Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Erlebnisse aus der Nachkriegszeit 1946-1949
2.1 Zerstörung und Trümmer
2.2 Armut, Elend, Hunger
2.3 Holocaust
2.4 Besatzung
2.5 Kriegsgefangene, Heimkehrer
3. Die Schuldfrage
3.1 Definition der Schuld
3.2 „Als der Krieg zu Ende war“
4. Nachwort
4.1 Literaturliste
4.2 Anhang
1. Einleitung
Max Frischs dramatisches Frühwerk - Als der Krieg zu Ende war, gilt als ein historisches Stück. Die Handlungen beruhen auf einer Erzählung, der Russenzeit, seines Gastwirtes Frank. Die Figuren, sowie deren Erlebnisse und Handlungen, sind mit Frischs Tagebuch 1946-1949 eng verknüpft, oder beruhen auf Erzählungen, von seinen Freunden aus Berlin. Die Uraufführung fand, am 8.1.1949, im Züricher Schauspielhaus statt. „Als der Krieg zu Ende war. Regie: Kurt Horwitz. Hauptdarsteller: Brigitte Horney, Walter Richter, Robert Freitag. Bühnenbild: Caspar Neher. Kleine Schlägerei im Foyer“ (Max Frisch 1987:297). Die Thematiken der Nachkriegsliteratur ab 1945, wie beispielsweise Holocaust, Trümmer, Armut, Elend, Hunger, Kriegsgefangene, Heimkehrer, Zerstörung, Besatzung, die Frage nach der Schuld und so weiter, werden in dieser Hausarbeit aufgegriffen und anhand der Methode, einer strukturellen Textanalyse, hauptsächlich aus dem Tagebuch 1946-1949 und dem dramatischen Frühwerk aus Gesammelte Werke, analysiert, interpretiert und erörtert. Während seiner Reisen, hat Max Frisch sehr viele Erfahrungen im Tagebuch festgehalten und erlebte Momente schriftlich skizziert. Nicht nur schöne, sondern auch den Besuch des Konzentrations- und Todeslagers Theresienstadt. Dieses Erlebnis wurde, auf Grund seiner Wichtigkeit, im Kontext zum Holocaust, in diese Hausarbeit mit eingebettet. Frisch schreibt im Tagebuch auch von Reisen und Besuchen in Italien, Tschechien, Österreich, Deutschland, Polen, seinem Heimatland der Schweiz und Russland. Überall ist der gerade zu Ende gegangene zweite Weltkrieg präsent. Die Verknüpfung seiner Tagebucheinträge mit dem Werk, ist offensichtlich, deshalb gilt Als der Krieg zu Ende war als ein historisches Stück. Frisch liefert in seinem Tagebuch Hinweise, dass er gerade an einem neuen Schauspiel arbeitet, gemeint ist hierbei das dramatische Frühwerk. Die Struktur dieser Hausarbeit ist folgendermaßen gegliedert. Im Kapitel Erlebnisse aus der Nachkriegszeit 1946-1949, werden einzelne Erlebnisse, und Verknüpfungen zwischen den beiden Werken beschrieben und thematisiert. Im zweiten Kapitel, der Schuldfrage, wird unter Verwendung von weiterer Literatur, über die Thematik der Schuld geschrieben. Hier soll an basaler Textgrundlage erklärt werden, wer oder was nun die Schuld trägt. Im Nachwort findet sich, neben einer Literaturliste, ein Anhang, in dem tabellarisch weitere Erlebnisse und Erfahrungen der Nachkriegszeit, aus Max Frischs Tagebuch, mit Seitenzahlen und Art und Anmerkungen versehen, festgehalten sind. Das folgende Verzeichnis ist aus dem historischen Stück in Gesammelte Werke (212) entnommen.
Personen
AGNES ANDERS, eine deutsche Frau
HORST ANDERS, ihr Mann
STEPAN IWANOW, ein russischer Oberst
JEHUDA KARP, ein Warschauer Jude
GITTA, eine Berlinerin
HALSKE, ein Pianist
Ferner kommen vor:
DREI RUSSISCHE OFFIZIERE
EIN KIND
Das Stück spielt in Berlin:
Frühjahr 1945
2. Erlebnisse aus der Nachkriegszeit 1946-1949
In diesem Kapitel werden Erlebnisse, aus dem Tagebuch 1946 – 1949, in den einzelnen Unterkapiteln, gemeinsam mit Textpassagen aus dem Frühwerk dargestellt, manchmal verknüpft. Im Tagebuch finden sich weitere Erfahrungen und Erlebnisse von Max Frisch aus der Nachkriegszeit, im Anhang befindet sich eine Tabelle, dort können weitere nach Jahren geordnete Textpassagen, aus dem Tagebuch, nachgeschlagen und entnommen werden.
