Leseprobe
Inhalt
1. Helfen als Laster?
2. Wille zur Macht
3. Das Ressentiment
3.1 Nietzscheanischen Idealtypen der Moral
3.2 Die Logik des Ressentiments
3.3 Der Asketische Priester
4. Asketisches Helfen
4.1 Das Helfer:innen-Syndrom
4.2 Von der Nächstenliebe und vom Helfen: Wie aus der Not eine Tugend wird
4.3 Der Wille zum Helfen
4.4 Der Fehlschluss der „Leidens-Causalität“
4.5 Das Ressentiment der helfenden Asket:innen
5. Fazit – Wege zum und aus dem Ressentiment
6. Literaturverzeichnis
7. Siglenverzeichnis
1. Helfen als Laster?
Eine Seele, die sich geliebt weiss, aber selbst nicht liebt, verräth ihren Bodensatz: - ihr Unterstes kommt herauf. (JGB 4. Hauptst. 97, KSA 5.88)
Viele der Berufe, in denen Hilfe als Dienstleistung angeboten wird, genießen in Deutschland hohes Ansehen (Rudnicka, 2022). Sie werden als gute Menschen wahrgenommen. Denn sie helfen Menschen. Häufig opfern sie nicht nur ihre Zeit, indem sie am Wochenende, in der Nacht und an Feiertagen arbeiten, sondern sie opfern sich selbst für ihre Mitmenschen auf. Diese Selbstlosigkeit, die jene Leute an den Tag legen, wird als lobende Charaktereigenschaft durch gesellschaftliche Anerkennung gewürdigt. Doch was ist, wenn sich dahinter gar keine zu lobende Charaktereigenschaft verbirgt?
Die Fachberaterin für Psychotraumatologie und Praktische Philosophin Barbara Gründler traf in ihrem Berufsleben auf einige dieser Tugendhaften. Sie entdeckte in manchen Motiven der Helfenden das genaue Gegenteil: ein persönliches Laster. Anhand Nietzsches Analysen der Moral und der Psychologie des Christentums gelang es ihr die Krankheit einiger Helfenden, das Ressentiment, aus dem seelischen Sumpf ihrer Träger:innen emporzuheben. In manchen Helfer:innen fand sie den von Nietzsche beschriebenen „asketischen Priester“ wieder. Er ist ein Mischwesen aus Ressentiment und „Willen zur Macht“. Gründlers These ist der Ausgangspunkt dieser Arbeit. Die Fragestellung, die meinem Text zu Grunde liegt, ist:
Welche Merkmale des nietzscheanischen „asketischen Priesters“ weisen die Helfenden des Helfer:innensystems auf?
Da sich Barbara Gründler auf Nietzsches Überlegungen beruft, sollen zuerst die theoretischen Ausarbeitungen des Philosophen dargestellt werden. Dazu gehören seine moralischen Idealtypen, die mit der Analyse des Ressentiments einhergehen. Im Anschluss daran wird der „asketische Priester“ beschrieben, um diese Überlegungen auf die helfenden Berufe anzuwenden. Dabei wird nicht nur auf Barbara Gründlers Ansätze hierzu eingegangen, sondern auch auf Wolfgang Schmidbauers „Helfer-Syndrom“, welches ein fruchtbarer Boden für das Gedeihen des Ressentiments bietet.
Im Helfen steckt immer ein Machtgefälle, welches von den Helfenden symmetrisch gestaltet werden sollte. Friedrich Nietzsches Überlegungen zum „Willen zur Macht“ bieten eine tiefgründige Analyse von Macht.
2. Wille zur Macht
Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet – der Wille zur Macht! (Za II Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4.149)
Der „Wille Zur Macht“ ist eine Losung Nietzsches, die erst in seinem Spätwerk genauer skizziert wurde (Müller 2019, S.246). Eine konkretere Ausreifung des Gedankens in einem dafür gedachten Werk konnte Nietzsche zu seinen Lebzeiten selbst nicht mehr fertigstellen (ebd., S. 247). Daher bleibt sie der Nachwelt nur als Skizze bestehen. Vor allem in den späteren Werkphasen ist die Formel diesen inhärent.
