Friedrich Nietzsches Wahrheitstheorie in "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne"


Hausarbeit, 2022

22 Seiten, Note: 1,00


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Geburtsstunde einer Wahrheit

Die Entstehung der Wahrheit im Universum

Antike Wahrheiten und Illusionen

Kunst und Wahrheit

Illusion eines wandelnden Philosophen

Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Prolog

"The first casualty when war comes is truth"

Hiram W. Johnson

Mit diesen einleitenden Worten von Hiram W. Johnson sei das Thema und dessen Wichtigkeit der vorliegenden Arbeit auf den Punkt gebracht. Am 24. Februar 2022 gab der russische Präsident Wladimir Putin seinen Truppen den Befehl für den grauenhaften Überfall auf die Ukraine. Von russischer Seite aus wird dieser Angriffskrieg als „militärische Spezialoperation“ dargestellt. Für die russischen Medien im eigenen Land gilt dies als die offizielle „Wahrheit“. Doch es zeigt sich sofort, dass diese „Wahrheit“ Russlands sich als zynische Lüge entlarvt. Inmitten dieser von Konfusion geprägten Zeit fragen sich die Menschen „Was ist nun die Wahrheit und was ist die Lüge?“ Und welche ist subjektiv und welche objektiv? Wo Interessen und Macht die Strippenzieher und Akteure einer Handlung sind, steht diese Frage immer an vorderster Stelle.

Gerade in solchen extraordinären und prekären Zeiten ist es Pflicht und Ethos der Philosophie, den Menschen und damit auch den Philosophen zu erziehen, dazu anzuregen Sachen kritisch zu hinterfragen. Oder treffender ausgedrückt: „Mit der Frage, ob wir eine objektive Wirklichkeit erreichen können, wie sie ist, mit der Wahrheitsfrage steht und fällt der Sinn unserer geistigen Existenz und erst recht der Sinn aller Philosophie.“1 Daher erscheint es besonders treffend sich mit dem Werk auseinanderzusetzen, welches mitunter die Philosophie des 19. Jahrhunderts auf den Kopf stellte und einen neuen revolutionären Kritikansatz über Wahrheit, Lüge und Sprache aufstellte – Friedrich Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Dafür soll zunächst die besondere Geschichte, die diesen Text begleitet, näher betrachtet werden. Gerade bei diesem Werk ist eine ganzheitliche Analyse nützlich, wie sich zeigen wird. Darauffolgend werden die zwei Kapitel hinsichtlich Struktur und Inhalt analysiert und kritisch betrachtet. Darauffolgend wird versucht eine Erklärung abzugeben, inwiefern eine ‚Wahrheit‘ nach Nietzsche erfolgen und möglich sein könnte. Vor diesem theoretischen und erkenntnisreichen Hintergrund werden dann insbesondere die Forschungsergebnisse von Paul van Tongeren herangezogen werden, die sich maßgeblich damit beschäftigen, Nietzsches Werk von einer anderen Perspektive zu betrachten, was womöglich neue Erkenntnisse bringen könnte. Es wird sich zeigen, dass Nietzsches Werk aufgrund seiner Intention, mit der es geschrieben wurde, deshalb so besonders zu betrachten ist und dass ein Hauch aristotelische Revolution in diesem Essay versteckt ist.

Geburtsstunde einer Wahrheit

Über Wahrheit und Lüge ist in vielerlei Hinsicht ein besonderes Werk in der Biographie Nietzsches. Zum einen, weil es als Werk an sich nie von ihm selbst veröffentlicht wurde. Es existiert keine finale Drucklegung die von Nietzsches „letzter Hand“ autorisiert worden wäre. Aus diesem Grunde ist es wichtig auf den Vergleich von Varianten hinzuweisen.2 Zum anderen ist diese Schrift trotz ihrer Kürze gerade deshalb so faszinierend, weil sie thematisch gesehen die Sprachkrise im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert als Wissen voraussetzt und Gedanken und Reflexionen entwickelt, welche bis in die Literatur der Gegenwart reicht.3 Markant für Nietzsches Schrift ist ihr entschlossen nicht-fachwissenschaftlicher und mutiger Charakter. Womöglich ist das mit ein Grund, weshalb die fachwissenschaftliche Literatur in den verschiedensten Bereichen der Philosophie, Ästhetik, Sprach- und Moralphilosophie sich so eingehend mit Über Wahrheit und Lüge auseinandergesetzt hat.

