufriedenheit aus der Perspektive von Menschen mit geistiger Behinderung
Hochschule
Universität zu Köln
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
128
Katalognummer
V130217
ISBN (eBook)
9783640357253
ISBN (Buch)
9783640357086
Dateigröße
1045 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Empirische Staatsarbeit
Schlagworte
Empfinden, Wohnzufriedenheit, Perspektive, Menschen, Behinderung
Arbeit zitieren
Patrick Schickedanz (Autor:in), 2008, Empfinden der Wohnzufriedenheit aus der Perspektive von Menschen mit geistiger Behinderung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/130217

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Empfinden der Wohnzufriedenheit aus der Perspektive von Menschen mit geistiger Behinderung



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden