Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Historische Einordnung der Traumdeutung
1.1 Revisionen der Traumdeutung
1.2 Einführung in den Inhalt der Traumdeutung
1.3 Freuds Übergang von der Neurologie zur psychologischen Traumtheorie
2. Landkarten der Psyche als Modelle derTraumtheorie
2.1 Das erste topographische Modell: unbewusst, vorbewusst und bewusst
2.1.1 Der Abwehrmechanismus der Verdrängung
2.1.2 Traumdeutung als Königsweg zur Kenntnis des Unbewussten
2.2 Das zweite topographische Modell: Ich, Es, Über-Ich
3. Traumentstehung und Traumfunktion
3.1. Traumquellen
3.2 Traumzensur und Traumarbeit: Umwandlung latenter Traumgedanken in manifesten Trauminhalt
3.3 Mittel der Traumarbeit: Verdichtung und Verschiebung
3.4 Der Traum als (Versuch einer) Wunscherfüllung
3.5 Der Traum als Hüter des Schlafes
4. Traumdeutung: Umwandlung des manifesten Trauminhalts in latente Traumgedanken
4.1 Kritische Auseinandersetzung mit der Freudschen Symbolauffassung
4.2. Annäherung an die kontemporäre psychoanalytische Traumdeutung
5. Diskussion
Literaturverzeichnis
„Erst Freud stellt zum ersten Male fest, daß die Träume zur Stabilisierung unseres seelischen Gleichgewichts notwendig sind. Der Traum ist ein Ventil unserer Gefühlskraft1
Einleitung
Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Träume etwas über Ihre Persönlichkeit aussagen? Wahrscheinlich ja - und laut Sigmund Freud (1856-1939) haben Sie Recht. Der Begründer der Psychoanalyse hat eine Traumtheorie ausgearbeitet, in der die Beschaffenheit der Persönlichkeit eine Schlüsselrolle spielt (Berner, 2018, S. 17).
Sein epochemachendes Werk Die Traumdeutung (1900) gilt als die Geburtsstunde der Psychoanalyse (Grubrich-Simitis, 1999, S. 35; Müller, 2019, 2:48-2:58). Seitdem hat sie sich eine hohe Stellung erworben, wenn es um die Be-Deutung von Träumen geht. Kaum ein Thema hat mehr Anklang in der psychoanalytischen Community gefunden. Darüber hinaus hat jede psychoanalytische Schule zusätzlich eigene Vorstellungen zur Traumtheorie und -deutung entwickelt. Dabei ist die Psychoanalyse nicht die erste psychotherapeutische Technik, die dem Traum eine wichtige Rolle einräumt, sondern Erbin der antiken Kunst aus Träumen Weisheiten zu lesen: der Oneiromantie (Müller, 2019, 3:48-4:45). Nach Mertens (2009, S. 9f.) hat die Beschäftigung mit Träumen eine lange religiös-kultische Tradition in der Menschheitsgeschichte. So widmet der babylonische Talmud, dessen Anfänge bis ca. 1.500 Jahre v. Chr. zurückreichen, einen Großteil seines Inhalts den Träumen. Hier haben Träume nicht nur eine prophetische Kraft, sondern wirken auch gestaltend auf das politische Leben ein. Im fünften Jahrhundert v. Chr. kommt der griechische Philosoph Platon (ca. 428-347 v. Chr.) zu dem Schluss, dass Trauminhalte ein exzeptionelles Mittel der Selbsterkenntnis und der Therapie sind. In diesem Punkt lässt er sich mit Freud vergleichen. Platons Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.) weist daraufhin, dass die Aktivität, der nach außen gerichteten Sinnesorgane während des Schlafes herabgesetzt ist und daher die inneren Traumvorstellungen nicht von äußeren Reizen ausgelöst sein können. Für ihn sind Träume das Resultat der gesteigerten Introspektionsfähigkeit der Seele im Traum. Der griechische Traumforscher Artemidoros von Daldis (134-200 n. Chr.) sammelt und wertet Träume auf systematische Art und Weise aus und verfasst fünf Traumbände, die verschiedene Traumarten und -Symbole beschreiben (Mertens, 2009, S. 10; Freud, 1900a, S. 102). Darüber hinaus erwähnt Mertens (2009, S.10), dass Träume auch in der Bibel enthalten sind. Die berühmtesten sind die des Pharaos und ihre Deutung durch Joseph, dass sieben fette Kühe und sieben dicke Ähren sieben Jahre Fruchtbarkeit, beziehungsweise sieben hässliche Kühe und sieben dünne Ähren sieben Jahre Hunger bedeuten.
Kemper (1977, S. 12) zufolge suchen Menschen in der Vergangenheit vor großen Entscheidungen Rat bei Traumdeutem2. Beispielsweise halten die römischen Herrscher Caesar (100-44 v. Chr.) und Nero (37-68 n. Chr.) persönliche Traumdeuter. Wie auch Alexander der Große (356-323 v. Chr.), der bei der Belagerung der Stadt Tyros den Truppenabzug in Erwähnung zieht aber letztlich doch bleibt und Tyros erobert, da sein Traum von einem Satyros (= Satyr) von seinem Traumdeuter als Sa-Tyros (= Tyros ist dein!) gedeutet wird (Freud 1900a, S. 102). Kemper (1977, S. 11) führt weiter aus, dass Träume auch in der Heilkunst eine große Rolle spielen. So besteht die Heilbehandlung im Asklepios-Kult aus einem sakralem Tempelschlaf. Asklepios, der griechisch-römischen Gott der Heilung, wird gehuldigt, indem der Kranke im Tempel des Asklepios schläft beziehungsweise träumt. Im Traum werden dem Leidenden Diäten, Heilmittel oder Kuren offenbart oder die Heilung ereignet sich gleich im Schlaf (Kemper, 1977, S.ll &S. 27; Müller, 2019, 6:11-6:40). Battegay (1984, S. 195) legt dar, dass sich in der Vergangenheit verschiedene Berufsgruppen mit der Deutung von Träumen beschäftigen. Ob Priester, Ärzte, Schamanen, Dichter, Mystiker oder Berufstraumdeuter, sie alle setzen sich mit den verschiedenen Aspekten von Träumen auseinander und versuchen das Interesse der Menschen an Traumbedeutungen zu stillen. Im Volksmund herrschen unterschiedliche Vorstellungen gegenüber Träumen vor und es existiert eine Abwehr gegen ängstigende Trauminhalte. Nichtsdestotrotz hat es auch immer den Glauben gegeben, dass der Traum wichtige Botschaften oder sogar göttliche Offenbarungen enthält oder richtungsweisend sein kann.
Müller (2019, 6:43-6:53) erläutert, dass mit Beginn der Neuzeit und der damit einhergehenden Bevorzugung der Tagesseiten des Denkens, der Traum langsam seine gesellschaftliche und kultische Bedeutung verliert. Mertens (2009, S. 11) fügt hinzu, dass mit dem Zeitalter der Aufklärung, (englisch: Age of Enlightenment = Zeitalter der Erleuchtung) eine bis heute andauernde Richtung eingesetzt hat, die Vernunft, Rationalität und objektiv überprüfbares Wissen in das Zentrum ihres Erkenntnisinteresses rückt.
Mertens (2009, S. 12) führt aus, dass alles was sich nicht der Kontrolle der Objektivierbarkeit fügt, in diesem Forschungsparadigma als unwissenschaftlich gewertet wird. Doch subjektive Phänomene, wie der Inhalt eines Traumes, sind lediglich durch nicht objektivierbare Introspektion erfassbar. Doch auch objektive Daten lassen sich von Träumen durch neurologische Messungen gewinnen. Die neurophysiologische und experimentelle Erforschung von Träumen beginnt 1861 mit Alfred Maury‘s (1817-1892) Veröffentlichung Le sommetl et le reves. Maury's Kollege, Marquis Hervey de Saint-Denis (1822-1892), vertritt die These, dass das Traumgeschehen durch Autosuggestion vor dem Einschlafen willentlich beeinflusst werden kann. Er kann als Pionier des luziden Träumens, des bewussten Träumens, bezeichnet werden. Ende des 19. Jahrhunderts gilt die Psychologie des Traumes aber generell nur als Hilfsmittel der Physiologie. Sie ist in der psychophysikalischen oder behavioristischen Tradition nicht von Relevanz. Die psychologische Wissenschaft, die experimentelle Psychologie, deren erstes Institut Wilhelm Wundt (1832-1920) 1879 in Leipzig gründet, ist der Physik nachempfünden: es geht um objektiv von außen Beobacht- und Messbares.
Battegay (1984, S. 195) beschreibt, dass Freud das Verdienst zukommt, den Traum als subjektives Phänomen und damit einhergehend die psychologische Traumdeutung auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Mertens (2009, S. 7) konkludiert, dass Freuds psychologische Traumtheorie bis heute - für Freudianer, als auch für Gegner - der Ausgangspunkt für Weiterentwicklungen, Modifizierungen und Kritik ist. Beispielsweise haben die Psychoanalytiker Alphonese Mäder (18821971), Harald Schultz-Hencke (1892-1953) und Carl Gustav Jung (1875-1961) Freuds Traumlehre entsprechend ihren eigenen Auffassungen modifiziert. Wissenschaftstheoretiker Karl Popper (19021994) ist überzeugt, dass „Freuds Traumanalysen ... im wesentlichen korrekt sind“ (Popper, 2002, S. 190). Er kritisiert diesejedoch auch als unvollständig und einseitig, da Beobachtungen nur die Theorie stützen sollen und anstelle dieses Verifikationismus eine kritische Haltung sowie die Möglichkeit der Falsifikation fehlt.
Ein allumfassender Vergleich verschiedener psychoanalytischer Traumtheorien ist in dieser Arbeit nicht möglich. Des Weiteren verzichtet diese Arbeit auf eine neurobiologische Darstellung der Träume. Es sei hier sowohl auf Bücher von Hobson und Allan The dreaming brain (1990) und Zadra und Stickgold When brains dream (2021), als auch auf die Artikel von Wamsley Memory: How the brain constructs dreams (2020) und Siclari et al. The neural correlates of dreaming (2017) verwiesen.
Bei der Recherche wurde sich weitestgehend auf psychoanalytische Autoren konzentriert. Folgende Werke waren essenziell für meine Forschung: Die ersten beiden Bücher Traum und Träumen (2009) von Michael Ermann und Traum und Traumdeutung (2014) von Wolfgang Mertens bieten einen guten Überblick und komprimiertes Wissen psychoanalytischer Traumtheorie. Beide haben dazu beigetragen, mich als Einsteiger zurechtzufmden. Die Traumdeutung (1900), Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916-17) und Neue Folgen der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933) waren hilfreich, um Freuds Traumtheorie in eigenen Worten nachzuvollziehen und tiefer zu verstehen. So konnte ein umfassender Einblick in die Zusammenhänge der Traum- und Symptomgenese geschaffen werden. Darüber hinaus haben die Artikel Die Traumdeutung nach Sigmund Freud (2014) von Raymond Battegay, Die Traumdeutung und Traumtheorie Sigmund Freuds (2018) von Werner Berner und das Buch Der Traum und seine Be-Deutung (1977) von Werner Kemper weitere Perspektiven hinzugefügt und mein Denken erweitert.
Eine wissenschaftshistorische Einordnung von Freuds Traumlehre und seiner Traumdeutung erfolgt in Kapitel 1. An dieser Stelle wird veranschaulicht, warum Freud mit der Publikation Mut gezeigt hat und was das Bahnbrechende an seiner Traumtheorie ist. In Kapitel 2 wird in die erste und zweite Topik eingeführt und erläutert, warum ihre Kenntnis Grundlage für das Verständnis der Traumgenese und -funktion ist. Darauf aufbauend wird in Kapitel 3 darauf eingegangen, wie ein Traum entsteht und wie eng die Traumbildung an die Traumfunktion geknüpft ist. In diesem Hauptteil der Arbeit wird außerdem dargelegt, warum Freud zwei verschiedene Traumfelder, die latenten Traumgedanken und den manifesten Trauminhalt, voneinander abgrenzt. In Kapitel 4 erfolgt die Beschreibung der Traumdeutung. Im Unterkapitel wird sich nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Freudschen Symbolik, der zeitgenössischen psychoanalytischen Traumdeutung angenähert.
Ziel dieser Hausarbeit ist es, Freuds Traumlehre historisch einzuordnen, ihre Grundlagen zu umreißen und einige gegenwärtige Anpassungen aufzuzeigen.
Es wird die Hypothese aufgestellt, dass der Traum einen hohen Stellenwert in der Psychoanalyse hat, da die zugrundeliegenden psychologischen Mechanismen sowohl bei Kranken als auch bei Gesunden vorkommen. Was ist das Besondere an Freuds Traumtheorie und warum ist Die Traumdeutung ein Jahrhundertbuch?
1. Historische Einordnung der Traumdeutung
Nach Mertens (2009, S. 14) ist Die Traumdeutung ein epochales Werk für die Psychoanalyse, da gezeigt wird, dass sie nicht nur für Psychopathologien, sondern auch für das Verständnis normalpsychologischer Vorgänge unerlässlich ist. Die junge Psychoanalyse erfährt einen Meilenstein in ihrer Entwicklung, denn sie ist nicht mehr nur „Hilfswissenschaft der Psychopathologie“ (Freud, 1925d, S. 46), sondern „der Ansatz zu einer neuen und gründlicheren Seelenkunde“ (ebd.). Außerdem öffnet sich ihr "der Weg ins Weite, zum Weltinteresse" (ebd.), denn "man darf ihre Voraussetzungen und Ergebnisse auf andere Gebiete des seelischen und geistigen Geschehens übertragen" (ebd.). Sechs Jahre vor seinem Tod schlussfolgert Freud, dass seine Traumtheorie „das Kennzeichnendste und Eigentümlichste“ (Freud, 1933a, S. 6) der Psychoanalyse ist, denn sie stellt einen Wendepunkt in ihrer Geschichte dar: „mit ihr hat die Analyse den Schritt von einem therapeutischen Verfahren zu einer Tiefenpsychologie vollzogen“ (ebd.).
Mertens (2009, S. 17) merkt an, dass die Traumdeutung nicht nur ein wissenschaftliches Werk, sondern auch eine Autobiographie ist. Den autobiographischen Bezug macht Freud im Jahr 1909 selbst im Rahmen der ersten Revision der Traumdeutung deutlich: „Für mich hat dieses Büchlein eine subjektive Bedeutung ... Es erwies sich mir als ein Stück meiner Selbstanalyse, als eine Reaktion auf den Tod meines Vaters“ (1900a, S. 24). Mertens (2009, S. 14) führt aus, dass Freud viele eigene Träume als Beispiele in das Werk einbringt und sein Interesse an Träumen im Jugendalter beginnt. Letztlich findet er durch die Arbeit mit Patienten zu intensiver Beschäftigung mit Träumen. So schreibt Freud bereits 1893 in einem Brief an seine Schwägerin, dass er im Bibliothekszimmer übernachtet und „die schönsten Studien über merkwürdige Träume“ (Freud und Bemays, 2005k, S. 233) machen kann, „was in 10 Jahren eine schöne Arbeit... ergeben wird“ (ebd.). Mertens (2009, S. 14) stellt fest, dass Freuds Traum von "Irmas Injektion", (geträumt am 24. Juli 1895), als Initialtraum der Psychoanalyse gilt. Im Traum steht Freud in einer Halle mit vielen Gästen, worunter auch seine Patientin Irma ist. Er kritisiert sie im Traum, da er glaubt sie würde seine Behandlung nicht akzeptieren aber fühlt sich ebenso schuldig seiner Patientin nicht besser helfen zu können. Freud deutet diesen Traum in der Traumdeutung im Detail und viele Analytiker haben sich an einer Deutung versucht (vgl. Mertens, 2009, S. 41).