2.1 Zerstörung und Trümmer
Die Szenerie des dramatischen Frühstücks, Als der Krieg zu Ende war, spielt, in Berlin, im Frühjahr 1945. Der zweite Weltkrieg ist gerade vorüber, Nazideutschland ist besiegt. Europa ist ein Schlachtfeld und Deutschland liegt in Trümmern. Durch die schweren Bombardements der Alliierten wurde Berlin, wie auch viele andere Städte, zerstört. Max Frisch schreibt dazu in seinem Tagebuch 1946-1949,
„Wenn man in Frankfurt steht, zumal in der alten Innenstadt, und wenn man an München zurückdenkt: München kann man sich vorstellen, Frankfurt nicht mehr“ (Max Frisch 1987:31).
Im Werk selbst erleben die Personen gerade das Kriegsende, den Sieg der Alliierten, durch die Eroberung Berlins. Agnes berichtet von ihren Erlebnissen, der letzten Tage.
„Es war mitten am Tage, es war Frühling, Mai, aber der Himmel war finster von Asche und Rauch, und die Sonne schien nicht auf den Boden herab. Auf der Straße lagen die toten Soldaten, die fremden und die eigenen, plötzlich ohne Unterschied. Andere hingen an den Bäumen. Weil sie nicht mehr hatten kämpfen wollen, sondern leben. Von einzelnen Dächern wurde noch immer geschossen, blindlings, aber in wenigen Stunden mußte der Krieg, der verfluchte, zu Ende sein“ (Max Frisch 2019:213).
Die Personen, befinden sich im Haus der Familie Anders, Gitta und Agnes verstecken sich in der Waschküche, die sich im Keller befindet, vor den Truppen der Sieger, die russischen Soldaten schlurfen begleitet von Marschmusik durch die Straßen. Durch ein Fenster können sie die bewaffneten Truppen und „Tanks“ (Max Frisch 2019:213) sehen. Das Haus selbst, ist teilweise zerstört worden, das Wohnzimmer, in dem es sich die russischen Soldaten gemütlich gemacht haben, lässt darauf schließen, dass Familie Anders sehr wohlhabend war, denn es stehen ein schwarzer Flügel und ein Grammophon im Raum. Als die russischen Soldaten sich einen Spaß daraus machen, auf Schallplatten zu schießen, schießt einer ein Loch in die Tür. Als die Soldaten die Tür geöffnet haben wird, wird klar, dass das Haus nicht unversehrt geblieben ist und einer halben Ruine ähnelt.
„(…) man spürt es an ihrem Zurückweichen, verblüfft und verstummt starren sie in die klaffende Ruine hinunter, während die Platte zu Ende spielt“ (Max Frisch 2019:228).
Der Grund dafür könnte eine Fliegerbombe gewesen sein, die während des Luftterrors, der im Frühjahr des Jahres über Berlin tobte, wohl in der Nähe des Hauses detonierte.
„(…) – mitten im Luftterror, ich bitte Sie, Frühjahr neunzehndreiundvierzig!“ (Max Frisch 2019:247).
Als Agnes mit Horst spricht, erzählt sie von ihrem Ausflug mit dem russischen Oberst. Die beiden sind gemeinsam, in einem Mercedes, durch die Landschaft gefahren. Agnes berichtet über die Welt außerhalb des Kellers:
„In Kladow, wo wir früher Golf gespielt haben – ein paar Geschütze und die verrosteten Scheinwerfer, sonst merkst du überhaupt nichts. Nur das Klubhaus hat es erwischt“ (Max Frisch 2019:238).
