Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
EINFÜHRUNG
DAS HAUS ALS MANIFESTATION DES BÖSEN
Hill House als “haunted house”
Die Architektur des Unheimlichen
MANIFESTATION DES BÖSEN DURCH RAUM UND ZEIT
Manifestation in der Identität
Manifestation ohne räumliche Grenzen
Der Mutterbauch im Roten Raum
SCHLUSSBETRACHTUNG
VERZEICHNIS DER VERWENDETEN LITERATUR UND MEDIEN
EINFÜHRUNG
Southern Gothic ist ein Subgenre der Gothic Literature, das in der amerikanischen Tradition exklusiv vertreten ist. Die Hauptthemen solcher literarischer Werke waren meist eine Mischung aus dem Supernatürlichen, Isolation und Erzeugung von Angst durch Stille. Die meisten dieser Fiktionen, die ihren Ursprung etwa im 18 Jahrhundert fanden, waren Geistergeschichten. Shirley Jackson war eine dieser Autorinnen, die solche Geistergeschichten verwendete, um soziale und häusliche Probleme auszudrücken, für die es keinen Raum im öffentlichen Diskurs gab.
The Haunting of Hill House markiert den fünften Teil in einer Reihe von sechs Gothic Romanen und vielen Kurzgeschichten von Shirley Jackson. Seit seiner Veröffentlichung hat der Roman zahlreiche Neuinterpretationen in Film und Fernsehen erfahren. Die erste davon erschien im Jahre 1963 mit dem Titel The Haunting von Robert Wise. Die zweite Verfilmung Jan de Bonts von 1999 versteht sich lediglich als Remake der ersten Verfilmung und nicht als eigenes Aufgreifen des literarischen Stoffes. Die neueste Adaption ist die Miniserie für Netflix von Mike Flanagan von 2018 mit dem gleichnamigen Titel The Haunting of Hill House. Das Besondere an der Serie ist die Verarbeitung des Stoffes. Obwohl die Serie den gleichen Titel trägt wie der Roman, so haben sie hinsichtlich Narration und Charaktere wenig gemeinsam.
Shirley Jacksons Romane haben in der Literaturforschung über die Jahre viel Aufmerksamkeit genossen. Von psychologischen Charakter- und Schauplatzanalysen, Genderfragen und sozialen Milieus, bis hin zu Kritiken von politischer und häuslicher Unterdrückung wurden ihre Fiktionen aus verschiedensten Blickwinkeln analysiert. Es ist daher ein wichtiges Anliegen dieser Arbeit, die neueste Interpretation ihres Werkes unter sorgfältig ausgesuchten Gesichtspunkten mit dem Roman zu vergleichen.
Das Haus als eines der Kernmotive beider Erzählungen wird dabei im Fokus der Arbeit stehen, da es aufgrund seiner Facetten sich nicht nur in seiner Natur als das Böse manifestiert, sondern auch Ausdruck persönlicher Identitätsbildung und mütterlicher Nähe ist. Die Forschungsergebnisse von Ljubica Matek werden dabei als Grundlage dienen und bei der Analyse der Motiven und Themen exemplarisch herangezogen.
DAS HAUS ALS MANIFESTATION DES BÖSEN
Hill House als “haunted house”
Alte und zerfallene Burgen, klaustrophobisch wirkende Kerker oder Katakomben sind nur eines der vielen Schauplätze, auf die der Gothic-Roman zurückgreift. Ihren Ursprung finden sie in einem der Werke, der als der Ursprung für das Gothic-Genre gilt: Horace Walpole 's The Castle of Otranto von 1794. Für Autoren wie H. P. Lovecraft spielen die Schauplätze eine besondere Rolle, bestimmen diese nämlich die Atmosphäre der Erzählung und schaffen die Basis für das Hervorrufen eines spezifischen Impuls bei den Charakteren. Bestimmte Emotionen und Instinkte sind Reaktionen auf genau jene Umgebung, in der die Figuren sich in der Handlung zu dem Zeitpunkt befinden.1 Shirley Jacksons Horror-Schreibstil wurde des öfteren mit dem von H.P. Lovecraft und Nathaniel Hawthorne verglichen; bei der Themenwahl ihrer sogenannten „ psychological ghost story “ wird sie mehr mit Henry James und Edith Wharton verglichen.
In einem Interview sagte Jackson einst selbst: “when I first used to write stories and hide them away in my desk, I used to think that no one had ever been so lonely as I was and I used to write about people all alone”2 Einsamkeit und die Bewältigung dessen sind Motive, die dem Gothic Genre eigen sind und von Jackson auch tatsächlich so gelebt wurden. Die Patriarchie und insbesondere die Unterdrückung der Frau waren – besonders im Amerika des 20. Jahrhunderts – Themen, die auf verschiedenste Weise Ausdruck in der Literatur fanden und als soziale Kritik an diesen Umständen gelesen wurden. Das Haus als familiäres Umfeld, ein Umfeld, das von Liebe und Geborgenheit und Sicherheit geprägt sein sollte, wurde zu einer Metapher für die Unterdrückung durch die patriarchale Gesellschaft.3 Die Suche nach dem Vater oder der Mutter, das Sehnen nach einem Heim und das Gefühl von Zugehörigkeit oder verlorener Identität lassen sich in fast allen Werken Shirley Jackson wiedererkennen. Solche "haunted house stories", wie Dale Bailey weiter ausführt:
"often provoke our fears about ourselves and our society, and, at their very best, they present deeply subversive critiques of all that we hold to be true about class, about race, about gender, about American history itself. “4
Shirley Jackson gibt in ihrem Roman nie Aufschluss darüber, ob das Haus nun tatsächlich von Geistern heimgesucht wird oder im Grunde alles nur in Eleanors Psyche stattfindet, denn schließlich erfährt der Leser alles durch ihre Augen und Gedanken. Möchte man nach dem Wesen eines “haunted house” fragen, so würde Steven J. Mariconda es definieren “as a dwelling that is inhabited by or visited regularly by a ghost or other supposedly supernatural being.”5 Ob so ein Geist in Hill House tatsächlich sein Unwesen treibt, wird dem Leser offengelassen. Was sich aber mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass das Haus supernatürliche Phänomene aufweist, selbstständig agiert und lebt und zwar durch Eleanor Vance. In dieser Hinsicht werden in der Literaturforschung viele verschiedene Positionen angenommen, die versuchen, die supernatürlichen Phänomene und Eleanors Verhalten zu erklären.
Die Architektur des Unheimlichen
Ljubica Matek hat sich in ihrer Untersuchung der Aufgabe gewidmet, die Architekturen in den Romanen von Lovecraft und Jackson näher zu betrachten. Sie greift dabei auf The Dreams in The Witch House und The Haunting of Hill House zurück, dessen Schauplätze im Mittelpunkt der Narration stehen und einen entscheidenden Einfluss auf ihre Protagonisten ausüben. Ihre These ist es, dass das Böse oder von Geistern heimgesuchte Orte in der Horrorliteratur meist Ausdruck in der Zerstörung von Proportionen und Skalen findet. Das Gefühl des Unheimlichen und ein physisches und mentales Unwohlsein ist die Folge dessen. Die massive Veränderung dieser Orte lässt dem Protagonisten einen Ausweg völlig aussichtslos erscheinen. Folglich wird damit der Idee widersprochen, dass Häuser ein sicherer und bekannter Ort sind. Matek gelangt zu der Erkenntnis, dass das Böse sich in beiden Erzählungen in der Architektur des Handlungsortes manifestiert und damit eine allzu physische Form in der Narration annimmt. Protagonisten sowie Leser werden – wie es Freud definiert – von einem Gefühl des Unheimlichen heimgesucht, was zu einem unweigerlichen Kollaps der geistigen Vernunft und Gesundheit führt. In beiden Romanen scheint es so, als würde sich das Haus der menschlichen Logik und den erdachten naturwissenschaftlichen Systemen für Messungen und Werte widersetzen und zwar mit allen Mitteln. Oftmals fällt dabei ein Menschenleben, damit das Haus sich als die überlegene Entität behaupten kann. In Hill House ist es Eleanor Vance, die sich am Ende durch einen (un)beinflussten Suizid das Leben nimmt, indem sie das Auto gegen den großen Baum fährt. In The Dreams in The Witch House ist es Walter Gilman, der von einem übernatürlichen Wesen namens Brown Jenkins getötet wird, nachdem er in das Portal zur vierten Dimension getreten ist. Diese Manifestationen in den Häusern und Zimmern sind es, die Matek als „Architektur des Bösen“ bezeichnet.6