Nietzsche hatte zur Zeit der Entstehung seines Werkes mit Augenleiden und anderen Gesundheitsproblemen zu kämpfen, weshalb er sich Hilfe von seinem Freund Carl von Gersdorff dazu zog, um ihn als Schreibkraft behilflich zu sein. Als Grundlage für ein gemeinsames Philosophieren dienten Nietzsches frühere Notizen und Manuskripte, die Gersdorff beim Diktieren von Nietzsche heranzog. Seine früheren Vorlesungen über die „vorplatonischen Philosophen“ und die vorbereitenden Notate für das sogenannte „Philosophenbuch“ – welches Nietzsche scheinbar in Bearbeitung hatte – zeigen, dass sich Nietzsche schon lange Zeit sehr profund mit dem Verhältnis von Wahrheit, Illusion, Philosophie und Wissenschaft beschäftigte. Seine Reflexionen zu den „vorplatonischen Philosophen“ weisen eine enge Verflechtung zu den in Über Wahrheit und Lüge zugrunde liegenden Themen auf und sind als anfängliche Gedanken Nietzsches zu diesen Themen zu verstehen. In seiner sprachphilosophisch-altphilologischen Vorlesung „Darstellung der antiken Rhetorik“, welche auch Gersdorff zu jener Zeit besuchte, beschäftigte sich Nietzsche neben gängigen Tropen wie der Metonymie und Synekdoche vor allem mit der Metapher, welche in Über Wahrheit und Lüge eine Kernrolle einnehmen würde. Insbesondere der § 3 des Vorlesungsskripts mit dem Titel „Verhältnis des Rhetorischen zur Sprache“ weist oft wörtliche Übereinstimmungen mit Passagen in Über Wahrheit und Lüge auf.

Dieser § 3 ist stark an das zeitgenössische Werk Gerbers Die Sprache als Kunst angelehnt und demonstriert dadurch den Einfluss Gustav Gerbers auf Nietzsches Entwicklung seiner Sprachkritik. Die Kernaussage dieses Paragraphen lautet, „daß die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist“ und „es folglich „keine unrhetorische ‚Natürlichkeit‘ der Sprache“ (KGW II/4, 425), sondern nur immer Figuration gebe“, schildert Scheibenberger in ihrer Analyse.4 Nietzsches tiefergehende Auseinandersetzung mit den Wissenschaften und die Kritik, die er ihr gegenüber ausspricht, die Wissenschaften würden ihr metaphorisches Wesen verraten, gründet u.a. in Nietzsches Kant-Studium seiner dritten Kritik.

Diese außergewöhnliche Geschichte, die eines sich ständig in Entwicklung befindendes Über Wahrheit und Lüge begleitet, findet Ausdruck auch in der Verwendung der Eingangsfabel, welche sich nahezu wortgetreu in Über das Pathos der Wahrheit wiederfinden lässt.5 Über Wahrheit und Lüge ist daher mehr als eine Form von Genealogie zu verstehen, welche ursprünglich die späteren metaphysikkritischen außermoralischen Werke inaugurieren sollte, wie Nietzsche es selbst vorgesehen hat.6 Die Realität aber erzählt eine andere Geschichte und so kam es, dass sein Werk dann im Jahre 1895 zum ersten Mal zusammen mit Die Philosophie im tragischen Zeitalter von Nietzsches Schwester veröffentlicht wurde.

Die Entstehung der Wahrheit im Universum

Um sich einen guten Überblick über Nietzsches Werk verschaffen zu können ist es nützlich, sich ein klares Bild von dessen Struktur zu machen, um damit auch nachvollziehen zu können, wie Nietzsche seine Argumentation logisch aufbaut. Nietzsches Über Wahrheit und Lüge ist in zwei Kapitel unterteilt, wobei es Anzeichen gibt, dass ursprünglich einmal drei Kapitel konzipiert waren.7 Im ersten und längerem Kapitel stellt er seine Hauptthese und Definition von Wahrheit vor. Er postuliert, dass der Mensch aus einem Schutzbedürfnis heraus Sprache entwickelt mittels seines Intellekts, was zwangsläufig aber auch die Lüge hervorbringt, die wir illusorisch als Wahrheit benennen. Im zweiten Kapitel geht Nietzsche auf das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst ein und erläutert, wie trotz der Konventionen in der Welt ein Wahrheits- und Fundamentaltrieb zur Metaphernbildung des Menschen existiert und wie diese Konventionen aufzubrechen sind.