Gegen die „zeitgenössischen mechanistischen Weltauslegungen, in denen vermeintliche Naturgesetzte auch die Natur des Menschen in den Kausalitätszusammenhang von Ursache und Wirkung bringen“ (ebd.) hält der psychologische Philosoph seine Deutung des „Willens zur Macht“ (JGB 1. Hauptst. 22, KSA 5.37)1. Er sieht in derselben Natur, wie sie die „Physiker“ betrachten, keine natürlichen Gesetze, sondern „die tyrannisch-rücksichtslose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen“ (JGB 1. Hauptst. 22, KSA 5.38). Die Naturgesetze sind eine Interpretation und eine vom Menschen gewollte Ordnung des physikalischen Geschehens. Nietzsche selbst interpretiert die Natur als konfuses und chaotisches Wirken von Machtwillen. Dies ist der äußere Aspekt des „Willens zur Macht“.
Er ist sich bewusst, dass er sich mit seiner Lesart nur eine neue, weitere Ausdeutung ins Feld bringt, in der sich der „Wille zur Macht“ zeigt (JGB 1. Hauptst. 23, KSA 5.37). Das Interpretieren selbst ist nach ihm „Wille zur Macht“ (GM 2. Abh. 12, KSA 5.313f). Bereits in einer Deutung wird eine dominantere Macht Herr über einen „Sinn“ und einen „Zweck“ (GM 2. Abh. 12, KSA 5.314). Auch im Erkennen spiegelt sich der „Wille zur Macht“ wider. Das Gedeutete, welches sich gegen andere Deutungen durchsetzt, wird so zur „Wahrheit“ umgemünzt (Safranski 2000, S. 297; Za II Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4.146).
Der innere Aspekt des „Willens zur Macht“ kann mittels der Psychologie begriffen werden. Denn Nietzsche denkt diese Wissenschaft als „Morphologie und E n t w i c k l u n g s l e h r e d e s W i l l e n s z u r M a c h t“ (JGB 1. Hauptst. 23, KSA 5.38)2. Wider die moralischen Vorurteile seiner Zeitgenoss:innen denkt er selbst die „Affekte Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte“ (ebd.). Es sind Affekte, die, wie die „guten“ Affekte, zur Dynamik des Lebens gehören (ebd.). Überall dort, wo etwas wirkt, herrscht „Willens-Wirkung“, ein Wille wirkt auf einen anderen Willen ein (JGB 2. Hauptst. 36, KSA 5.55). Für ihn ist allen Affekten und Trieben der „Wille zur Macht“ ursächlich (ebd.). Der Nietzsche-Forscher Volker Gerhardt beschreibt daher den „Willen zur Macht“ wie folgt (2011, S. 351):
N.s Formel vom >>Willen zur Macht<< verdankt ihre Popularität einer naheliegenden psychologischen Deutung, nach der sie das Grundmotiv allen menschlichen Handelns bezeichnet: Es gibt in Wahrheit keine genuin moralischen, sozialen, ästhetischen oder religiösen Beweggründe, sondern alles menschliche Wollen folgt aus einem einzigen Impuls, und dieser Impuls ist das Streben nach Macht.
Jene originäre Kraft kommt nicht nur menschlichen Willensträger:innen zu, „sondern soll als energetischer Impuls allen Geschehens verstanden werden“ (ebd.; GM 2. Abh. 12, KSA 5.313f.). Diese dynamische „Grundform des Willens“ umfasst die physikalischen, äußere und zugleich die inneren Kräfte (JGB 2. Hauptst. 36, KSA 5.55). Sie findet sich in allem Lebendigen. Im „Willen zur Macht“ liegt also ein Hauch nietzscheanische Metaphysik. Es gibt jedoch keinen gottgleichen Über-Willen zur Macht oder einen letztbegründenden „Willen zur Macht“. Jedes Lebendige wird von seinem eigenen „Willen zur Macht“ und Willen, der nichts anders als Willen zur Macht ist, angetrieben. So heißt es in Also sprach Zarathustra (Za II Von der Selbst-Ueberwindung , KSA 4.149):
Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!
Es geht hierbei nicht um Selbsterhaltung oder Selbstbehauptung, wie es die Formel „Wille zum Leben“ prägnant formuliert. Das wäre eine biologistische Deutung der Formel. In Also sprach Zarathustra steht das Moment der Selbstüberwindung im Vordergrund. Durch das Schaffen von Werten überwindet der Mensch sich selbst, da er seinen „Willen der Macht“ in die Dinge legt. Er behauptet sich nicht nur, sondern überwindet andere „Willen zur Macht“, weil er die Werte umwertet, indem er die herkömmlichen Werte zerstörtet und neu schafft (ebd.):
Mit euren Werthen und Worten von Gut und Böse übt ihr Gewalt, ihr Werthschätzenden: und diess ist eure verborgene Liebe und euerer Seele Glänzen, Zittern und Überwallen.