Die Geschichte in The Haunting of Hill House fängt damit an, dass Dr. John Montague verschiedene Personen dazu einlädt, das Haus auf seine supernatürlichen Geschehnisse zu untersuchen und mit ihm auf einer Art Exkursion einige Tage dort zu verbringen. Unter denen, die zugesagt haben, befinden sich Eleanor Vance, Theodora und Luke Sanderson. Gleich zu Beginn wird die bösartige Präsenz des Hauses deutlich, als Eleanor bei ihrer Ankunft kurz innehält und aus einem ihrer vielen Tagträume gerissen wird. Sie fährt direkt auf das Haus zu und der Leser erhält Einblick in ihre innere Gedankenwelt: “The house was vile. She shivered and thought, the words coming freely into her mind, Hill House is vile, it is diseased; get away from here at once.”7 Ihre instinktive Vernunft sagt ihr, dass das Haus bösartig ist und sie lieber fliehen sollte. Entgegen ihrem besseren Wissen entschließt sie sich nicht umzukehren und tritt in das Haus ein. Bereits in diesen einführenden Zeilen der Narration kommt die bösartige Natur des Hauses zum Vorschein und die Wirkung auf die Bewohner des Hauses – und insbesondere Eleanor – die sie durch ihre externe und interne Erscheinung und Konstruktion ausübt.8 Weiter noch verleiht Jackson dieser „Architektur des Bösen“ einen externen Gesichtsausdruck, als sie beschreibt:
“No human eye can isolate the unhappy coincidence of line and place which suggests evil in the face of a house, and yet somehow a maniac juxtaposition, a badly turned angle, some chance meeting of roof and sky, turned Hill House into a place of despair, more frightening because the face of Hill House seemed awake.”9
Das Böse ist jetzt also nicht mehr nur ein Gefühl, sondern besitzt nun ein Gesicht – es wird greifbarer. Shirley Jackson versteht es, grauenhafte Schauplätze für den Leser durch die Augen ihrer Protagonisten zu kreieren. Trotz des furchteinflößenden Anblicks und der negativen Energie, die das Haus verströmt, scheint es wiederum eine böswillige, ja sogar unheimliche anziehende Aura zu haben, der kaum zu widerstehen ist.
Im weiteren Verlauf der Erzählung versuchen sich die Bewohner des Hill House den Ursprung des Hauses und der offenkundigen paranormalen Erscheinungen zu erklären. Dr. Montague eröffnet den anderen am zweiten Tag, dass er sie das Haus bei Tag bestaunen lassen wollte und ihnen die Möglichkeit geben wollte, sich ein eigenes Bild des Hauses zu machen, bevor er die Geschichte des Hauses erzählt und sie dadurch potentiell in ihrem Empfinden beeinflussen könnte. Eleanor und Theodora bemerken in ihren Beobachtungen, dass der Turm, in dem sich die Bibliothek befindet, logisch betrachtet von ihrem Zimmer aus erkennbar sein sollte, es aber nicht ist. Diese Verwendung „geometrischer Tricks“ wie Matek sie nennt, sollen die Psyche der Anwesenden nach und nach angreifen und sie an ihrem eigenen Verstand zweifeln lassen.10 Hill House zeigt sich von Anfang an besonders lebendig. Es versetzt seine Räume kontinuierlich, um die Anwesenden zu verwirren, öffnet Türen, die zuvor verschlossen waren und erweckt Figuren an den Wänden und Regalen zum Leben und suggeriert so die Existenz paranormaler Geschehnisse. Eleanor ergreift das Gefühl, wie von einem Monster verschlungen worden zu sein, als sie Hill House das erste Mal betritt.11 Es zeigt sich, wie die Existenz des Bösen auch physische Auswirkungen auf die Bewohner nimmt. Dem Leser wird der Eindruck vermittelt, als ob sich Eleanor und die anderen Protagonisten im Inneren des Monsters befinden und seine Bewegungen spüren und wahrnehmen können: “the house brooded, settling and stirring with a movement that was almost like a shudder.” 12 Der Gedanke, dass eine nicht-menschliche Entität, wie das Haus, menschliche Charakteristika aufweist, löst ein Unbehagen und Gefühl des Unheimlichen beim Leser und den Protagonisten aus, was sich jeglicher menschlicher Rationalität entzieht.13
Eleanor und die anderen glauben beim ersten Anblick, dass der Erbauer Hugh Crain das Haus seinem Verstand nach angepasst hat. Dr. Montague bezeichnet es als “masterpiece of architectural misdirection” und weist auf die Asymmetrien hin, die sich an jedem Ort im Haus feststellen lassen. Die Treppenstufen sind leicht uneben, die Winkel, die man normalerweise annehmen würde, in dem Objekte zueinanderstehen, sind in Wahrheit einige Grade zu wenig, die Wände unterproportional, aber all das in einer Konstanz, dass es nicht willkürlich erscheint. Die Vorgeschichte Crains über seine verstorbenen Frauen und Töchter unterstreicht seinen bösartigen, kranken Verstand und erweckt den glaubhaften Eindruck, dass sich die Anwesenden nicht nur im Hause Crains befinden, sondern im Prinzip auch in seiner Psyche.