Mertens (2009, S. 14f.) und Grubrich-Simitis (1999, S. 37) merken an, dass Die Traumdeutung schon 1896 in ihren grundlegenden Argumentationslinien abgeschlossen ist aber erst im Sommer 1899 fertiggeschrieben wird. Im November 1899 liegt die Arbeit gedruckt vor, welche vom Verleger auf das Jahr 1900 vordatiert wird. Das über 600 Seiten starke Werk bildet mit der kürzeren Arbeit Über den Traum (1901) Band 2 und 3 Freuds gesammelter Werke und stellt für die kommenden Jahre seine wichtigste Schrift dar. Nach Mertens (2009, S. 15) hofft Freud im stillen auf Anerkennung seiner Forschungsleistung und dieser schreibt am 12.6.1900 an seinen Berliner Arztkollegen und Vertrauten Wilhelm Fließ (1858-1928): „Glaubst Du eigentlich, daß an dem Hause dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird:? ,Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes“‘ (Freud, 1986, S. 458). Tatsächlich steht seit dem 6. Mai 1977 auf einer Grünfläche im 19. Wiener Bezirk, in der Himmelstraße 115 ein Steinsockel mit einer Metalltafel mit diesem Text (Mertens 2009, S. 16; Ermann, 2014, S. 20).
1.1 Revisionen der Traumdeutung
Grubrich-Simitis (1999, S. 45) merkt an, dass die Wirkungsgeschichte des Jahrhundertbuchs im heutigen rasanten Zeitalter der Informationstechnologie aus zwei Gründen nicht wiederholbar ist. Erstens, wartet heute kein Verleger mehr zehn Jahre, bis die gesamte Erstausgabe verkauft ist. Zweitens ist es heutzutage nicht möglich, dass in einem Wissenschaftszweig ein Paradigmenwechsel durch eine Monografie ausgelöst wird (ebd.). Mertens (2009, S. 15) erläutert, dass der Autor sein Werk regelmäßig aktualisiert und es mit Fußnoten auf den neuesten Erkenntnisstand hält. Im Jubiläumsband Hundert Jahre „Traumdeutung“ von Sigmund Freud (1999) analysiert Grubrich-Simitis (1999, S. 45-65) alle Revisionen. Nach der Erstausgabe wird das Buch weitere sieben Male revidiert: 1909, 1911, 1914, 1919, 1921, 1922 und 1930 (S. 47).
Grubrich-Simitis (S. 50f.) erläutert, dass die Bedeutung der Symbolik in der zweiten Auflage 1909 und mehr noch in der Dritten 1911 in das Zentrum rückt. Für das Verständnis des manifesten Texts ist eine Symbolübersetzung hinzugekommen mit der Annahme, dassjeder Traum auf Traumszenarios fußt, die universelle Gültigkeit haben. Außerdem wird der berühmte Satz: „Die Traumdeutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben“ (Freud, 1900a, S. 612) hinzugefügt und damit Anspruch erhoben eine Psychologie begründet zu haben, die pathologische wie normale Phänomene umfasst. Ab 1911 wird das Werk durch Inkludierungen von Otto Rank (1884-1939), Hans Sachs (18811947) oder Sandor Ferenczi (1873-1933) in manchen Kapiteln zum Kollektivwerk (Grubrich-Simitis, 1999, S. 51). Ab 1914 wird Artemidoros von Daldis und weitere Traumliteratur verschiedener Epochen hinzugefügt und zeitgenössischen Traumtheorien mehr Aufmerksamkeit geschenkt (S. 55).
Die fünfte Auflage 1919 enthält Vorzeichen zukünftiger Werke, wie von Das Ich und das Es (1923) und neu hinzugefügtes Traummaterial ist von Krieg geprägt (56f). Dazu kommt, dass Freud die Gemeinsamkeit von Traum und Neurose deutlicher hervorhebt und den Kollektivcharakter des Werkes weiter pflegt (S. 58). Die sechste und siebte Auflage erscheint aus Kostengründen aufgrund der Nachkriegsphase nur äußerlich verändert (S. 59). Freud bezeichnet sein Werk in der fünften Auflage als ,historische Eigenart (Freud, 1900a, S. 26 zitiert nach Grubrich-Simitis, 1999, S. 58) und somit als schutzbedürftig und arbeitet deshalb Erkenntnisse aus Jenseits des Lustprinzips (1920) und Das Ich und das Es (1923) nicht ein (Grubrich-Simitis, 1999, S. 60). Eine neue Fassung der Triebtheorie und eine neu konzipierte Strukturtheorie würde das Werk in seinen Grundfesten erschüttern. Ein lebensgeschichtlicher Grund, der zur historisierenden Haltung gegenüber der Erstausgabe beiträgt, ist die Krebsdiagnose Freuds 1923. Diese nimmt der Internationale Psychoanalytische Verlag zum Anlass seine Gesammelten Schriften zu veröffentlichen. Freud entscheidet sich in Band II sein Werk in seiner Urgestalt und in Band III alle Revisionen und Ergänzungen einzufügen. Dennoch revidiert Freud Band III und fügt Hinweise zu seinen jüngsten metapsychologischen Überlegungen ein (S. 61). Außerdem kommt ein Zusatzkapitel mit drei Abschnitten hinzu: Die Grenzen der Deutharkeit, Die sittliche Verantwortungfür den Inhalt der Träume vm&Die okkulte Bedeutung des Traumes (S. 63). Prophetische und telepathische Träume sind den okkulten Phänomenen zuzurechnen und während Freud erstere verwirft, schimmert bei der Erklärung letzterer das Konzept der projektiven Identifizierung durch. Dies wurde aber in der achten Ausgabe 1930 in Frage gestellt (ebd.).