Hier lässt sich gut nachvollziehen, wie die Familie Anders wahrscheinlich vor und während dem Krieg gelebt hat. Sie hatten ein großes Haus, lasen Bücher, sind Golfspielen gegangen, und so weiter. „Darüber haben wir als Pennäler unsere Witze gemacht (…)“ (Max Frisch 1987:241). Pennäler, sind Gymnasiasten, auch Horsts Rang, als Hauptmann, lässt auf seine schulische Bildung schließen. Vermutlich, waren sie außerdem Parteimitglieder der NSDAP, und Adolf Hitler treu ergeben, was für ihre gehobene soziale Stellung in der Gesellschaft stehen kann und nun ihre Angst, vor der Zukunft, nur noch weiter schüren sollte. Ihr Eigentum wurde durch den Krieg zerstört, ihnen bleibt nichts außer, Trümmer, Ruinen, Armut, Hunger und Angst.
2.2 Armut, Elend, Hunger
Es herrscht Armut, wie man an der Kleidung und den dünnen Gesichtern der spielenden Kinder erkennen kann. Am zerschossenen Bahnhof findet Max Frisch Flüchtlinge vor, die auf den Treppen oder dem Schutt liegen. Die Menschen hungern. Dennoch ist er erfreut über die Gastfreundschaft der jungen Deutschen, bei denen er eingekehrt ist.
„Nur beim Essen hat man Hemmungen, und es fällt auf, daß die Leute alles, was sie bekommen, sofort verbrauchen; wer weiß, was morgen ist?“ (Max Frisch 1987:33).
Ein alter Mann, der ebenfalls nicht schlafen kann, unterhält sich mit Max Frisch, im Gespräch stellt sich heraus, dass er sechs Jahre im Konzentrationslager Dachau inhaftiert war. Auf der Durchreise, nach Nürnberg, im März 1947, stehen Kinder an den Bahndämmen, meistens dort, wo das Schienennetz durch die Bombardierung zerstört wurde und die Bahn langsamer fahren muss; hoffungsvoll warten sie, ob ihnen jemand Essbares, oder sonstige Vorräte aus dem Fenster zuwirft. Auch Frauen stehen dabei, abgemagert, blass und stumm. Um die Vorräte entsteht ein echter Kampf, „Krach auf dem Bahnsteig; jemand hat Zigaretten geworfen. Der Jüngling, der sie gewinnt: Schwindsucht, Wehrmachtsmütze, Schwarzhandel, Faustrecht, Syphilis“ (Max Frisch 1987:148). Die Zustände sind grauenvoll, „Das ist der Hunger, die Kälte, das Elend“ (Max Frisch 1997:130).
Im historischen Stück selbst bemerkt der/die Lesende ebendiese schlimmen Zustände auch. Wer würde denn heute noch drei Wochen auf einen Anzug warten müssen? Doch zu dieser Zeit, konnte niemand einfach in ein Geschäft gehen und neue kaufen. Kaputte Kleidung wurde noch händisch repariert und geflickt. Ebenso wird von „Schleicherei mit den Lebensmitteln“ berichtet, hier wird auf die Lebensmittelkarten angespielt, welche an die Bevölkerung verteilt wurden, um eine halbwegs gerechte Abgabe von Lebensmitteln zu ermöglichen. Denn die Verfügbarkeit von Gütern, kann nicht mit der heutigen Zeit verglichen werden. Martin Anders, das tote Kind von Agnes und Horst, ist in den Ruinen verhungert; er wurde nur vier Jahre alt und wurde von einem Hund gefunden. Auch die halben Zigaretten, die Agnes vom Boden aufhebt und raucht, veranschaulichen die Knappheit aller Güter. Das Essen ist im Stück, bei den Menschen im Keller, ebenfalls ein großes Thema. Agnes möchte nichts essen, und argumentiert damit, dass zu wenig Nahrung vorhanden ist, und sie nichts wegessen möchte, weil sie noch kein Hungergefühl verspürt. Möglicherweise hat die Appetitlosigkeit, ihren Ursprung, in Agnes Beziehung zu Stepan; allerdings ist das eine rein interpretative Mutmaßung.
„(…) unsere Aufgabe, die darin besteht, daß wir das Elend bekämpfen: mit Brot, mit Milch, mit Wolle, mit Obst und nicht zuletzt damit, daß wir das Elend nicht als solches bewundern, (…)“ (Max Frisch 1987:130).
2.3 Holocaust
Der Holocaust ist allgegenwärtig die alte Denkart noch vorherrschend in den Köpfen der Bevölkerung; die Familie Anders ist dabei nicht ausgenommen. Dieses Phänomen, wird besonders deutlich, als Horst, immer noch Begriffe wie Russenschweine oder Judenschweine verwendet. Stereotype der Rassenlehre, werden aufgegriffen. Horst interessiert, wie der russische Oberst aussieht, Agnes soll ihn beschreiben.