Die maßgebliche Bedeutung die Nietzsche dem Intellekt zuteilen vermag, lässt sich bereits aus einer genaueren Betrachtung des Titels herleiten: es stehen nicht ethische Werte im Vordergrund, also solche im moralischen Sinne, sondern solche die aus der Erkenntnis resultieren, also solche im außermoralischen Sinne. Was nicht bedeutet, dass Nietzsche nicht trotzdem über moralische Werte sprechen wird. Der Anfang von Über Wahrheit und Lüge ist gekennzeichnet von einer Fabel die Nietzsche verwendet, um seinen Kritikpunkt über den Zustand und Wesen der Sprache von Anfang an zu exemplifizieren:

In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte": aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. — So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt ; 8

Mit diesen wenigen Zeilen stimmt Nietzsche auf die „Frage nach der Erkenntniskraft des Intellekts auf die Referentialität des (künstlerischen) Sprachbildes ein“9 und demonstriert eindrucksvoll den „Contrast von Wahrheit und Lüge“10 als einen grausamen Naturzustand, den wir unserer Natur gemäß selbst erschaffen haben. Der Mensch gebraucht seinen Intellekt aus seiner Schutzbedürftigkeit heraus zur Erhaltung. Dabei geschieht es oft, dass das „kluge Thier“ von ihm verblendet und getäuscht wird. Der Intellekt als „jener Meister der Verstellung“ versteht es, die Realität zu verzerren und „mit schöpferischem Behagen“11 „die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentiren, das im erborgten Glänze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst“12 zu praktizieren. Diese Verstellungskunst ist tief in der menschlichen Natur verwurzelt, für „jenen Intellekt [gibt es] keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte.“13 Für Nietzsche ist es aber unverständlich, „wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.“14 Der Grund, weshalb der Mensch sich mit diesem Problem überhaupt konfrontiert sieht, spricht Nietzsche auch dem ‚Vergessen‘ zu. Wir vergessen die originären Metaphern im Laufe des alltäglichen Sprachgebrauchs als solche anzusehen, was sie sind, illusorische Metaphern. Durch dieses Vergessen in die „Unbewusstheit“ entsteht für Nietzsche erst der Wahrheitstrieb. Die Antwort darauf liefert der Gemeinschaftstrieb des Menschen. Dieser ist der Urquell dieses Wahrheitstriebes Nietzsche nach, um das was Hobbes als „bellum omnium contra omnes“ bezeichnet, zu verhindern. In der Gemeinschaft wird dann festgelegt, was als Wahrheit gelten soll. Das bedeutet demzufolge, „es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden, und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit.“15 In der logischen Folge bedeutet das auch, dass es sich hier nicht um eine reine objektive Wahrheit handeln kann, sondern um eine subjektive – eine die vom Menschen im Konsensus getroffen werden. Wenn damit also die Wahrheit festgelegt wird, ergibt sich auch was die Lüge ist, nämlich jegliche Abweichung dessen was Wahrheit ist.

Somit legt Nietzsche auch eine existenziale Dimension hinein in den Sprachtrieb und „Trieb zur Wahrheit“ und eröffnet mehr noch eine „vertikale Dimension, deren Ausmaße er in drastischen physiologischen Bildern auslotet.“16 Mehr noch, ist diese Sprachkritik im weiteren Sinne als eine Kritik am Menschen selbst aufzufassen. Nietzsche stellt seine ‚Perceptionstheorie‘ vor, welche stark an Gerbers Nervenreizmodell erinnert.17 Dieser ‚Perceptionstheorie‘ nach sind Wörter „Abbildungen eines Nervenreizes in Lauten“18. Was wir in unserer Welt mit unseren Augen wahrnehmen, empfangen wir durch Nervenreize als ein Bild – dadurch entsteht die erste Metapher. Aus dieser Metapher bilden wir dann einen Laut und formen die zweite Metapher. Somit wird aus dem Bild dessen, was wir einen ‚Baum‘ bezeichnen, auch ein ‚Baum‘ im wörtlich gesprochenen Sinne. Wörter und Sprache im Allgemeinen sind also Metaphorisierungen von Metaphern, welche durch diesen Vorgang jeglichen logischen und wahren Gehalt verlieren. So kommt es auch, dass Menschen Begriffe „durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ entstehen lassen und damit nicht genug, verwendet er auch noch den Genus für Objekte ohne viel Logik dahinter.