In dieser letzten Auflage wird ein persönlicher Kriegstraum aus dem Jahr 1919 aus der Fußnote in den Haupttext verschoben (S. 65). Freud träumt die Kriegsrückkehr seines Sohnes: Dieser ist verletzt, trägt eine Kopfbinde, unter welcher graues Haar hervorschimmert. Durch schonungslose Selbstanalyse verknüpft Freud den Traum mit einem eigenen Kindheitsunfall, erkennt dabei ein Gefühl von Schadenfreude sowie von Neid auf die Jugend seines Sohnes und dass er ihm gegenüber sogar Todeswünsche hegt (vgl. S. 57 & S. 65). Grubrich-Simitis (1999) sieht in der zentraleren Textplatzierung eine „Abschiedsgeste“ (S. 65), so als will Freud letztmalig auf seine Hauptmethode hinweisen, durch die ihm die in der Traumdeutung vermittelten Erkenntnisse zuteilgeworden sind: radikale Selbsterforschung. Darüber hinaus will Freud nochmals Konturen seines Menschenbilds deutlich machen, welches, trotz aller zivilisatorischen Bemühungen, wenig Ehrenvolles, viel Destruktives sowie spannungsgeladene Ambivalenz ausmacht (S. 65).
In anderen Publikationen kehrt Freud immer wieder zum Thema des Traumes zurück und laut Freudforscher Thomas Köhler (o. D., in Mertens, 2009, S. 15) ist die Traumlehre Freuds konstantester Theorieteil. In Tabelle 1 werden alle Publikationen Freuds zum Thema Traum und Traumdeutung aufgeführt (vgl. Mertens, 2009, S. 15).
Tabelle 1 Freuds Publikationen zum Thema Traum und Traumdeutung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.2 Einführung in den Inhalt der Traumdeutung
Berner (2018, S. 17) fuhrt aus, dass es Freud in der Traumdeutung inhaltlich um den psychologischen Wert der Träume geht. Freud möchte dem tief verwurzelten Volksglauben, dass Träume uns etwas zu sagen haben, auf die Spur kommen. Er sieht sie nicht als psychopathologische Symptome, sondern vermutet ähnliche Mechanismen, die auch bei der Pathogenese von Neurosesymptomen eine Rolle spielen. Für Freud ist der Traum ein sinnergebendes, interaktionales Gebilde psychischen Ursprungs. Dadurch werden Träume entmystifiziert und allgemein verständlich erklärt (ebd.). Seine Traumlehre ist „ein Stück Neuland, dem Volksglauben und der Mystik abgewonnen“ (Freud, 1933, S. 6). Daher, so Berner (2018, S. 17), ist die Hauptmethode der Freudschen Traumdeutung die Selbstbeobachtung und -befragung. Der Inhalt ist nur aus der individuellen Lebensperspektive, der eigenen Psychodynamik heraus, verständlich.