Im Schaffen moralischer Werte zementiert sich also der „Wille zur Macht“. Nietzsche entweiht Moral als Ausübungen von Gewalt und Herrschaft. Wie sich moralische Herrschaft ausdrücken kann, zeigt der Philosoph in seinen zwei „Grundtypen“ der Moral (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.208).
3. Das Ressentiment
Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. (Za II Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4.147-148)
3.1 Nietzscheanischen Idealtypen der Moral
Nietzsche beschreibt in Jenseits von Gut und Böse zwei „Grundtypen“ der Moral, deren Herrschaft die bisherig Moralhistorie für ihn ausmachte (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.208-212). Daher ist die ausgemachte Dichotomie idealtypisch und moral-genealogisch zu verstehen. Auf der einen Seite gibt es die „Herren-Moral“ und auf der anderen Seite steht die „Sklaven-Moral“3 (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.208).
Die „Herren-Moral“ preist die „erhobenen stolzen Zustände der Seele“ (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.209). Sie sieht sich selbst als die „Vornehmen“, „Guten“, „Schönen“ und „Glücklichen“ an (GM 1. Abh. 10, KSA 5.271). Gleichzeitig gelten die feigen, ängstlichen, kleinlichen, misstrauenden, lügenden, gebeutelten selbstlosen und gebeugten Menschen als die Verächtlichen. Die zuletzt Genannten sind die „Menschen des Ressentiments“4 (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.209).
Der Moralgenealoge spricht in dem Kontext explizit von Personen, die die aufgezählten Eigenschaften verkörpern, weil diese Attribute zuvorderst den Menschen und nicht ihren Handlungen galten. Erst im Nachhinein fand eine Übertragung der Wertungen der Vornehmen auf deren Handlungen statt (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.209):
Die vornehme Art Mensch fühlt s i c h als werthbestimend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie urtheilt „was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich“, sie weiss sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist w e r t h e s c h a f f e n d. Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie: eine solche Moral ist Selbstverherrlichung.
Die Vornehmen genießen das „eigentliche H e r r e n r e c h t , Werthe zu schaffen (JGB 9. Hauptst. 261, KSA 5.213). Das wertschaffende Recht entspringt aus ihrem quellenden Überlegenheitsgefühl, dem „P a t h o s d e r D i s t a n z“ zu allem Verächtlichen (GM 1. Abh. 2, KSA 5.259f.):
Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, wie gesagt, das dauernde und dominierende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältnis zu einer niederen Art, zu einem „Unten“ – d a s ist der Ursprung des Gegensatzes „gut“ und „schlecht“. (Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen: sie sagen „das i s t das und das“, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.)
Der Herrschende projiziert sich auf seine Werte. Er ist die große Bejahung seines Wesens und seines Tuns. Sein Tun und sein Glück bilden einen Einklang, weil sie beide in eines zusammenfallen (GM 1. Abh. 10, KSA 5.272). Er ist der Mensch der Tat. Nietzsche konstatiert, dass eine solche Moral für den modernen Menschen befremdlich sei (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.210f.). Es ist eine Binnenmoral, die sich durch folgende Kriterien kennzeichnet (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.211):
Die Fähigkeit und Pflicht zu langer Dankbarkeit und langer Rache – beides nur innerhalb seines Gleichen -, die Feinheit in der Wiedervergeltung, das Begriffs-Raffinement in der Freundschaft, eine gewisse Nothwendigkeit, Feinde zu haben (gleichsam als Abzugsgräben für die Affekte Neid Streitsucht Übermuth, - im Grunde, um gut f r e u n d sein zu können)
Im Gegensatz hierzu steht die Moral der Schwächeren. Gemeint sind damit „die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden“ (ebd.). Ihre Ohnmacht äußert sich nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Ihnen fehlt der „Pathos der Distanz“ (GM 1. Abh. 2, KSA 5.259) als auch die „erhobenen stolzen Zustände der Seele“ (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.209). Sie können ihr Wesen nicht bejahen. Sie gewinnen ihr Selbstbild in der „Verneinung des Anderen“ (Altmann 1977, S. 34). Das erste Moment der psychischen Selbstvergiftung entsteht. Der negierte Andere wird in das Selbstbild aufgenommen, obwohl er verabscheut wird (ebd.). Deswegen ist nach Nietzsche jener Menschentypus der Menschheit gegenüber pessimistisch, verurteilend und argwöhnisch gestimmt (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.211):
Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden des Mächtigen: er hat Skepsis und Misstrauen, er hat F e i n h e i t des Misstrauens gegen alles „Gute“, was dort geehrt wird -, er möchte sich überreden, dass das Glück selbst dort nicht ächt sei. Umgekehrt werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden, die gefällige hülfbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren -, denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral.