Die Art, wie wir Dinge in unserer Welt wahrnehmen, ist Nietzsche nach ein Vorgang von willkürlich auftretenden Metaphern, welche nicht „der adäquate Ausdruck aller Realitäten“ darstellen können. Damit erweist sich in seinen Augen die Adäquationstheorie der Wahrheit wie sie von Thomas von Aquinas postuliert wurde, als unzureichend, um eine Trennung von Wahrheit und Lüge vornehmen zu können. Schlussendlich gelangt Nietzsche zu seiner berühmten Definition von Wahrheit:

Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.

Im Folgenden soll dann das zweite Kapitel näher betrachtet werden.

Antike Wahrheiten und Illusionen

Im Lichte des Einflusses der angeführten vorplatonischen Philosophen auf Nietzsches philosophisches Schaffen, hat sich insbesondere Paul van Tongeren in seiner Untersuchung zu Nietzsches Werk in Über Wahrheit und Lüge mit dessen Interesse an der aristotelischen Philosophie befasst. Sein Anliegen ist es Nietzsches Sprachkritik aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten der in der Forschung mehrfach betrieben wurde und beruft sich dabei auf eine Passage der aristotelischen Politik 1253a 1-40.19 So gelangt er zu der Erkenntnis, dass in beiden Texten ähnliche Themen der Wahrheit, Moral und Gemeinschaft behandelt werden. Van Tongeren zeichnet auf historisch-systematische Art und Weise nach, dass Nietzsche sich mit vielen Werken Aristoteles‘ beschäftigt hatte – wie der Rhetorik und diverser zeitgenössischer Forschungsliteratur – und dies nicht nur auf die Politik beschränkte.

Obgleich es einige wenige Verweise in Nietzsches früheren Aufzeichnungen und seiner ersten Vorlage zu Über Wahrheit und Lüge gibt, so ist es nicht gerade dieses Essay, auf das sich van Tongerens These stützt, sondern eines aus der Spätphilosophie stammendes Nietzsche Werk – Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt . Dabei bezieht er sich auf folgende Textstelle: : „Um allein zu leben, muss man ein Thier oder ein Gott sein – sagt Aristoteles. Fehlt der dritte Fall: man muss Beides sein – Philosoph …“20 Damit ist auch die Intention Tongerens erläutert, eine Art Erklärung liefern zu wollen, weshalb Über Wahrheit und Lüge über die Jahre „geheim gehalten“ wurde und herauszufinden, inwiefern Nietzsche hier anfänglich entwickelte Gedanken in späteren veröffentlichten Werken weiterentwickelt, wie es in Götzen-Dämmerung und anderen Werken seiner Spätphilosophie der Fall sein soll.

Diese zitierte Passage scheint dem bereits benannten Abschnitt 1253a [1-40] aus der Politik entlehnt zu sein. Aristoteles erforscht in diesem zweiten Kapitel den Unterschied zwischen dem Menschen auf der einen und dem Tier und Gott auf der anderen Seite. Der Mensch lebt als zôon politikon in der von Natur aus existierenden polis. Wer nicht in der polis lebt, kann kein Mensch sein – er ist entweder phaulós („schlecht“) oder besser als ein Mensch. Spezifischer ausgedrückt stehen sich hier also zwei Gegensätze gegenüber: Sklave oder Gott. Im Zusammenhang mit Nietzsche ist dies besonders interessant, da in der Götzen-Dämmerung keine Dreiteilung, wie Aristoteles sie beschreibt, suggeriert wird, sondern eine Zweiteilung mit dem „Herdentier-Mensch einerseits und dem allein stehenden Philosophen (welcher Tier und Gott zugleich ist) andererseits.“21 Allerdings führt Aristoteles später selber eine Form der Zweiteilung von Mensch gegenüber Tier durch in Anbetracht der Art und Weise, wie diese zusammen leben. Aristoteles erläutert dies näher an dem Beispiel der Bienen und Herdentiere und führt fort, dass die Natur eine natürliche Eignung und Ausrichtung auf die Vollendung hat.