„Ich sage dir ja, er ist Russe… Und wie Russen aussehen, das weiß doch jedes Kind. Wozu gibt es Bilder. Jedes Volk hat eine Fahne und ein Gesicht. Der Jude hat eine krumme Nase und dicke Lippen, vom Charakter zu schweigen. Der Engländer ist hager und sportlich, solang das Spiel zu seinen Gunsten steht. Der Spanier ist stolz, der Italiener hat eine beneidenswerte Stimme, aber er ist faul und oberflächlich, der Deutsche ist treu und tief. Und der Franzose hat Esprit, aber das ist auch alles… Der Russe, nun ja, denk an die Partisanen, die du getroffen hast-“ (Max Frisch:2019:243).
Besondere Aufmerksamkeit, sollte dem vierten Satz gelten, der Jude hat eine krumme Nase … und so weiter. An dieser Stelle bemerkt man gleich die Stereotypisierung und den Antisemitismus, den Agnes und Horst die letzten Jahre gelebt haben, und der logischerweise noch in ihren Köpfen fest verankert ist. Im Werk, gibt es einen Juden, er heißt Jehuda Karp und stammt ursprünglich aus Warschau. Er ist der Bursche, der in den Keller kommt, um nach dem Wein zu suchen. Als sich Jehuda mit Halske, einem Pianisten, unterhält, erzählt er von einem Massaker, welches die deutschen Soldaten im Warschauer Ghetto verübt haben.
„Neinzehndreiundvierzig – bin ich gewesen in Ghetto - in Warsche … Sei loßn das Wasser arein in die Kanaln, as mir solln dertrinken weren, un wenn mir von die Kanaln arois steigen, warten sei mit die Pistoletten: Tatatata! Einer von uns muß zu die Rußn. Ober wie? Mein Mutter ist dertrinken, mein Vater ist varschossen vor unsre Oign, mein Schwesterle is vergast (…)“ (Max Frisch 2019:247).
Besonders brisant, ist die Information, die uns Halske liefert, „Hauptmann Anders, der ist in Warschau gewesen, nicht ich!“ (Max Frisch 2019:248). Nun geschieht, kurz vor dem Schluss des Stückes, das dramatische und unausweichliche, als Horst, im grauen Straßenanzug, das Wohnzimmer betritt. Jehuda ist auch anwesend, und als Horst sich vorstellt, wird er bei der Erwähnung von Horsts Nachnamen, Anders, hellhörig. Er fragt Horst, „Hoiptmann Anders, Ihr send gewsen in Warsche?“ (Max Frisch 2019:255). Horst bejaht die Frage. Daraufhin wird Jehuda zornig und bezeichnet Horst als Mörder. Horst schweigt bei der Frage, ob er in besagtem Warschauer Ghetto gewesen ist. Jehuda erklärt: „Frihjohr neinzehndreiundvierzig. März un April. Achtzigtoisend Menschen-“ (Max Frisch 2019:255). Brigade Stroop. Horst widerspricht und argumentiert damit, dass die Wehrmacht nicht bei dem Massaker im Warschauer Ghetto beteiligt war. Im Tagebuch, 01.09.1948, findet sich eine Textstelle, Frisch besucht ein polnisches Ghetto, welches nicht mehr augenscheinlich vorzufinden ist. Die Vernichtungen, an diesem Ort, wurden von Brigadeführer Josef Stroop durchgeführt. Der Erzählung eines polnischen Augenzeugen, der über die grausamen Geschehnisse berichtet, kann auf Grund von zahlreichen Fotos und deckungsgleichen Berichten keine Lüge unterstellt werden.
„Seine Geschichte, die mich im Zusammenhang mit dem neuen Schauspiel schon seit einem Jahr beschäftigt, kenne ich aus dem dienstlichen Bericht dieses Mannes, der diese Vernichtung durchgeführt hat, Brigadeführer Josef Stroop. Aussagen eines polnischen Augenzeugen, den ich heute gefunden habe, und die zahlreichen Fotos, aufgenommen von Deutschen, decken sich mit den Einzelheiten des genannten Berichtes, der, nachdem er die tadellose Zusammenarbeit mit der Wehrmacht rühmt, unter einem Titel in geschmackvoll-handgemalter Fraktur meldet, daß es in treuer Waffenbrüderschaft und durch den unermüdlichen Schneid sämtlicher Kräfte gelungen ist, insgesamt 56065 Juden, die sicher der Umsiedlung in die Gaskammern widersetzten, nachweislich zu vernichten. (März und April 1943)“ (Max Frisch 1987:271).