Interessanterweise vermuten die Ethnopsychoanalytiker Erdheim und Nadig (o. D., in Mertens, 2009, S. 17), dass nicht die Erkenntnisse der Traumdeutung, sondern die Selbstoffenbarung des Naturwissenschaftlers darin, die Fachwelt am meisten schockiert. Freud teilt mit großer Offenheit seine Einfälle zu seinen Träumen mit und reflektiert sich systematisch selbst. Nach Mertens (2009, S. 17f.) würde die Anerkennung der Traumdeutung demnach bedeuten, denselben Anspruch an Selbstreflexion für sich zu adaptieren. Aber dazu sind viele Wissenschaftler damals wie heute nicht bereit. Freud zeigt auch dadurch Mut, dass er eine psychologische Betrachtungsweise in einer Zeit wählt, in der diese stark abgewertet wird. Der Neurologe und Himanatom mit über 100 neurowissenschaftlichen Veröffentlichungen verlässt damit seine wissenschaftliche Sozialisation und geht ein Reputationsrisiko ein (S. 18).
1.3 Freuds Übergang von der Neurologie zur psychologischen Traumtheorie
In den Jahren vor der Traumdeutung quälen Freud zwei Absichten (Freud, 1950c, 1895, S. 376). Erstens „nachzusehen, wie sich die Funktionslehre des Psychischen gestaltet, wenn man die quantitative Betrachtung, eine Art Ökonomik der Nervenkraft, einfuhrt, und zweitens aus der Psychopathologie den Gewinn für die normale Psychologie herauszuschälen“ (ebd.). Er möchte also seine neurowissenschaftlichen Erkenntnisse für die Psychologie nutzen und in der Lage sein, dynamische psychische Vorgänge zu beschreiben. Nach Freud ist eine „befriedigende Gesamtauffassung der neuropsychotischen Störungen“ (ebd.) nur möglich, wenn man „an klare Annahmen über die normalen psychischen Vorgänge anknüpfen kann“ (ebd.). Die alleinige Beschreibung der Psychopathogenese ohne grundlegende Beschreibung psychischer Vorgänge funktioniert nach ihm nicht und der Neurologe formuliert die Absicht eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern (ebd.). So äußert er, dass „die Psychologie vonjeher mein fern winkendes Ziel“ ist (ebd.) und dass er sich ganz diesem Ziel verschreibt: ,,[s]olcher Arbeit habe ich in den letzten Wochenjede freie Minute gewidmet“ (ebd.).
Laut Northoff (2012, S. 1) ist der Entwurf einer Psychologie von 1895 der letzte Versuch Freuds, Neurologie und Psychologie zu verbinden. Der Hauptgrund für das Verlassen der Interdisziplinarität ist, dass die neurowissenschaftlichen Zugänge Ende des 20. Jahrhunderts nicht ansprechend für Freud sind (2012, S. 2). Er hat schlichtweg ein größeres Interesse sich psychodynamischen Prozessen zu widmen (ebd.). Nach Yovell und Kollegen (2015, S. 1516f.) sind weitere Gründe für den Übergang von der Neurologie zur Psychologie, dass Freud hierarchisch organisierte, dynamische neurophysiologische Funktionen untersuchen möchte. Doch kann er ganz und gar nicht auf die Technik für solche Untersuchungen zurückgreifen und stößt mit seinem Ziel außerdem auf statisch-rigiden Lokalisationismus seiner Kollegen. Daher entscheidet er sich für eine neue unabhängige Disziplin, in der er dynamische Interaktionen von einem ausschließlich psychologischen Standpunkt aus betrachtet. Nichtsdestoweniger bleibt Freud der Neurologie insofern treu, als dass er glaubt, dass seine von den Neurowissenschaften unabhängig gewonnenen psychologisch-psychoanalytischen Modelle, mit zukünftig zu entdeckenden dynamischeren und mehrschichtigeren anatomischen Himmodellen korrelieren. Er erwartet von der Zukunft biologischer Forschungen Aufklärungen seiner Theorien: „Die Biologie ist wahrlich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, wir haben die überraschendsten Aufklärungen von ihr zu erwarten und können nicht erraten, welche Antworten sie auf die von uns an sie gestellten Fragen einige Jahrzehnte später geben würde“ (Freud, 1920g, S. 64). Die interdisziplinäre Disziplin der Neuropsychoanalyse zielt exakt darauf ab, psychodynamische Konzepte durch neurowissenschaftliche Mechanismen zu erklären beziehungsweise beide miteinander zu verbinden (Northoff, 2012, S. 1). Gründungsvater Mark Solms sieht in ihr die Weiterführung und Fertigstellung von Freuds Ziel eine wissenschaftliche Psychologie zu begründen (Northoff, 2012, S. 2). Darüber hinaus wird die Neuropsychoanalyse sicherstellen, dass die subjektive beziehungsweise Erste-PersonPerspektive nicht durch einen reduktionistischen Szientismus verloren geht (Yovell et al., 2015, S. 1545).