Die „Herren-Moral“ ist im Gegensatz dazu keine „Nützlichkeits-Moral“. Die Vornehmen geht die Nützlichkeit nichts an. Sie sind im Einklang mit sich und ihrem Handeln. Sie empfinden ihr Tun, welches ihr Sein, welches Sein überhaupt ist. Wohingegen die Menschen der „Nützlichkeits-Moral“ ihr Sein ertragen lernen müssen. Ihr einziges Narkotikum sind kurzweilige Glücksmomente, die jedoch in der von Feindseligkeit und Ohnmacht durchtränkten Seele auf unfruchtbaren Boden stoßen (GM 1. Abh. 10, KSA 5.272).
Es entstehen die Wertbegriffe „gut“ und „böse“ (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.211). Die Moral der Schwächeren denkt alles Mächtige und Gefährliche in den Bereich des Bösen. Es ist ein Akt der semantischen Rache aus der Moral heraus. Für den Philosophen Gilles Deleuze lautet daher die wesentliche Losung des „Menschen des Ressentiments“: „ Du bist böse, also bin ich gut“ (1976, S. 130). Es ist der modus ponens des Ressentiments. Das bedeutet, dass der Herr nicht nur in das Selbstbild aufgenommen wird, sondern konstitutiv ist, um sich selbst überhaupt zu erkennen, um eine neue Identität zu generieren. Das Motto des Ressentiments lautet nicht „Ich bin gut, also bist du böse“. Es ist in dieser Form nicht sagbar und nicht schöpferisch. Die Schwächeren können sich nur negativ definieren. Sie können Ihre Identität nicht aus eigener Kraft herausschaffen.
In Anlehnung an Judith Butler könnte behauptet werden, dass das Motto ein performativer Sprechakt sei: „performativ, d.h., sie [die Identität] selbst konstituiert die Identität, die sie angeblich ist.“ (Butler 2016, S. 49). Wohingegen in der „Herren-Moral“ genau das Attribute sind, die den „Guten“ ausmachen (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.211f.). Da nach der Moral der Schwächeren von dem Guten keine Gefahr ausgehen soll, vollzieht sich selbst im Guten eine Herabwürdigung. Denn die Sprache der rächenden Moral verwässert die Trennlinie zwischen den Eigenschaften „gut“ und „dumm“ (JGB 9. Hauptst. 260, KSA 5.212).
3.2 Die Logik des Ressentiments
Die Menschen, denen die physiologische Aktion und Reaktion versagt ist, sind deshalb auf das psychische und moralische Reagieren eigeschränkt. Sie müssen ihren Schmerz der Unterlegenheit und ihre ungestillte Rache kanalisieren. Es braucht einen „s c h u l d i g e n Thäter“ (GM 3. Abh. 15, KSA 5.374). Nietzsche sieht den Ausweg für die Passiven im moralischen Aufbegehren, der geistigen Rache. Diese beginnt bereits mit der semantischen Verkettung von „böse“ und den „Vornehmen“. Durch die sprachliche Umwertung wird sich an der Wirklichkeit der Vornehmen, der Wirklichkeit überhaupt, vergriffen. Die Unterdrückten bewerten sich nun als „gut“. Damit bringen sie ihr Selbst in die neue Wirklichkeit ein. Ein Anklang von Selbstverwirklichung ist zu vernehmen, die noch einen Abglanz der Rache zeitigt (GM 1. Abh. 10, KSA 5.270f.):
Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das R e s s e n t i m e n t selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „Ausserhalb“, zu einem „Anders“, zu einem „Nicht-selbst“ : und d i e s Nein ist ihre schöpferische That. Dies Umkehrung des werthesetzenden Blicks Die Vornehmen hingegen bedürfen keiner äußeren Reize. Aus ihrer Selbstgewissheit und ihrem Selbstvertrauen heraus sind sie aktiv, tätig und schöpferisch. Sie benötigen kein Kontrastbild, um sich ihrer selbst gewiss zu werden (GM 1. Abh. 10, KSA 5.271). Die „Menschen des Ressentiments“ hingegen müssen sich durch eine normative Erhebung ein Feindbild ersinnen. Ihre Schöpfung ist ein Trugbild, eine Chimäre und Selbstbetrug. Ein Betrug an sich selbst, welchen die Vornehmen nicht an sich begingen, denn dies hieße, sich selbst verneinen. Der Blick ihrer Seele ist stolz. Nietzsche schreibt über den „Menschen des Ressentiments“ (GM 1. Abh. 10, KSA 5.272):
Seine Seele s c h i e l t ; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte muthet ihn als s e i n e Welt, s e i n e Sicherheit, s e i n Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen.