Matek argumentiert, wie das Böse eine Ablehnung von Proportionen, Harmonie und menschlicher Logik repräsentiert. Im Grunde also ein kompletter Gegensatz von Werten und Systemen, der für menschliche Begriffe nicht fassbar ist. Dieser Gegensatz ist es, was Hill House auch vom Rest abgrenzt und die Protagonisten während ihres Aufenthalts durchgehend begleitet. Denn obwohl dem Haus das Böse immanent ist und sein wahres „Gesicht“ nach und nach weiter zeigt, ist es den Anwesenden nicht begreiflich, wie jemand solch ein Haus willentlich erbauen könnte. “The evil is the house itself, I think. It has enchained and destroyed its people and their lives, it is a place of contained ill will.”14 fährt Dr. Montague fort. In einer weiteren Passage wird erläutert:
“This house which seemed somehow to have formed itself, flying together into its own powerful pattern under the hands of builders, fitting itself into its own construction of lines and angles, reared its great head back against the sky without concession to humanity. It was a house without kindness, never meant to be lived in, not a fit place for people or for love or for hope. Exorcism cannot alter the countenance of a house; Hill House would stay as it was until it was destroyed.”15
Die einzige Erklärung ist, dass sich das Haus gewissermaßen selbst erbaut hat. Aber wie auch bei dem Versuch, sich das Wesen des Hauses erklären zu wollen, ist die Beantwortung der Frage nach dessen Herkunft ebenso zum Scheitern verurteilt. Die bloße Vorstellung, dass das Haus die Menschen so weitgehend manipuliert hat, dass sie es nach menschlich unbekannten Maßen erbaut haben und dass es jeden tötet, der dessen Existenz bedrohen könnte, ist ein extrem erschreckendes Gefühl. Menschliche Vorstellungskraft und Verständnisse der Naturgesetze reichen nicht aus, um sich ein solches Übel ansatzweise erklären zu können. Dieses Gefühl des Scheiterns und die Realisierung menschlicher Schwäche im Angesicht des Unbekannten sind genau das, was Gothic Romane verkörpern.16
Es zeigt sich also, dass obgleich die Existenz von Geistern im Hill House nicht fassbar gemacht werden kann, eine andere Kraft mit den Protagonisten interagiert. Dieses Böse manifestiert sich in der Architektur des Hauses und verzehrt seine Bewohner psychisch und physisch.
MANIFESTATION DES BÖSEN DURCH RAUM UND ZEIT
Manifestation in der Identität
Die Geschichte des Hill House in Mike Flanagan´s Interpretation unterscheidet sich grundlegend zu der im Roman. Eine der großen Besonderheiten in dieser Erzählform liegt darin, dass sie mehr als Adaption, statt bloße stringente Verfilmung des Stoffes konzipiert ist. Das Format als Serie ist so gewählt, dass in jeder der zehn Episoden näher auf die einzelnen Charaktere und dessen Hintergrundgeschichte eingegangen wird.
Die Geschichte findet auf zwei Zeitebenen statt – Vergangenheit und Gegenwart. Die Vergangenheit dient als einer Art Prätext und wird als Flashback in die Gegenwartsnarration eingeflochten. Das Geschehen um eine Gruppe Menschen, die in das verlassene und heimgesuchte Hill House einzieht und dort mit paranormalen Geschehnissen konfrontiert wird – wie es im Groben betrachtet die Erzählung des Romans ist – findet auf dieser Zeitebene statt. Dieser Punkt ist besonders nennenswert und entscheidend für einen Vergleich mit dem Roman. In Jacksons Hill House verbringen die Protagonisten die meiste Zeit der Erzählung im Haus und der Leser erfährt von dem Einfluss, den es dort auf sie hat. In der Serie Flanagans zeigt sich, dass das Haus keinen physischen Raum benötigt, um seine Bewohner zu terrorisieren. Es zeigt sich, dass auch noch Jahre später das Böse seine Narben in der Psyche der Charaktere hinterlassen hat. Abgesehen vom Schauplatz und den Charakternamen lassen sich in der Narration keine großartigen Gemeinsamkeiten feststellen, die dem Roman und der Serie zugrunde liegen.
[...]
1 Matek, Ljubica, S. 411.
2 Joshi, S. T., S. 17.
3 Bailey, Dale, S. 25-28.
4 Bailey, Dale, S. 6.
5 Mariconda, Steven J., S. 268.
6 Matek, Ljubica, S. 406.
7 Jackson, Shirley, S. 33.
8 Matek, Ljubica, S. 412.
9 Jackson, Shirley, S. 34.
10 Matek, Ljubica, S. 415.
11 Jackson, Shirley, S. 42.
12 Jackson, Shirley, S. 86.
13 Matek, Ljubica, S. 419.
14 Jackson, Shirley, S. 82.
15 Jackson, Shirley, S. 35.
16 Matek, Ljubica, S. 420-421.