Diese Vollendung in der menschlichen Natur ist das lógos, welche mit „Sprache“ übersetzt wird und im Unterschied zu der phônáe steht, also der „Stimme“. Wobei noch erwähnt werden sollte, dass Menschen und Tiere über die phônáe verfügen, Menschen überdies noch über das lógos. Diese Fähigkeit macht ihn wie Aristoteles formuliert, einerseits zum béltiston tôn zôôn („das edelste der Geschöpfe“) in der politischen Gemeinschaft, andererseits ist er auch cheíriston („das allerschlimmste“), da er zwar mittels des lógos die „Einsicht und Tugend“ erreichen kann, sie aber auch für Gegenteiliges nutzen kann und wird. Damit bringt Aristoteles die moralische Komponente ins Spiel und bindet Gerechtigkeit und damit die Wahl zwischen ‚Gut und Böse‘ innerhalb der polis an die politische Gesellschaft. Damit ist auch der Bezug zu Nietzsche deutlich herausgestellt: das Zusammenspiel von Mensch in der Gemeinschaft, Moral und die Fähigkeit der Sprache sind auch Kernelemente in der Sprachkritik die Nietzsche in Über Wahrheit und Lüge äußert.

Kunst und Wahrheit

So lässt sich auch eine der bedeutsamsten Verbindung mit dem Thema der Moral in der zentralen Frage des Textes finden, welche von Nietzsche bewusst als Aussage formuliert wird, um „eine Subjektivität zu implizieren“ mittels reflexiver Verben und um „die Metasprache zum Erscheinen zu bringen, die ihm widerfährt.“22 Diese zentrale Frage lautet: „Woher, in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahrheit!“23 Nietzsche argumentiert, dass der Mensch „von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen“24 getrieben wird, um existieren zu können in der Gesellschaft und bezeichnet dieses als „eine moralische auf Wahrheit sich beziehende Regung“.25

Die Figur, um die es in dem oben genannten Satz über den Trieb zur Wahrheit geht und die Figur nach der Nietzsche sucht, ist nach Ansicht von van Tongeren der Philosoph. Dieser Gedanke entspringt Nietzsches Drang herauszufinden, „was den Philosophen von dem Wissenschaftler unterscheidet (oder unterscheiden sollte), das soll heißen: seine Beziehung zur Kunst.“26 So thematisiert Nietzsche im zweiten Teil seiner Abhandlung das künstlerische Vermögen des Menschen. Das „Columbarium der Begriffe“, welches den Menschen beschützt und mit welchem der Mensch seine eigene „anthropomorphische Welt“ erschaffen hat, kann keine Wahrheit durch die Wissenschaft beanspruchen und ebenso wenig den „Fundamentaltrieb des Menschen“ befriedigen – also den Trieb zur Metaphernbildung. Es muss etwas gefunden werden, was dieser Aufgabe nachkommen kann und das soll nun „im Mythus und überhaupt der Kunst“ geschehen. Nietzsche erschafft in diesem Zusammenhang zwei Menschentypen – den intuitiven und den vernünftigen Menschen.

[...]


1 Seifert, S. 306.

2 Scheibenberger, S. 5.

3 Scheibenberger, S. 5.

4 Scheibenberger, S. 7.

5 Scheibenberger, S. 8.

6 Scheibenberger, S. 9.

7 Scheibenberger, S. 14-16.

8 Nietzsche, S. 875.

9 Scheibenberger, S. 15.

10 Nietzsche, S. 888.

11 Nietzsche, S. 876.

12 Nietzsche, S. 888.

13 Nietzsche, S. 875.

14 Nietzsche, S. 876.

15 Nietzsche, S. 877.

16 Scheibenberger, S. 15.

17 Scheibenberger, S. 15.

18 Nietzsche, S. 878.

19 Van Tongeren, S. 55.

20 Vgl. Van Tongeren, S. 57.

21 Van Tongeren, S. 60.

22 Kaiser, S. 77.

23 Nietzsche, S. 877.

24 Nietzsche, S. 881.

25 Nietzsche, S. 881.

26 Van Tongeren, S. 65.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Friedrich Nietzsches Wahrheitstheorie in "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne"
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Philosophische Fakultät)
Veranstaltung
Wahrheit und Wahrheitstheorien in der Philosophie
Note
1,00
Autor
Jahr
2022
Seiten
22
Katalognummer
V1307331
ISBN (Buch)
9783346779984
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahrheit, Ethik, Nietzsche, Lüge, Moral, Außermoral, Analyse, Sinn, Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, Essay, Nietzsches Wahrheitsbegriff, Wahrheitstheorien, Aristoteles
Arbeit zitieren
Christopher Cerra (Autor:in), 2022, Friedrich Nietzsches Wahrheitstheorie in "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1307331

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