Der Mensch des Ressentiments ist listiger und klüger als die Vornehmen es sind (ebd.). Klugheit bedeutet für Ersteren eine Überlebensstrategie. Die „berechnende Klugheit“ ist der erste Hoffnungsschimmer auf Überlegenheit, auf einen letztendlichen Triumph gegenüber den Herren (GM 1. Abh. 2, KSA 5.259). Sie ist die Peripetie der „Menschen des Ressentiments“ (GM 1. Abh. 10, KSA 5.272). Die Klugheit ist berechnend, weil sie die Rachegelüste verkappen soll. Sie ist nichts anderes als „Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugenden gekleidet“ (GM 1. Abh. 13, KSA 5.280). Im 14. Abschnitt der ersten Abhandlung in Zur Genealogie der Moral stellt Nietzsche eine moralische Umwertung dar. „Die Schwäche soll zum V e r d i e n s t e umgelogen werden“ (GM 1. Abh. 14, KSA 5.281). Die Ohnmacht wird zur Güte, die Ängstlichkeit zur Demut, die Feigheit zur Geduld, das Elend wird zum Prüfstein für die Seligen, von denen die Geduldigsten, Demütigsten und Leiderprobtesten das Reich Gottes sehnsüchtig erwarten. Das Reich Gottes und das Jüngste Gericht sind die in Rache gemeißelten Luftschlösser der „Menschen des Ressentiments“ (GM 1. Abh. 10, KSA 5.272). Das Ressentiment und der Hass sind der vergiftete Boden, aus dem sich die Seele des Christentums speist. Nietzsche liefert nicht nur eine kongeniale Analyse des Ressentiments, sondern er entschlüsselt zugleich das Christentum als Religion des Ressentiments. Eine Religion, welche die gehemmten Rachegelüste ihrer Gläubiger, in ein Jenseits projiziert. Die gedanklichen und semantischen Parallelen sind augenfällig.
[...]
1 Friedrich Nietzsches Werke werden nach der Kritischen Studienausgabe (KSA), wie sie von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegeben wurde, zitiert (s. Siglenverzeichnis). Die Folge ist: Werksigel Buch Abschnitt, KSA-Band.Seite.
2 Insofern es nicht durch meine Initialen „JB“ angeben ist, wurden direkte Zitate nicht durch mich verändert, sondern sind die Zeichensetzung ihrer Autor:innen. Grammatische Anpassungen durch JB werden mittels eckiger Klammern kenntlich gemacht.
3 Da es sich bei beiden Begriffen um genealogische Idealtypen handelt, sind sie bei Nietzsche nicht als historisch oder soziologisch zu verstehen. Es sind starke Metaphern, die die Stimmungen der Bezeichneten pathetisch einfangen. Als einzelner Begriff wird „Sklave“ im Text nicht mehr verwendet. Auch wenn ihn Nietzsche als Metapher eingesetzt haben mag, kommt es gleichzeitig wegen des metaphorischen Gebrauchs dazu, dass die koloniale, rassistische, ausbeuterische und grausame Vergangenheit, die das Wort eigentlich bezeichnet, außen vorgelassen wird.
4 Das Wort „Ressentiment“ ist ein französisches Lehnwort. Das dazu passende Verb im Französischen ist „ressentir“. „Ressentir“ bedeutet: „nachhaltig empfinden“ (Schulz 2008, S.530). Das Präfix „re“ zeigt im Französischen auf, dass etwas wiederholend passiert. Das „re“ in „ressentir“ verweist also auf einen kreisenden Vorgang einer Empfindung, die ein Mensch immer wieder fühlt und fühlen muss. Der französische Philosoph Gilles Deleuze bemerkt zu diesem Widerholungszwang: „ die Reaktion hört auf, ausagiert zu werden und wird statt dessen gefühlt (senti).“ (1976, S. 122). Im Ressentiment ist die erlebende Person im Durchleben eines Gefühls gefangen und gelähmt. Das Ressentiment beschreibt ein Ohnmachtsgefühl, welches in einer Kränkung entstand, die nichts überwunden werden konnte.