Ruhs (Doering & Ruhs, 2015, S. 41) hält die neuropsychoanalytische Perspektive für legitim. Doch warnt er davor, dass sich Rätsel des Geistes nicht durch direkte Beobachtung lösen lassen und weist auch daraufhin, dass das Beiwort ,Neuro-‘ ein Modewort für alles Mögliche geworden ist. Außerdem, so Ruhs (ebd.) weiter, hat Freud 1895 sein Konzept der Gegenüberstellung von psychologischen Befunden zu biologischen Korrelaten als Verirrung aufgegeben.
Nach Mertens (2009, S. 20) und Berner (2018, S. 17) ist der Traum für Freud ein psychologisches und kein somatisches Phänomen und er erkennt im Traum eine wie auch immer geartete- Konfiguration mit psychologischem Sinn. So macht der naturwissenschaftlich ausgebildete Neurologe gleich im ersten Satz seiner Traumdeutung deutlich, dass er sich auf das psychologische Parkett wagt: ,,[a]uf den folgenden Blättern werde ich den Nachweis erbringen, daß es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten, und daß bei Anwendung dieses Verfahrensjeder Traum sich als sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt [...]“ (Freud, 1900a, S. 1; Hervorhebung C.S.). Freud grenzt sich also entschieden von einer neurologischen Betrachtungsweise ab. Nach Rattner (2011 1995, S. 7) ist das Motto der Traumdeutung auf der Titelseite (in Latein) nicht nur ein Hinweis auf die Natur des Traumes, sondern zeigt auch Freuds rebellischen Geist gegen vorherrschende Lehrmeinungen: „Wenn ich die himmlischen Mächte nicht bezwingen kann, werde ich die Unterwelt in Bewegung setzen!“ (ebd.).
Freud (1916-17a), erläutert, dass für Ärzte um die Jahrhundertwende Träume „Äußerung somatischer Reize im Seelenleben“ (S. 81), niedere und krankhafte Phänomen sowie unkoordinierte Zuckungen darstellen (ebd.). Berner (2018, S. 17) bestätigt, dass ein Traum Ende des 19. Jahrhunderts nicht als sinnvoller seelischer Prozess verstanden wird. Träume werden als vom Körper produzierte Begebenheiten ohne inhaltlichen Wert angesehen, die dadurch zustande kommen, dass im Schlaf die Kritikfähigkeit zu Illusionen eingeschränkt ist. Berner betont daher die revolutionäre Herangehensweise Freuds (ebd.).
Auch Mertens (2009, S. 20) zeigt wiederholt die Leistung Freuds auf, indem er darauf hinweist, dass um die Jahrhundertwende die psychologische Betrachtungsweise in den Augen vieler Wissenschaftler so gut wie nichts wert ist. Die naturwissenschaftlich-objektivierbare Perspektivierung ist hoch im Kurs und verspricht Fortschritt im industrie-technisch-kapitalistischen Sinne. Der im Geiste Darwins erzogene exakte Naturwissenschaftler Freud zeigt Mut, dass er Psychologisches nicht auf Neurophysiologisches reduziert. Er versucht den psychologischen Sinn eines Traumes herauszufmden und proklamiert: „Wir bleiben auf psychologischen Boden" (Freud, 1900a, S. 540). Den Kollegenvorwurf der ,Altweiberpsychiatrie‘ kontert Freud mit ,Ganglienzellenphantastik‘ (o.D. in Mertens, 2009, S. 23).
[...]
1 (Zweig, 2019 [1931], S. 145; Hervorhebung C.S.)
2 In der folgenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Sie bezieht sich auf Personen beiderlei Geschlechts.