Auf der Durchreise besucht Max Frisch Theresienstadt, und wird Zeuge des Holocaust, „außerhalb der kleinen Stadt, die als Ghetto diente, befindet sich das Fort; das eigentliche Todeslager“ (Max Frisch 1987:140). Max Frisch skizziert das Erlebnis; im ersten Hof wohnten die Wachmannschaften. Über dem inneren Hof, in dem die Gefangenen untergebracht waren, steht ein Häuslein mit Scheinwerfer und Maschinengewehr. Aus Beton angefertigte Zellen reihen sich aneinander, die Pritschen erinnern an Flaschengestelle. Die Einschusslöcher in den Wänden, lassen als stumme Zeugen darauf schließen, wo genau Hinrichtungen, durch Erschießen, stattgefunden haben.
„Das Ganze, so, wie es sich heute zeigt, vermischt die Merkmale einer Kaserne, einer Hühnerfarm, einer Fabrik und eines Schlachthofes. Immer weitere Höfe schließen sich an. Durch das sogenannte Todestor, eine Art von Tunnel, kommen wir zu einem Massengrab von siebenhundert Menschen; später benutzte man die Öfen einer nahen Ziegelei“ (Max Frisch 1987:140-141).
Frisch berichtet von Galgen, einfache Balken mit zwei Haken, deren einfache Konstruktion fast lächerlich erscheint. Unweit von ebendiesen Galgen, befindet sich ein weiterer Platz für Erschießungen, ein Wassergraben trennt die Schützen von den Opfern. Ein Leichentrupp, aus inhaftierten Juden, musste die Erschossenen abräumen, möglicherweise noch für deren Tod sorgen. Ein gutes Stück weiter, ändert sich die Szenerie, sie stehen vor einem tadellosen Schwimmbecken, ein Alpinum (ein spezieller Steingarten mit Pflanzen) befindet sich direkt daneben. Offensichtlich haben die Wachmannschaften hier den Sommer gemeinsam mit Frauen und Kindern verbracht. Der nächste Hof, ist von einer alten Stallung umgeben, die Häftlinge mussten hier antreten, um gemeinsam die Reden des Führers anzuhören; innerhalb dieser Stallungen befindet sich die Folterkammer.
„Im steinernen Boden sind zwei eiserne Ringe verschmiedet, an der Decke ist ein Flaschenzug, und genau darunter, eingelassen in der steinernen Bodenplatte, befindet sich ein eiserner Dorn in der Größe eines Zeigefingers. Es ist ein Raum mit alten Gewölben, und zwischen den Pfeilern hängt ein Vorhang aus dünnem Sacktuch, ein Schleier, der die Zuschauer verbarg“ (Max Frisch 1987:141).
Außerhalb der Stallung, befindet sich eine steinerne Brücke, unter der sich der sogenannte Judengraben befindet. In diesem Graben fanden Kämpfe statt, zehn Juden wurden mit Heugabeln bewaffnet und hinuntergeschickt, mit dem Versprechen, dass die zwei letzten Überlebenden in die Freiheit entlassen werden. Ein ehemaliger Insasse berichtet, dass die beiden letzten Überlebenden, nach dem Kampf, durch einen Genickschuss exekutiert, und somit in die Freiheit entlassen wurden. Die Zuschauer, für dieses schreckliche Specktakel, standen auf der steinernen Brücke. Am letzten Ort, im Todeslager, steht Max Frisch vor Urnen aus Sperrholz. Dort sieht er, wie im Tagebuch beschrieben, zum ersten Mal menschliche Asche; „sie ist grau, aber voller kleiner Knöchelchen, die gelblich sind“ (Max Frisch 1987:142). Die deutsche Version der Urnen bestand aus Papier, sogenannte Düte, sie wurden handschriftlich mit den Nummern der Opfer versehen und gelagert. Die Soldaten, die das Lager befreit haben, fanden einen eingelagerten Vorrat von um die zwanzigtausend solcher Düte.
2.4 Besatzung
Im Tagebuch, schreibt Frisch unter anderem auch über das Verhalten der russischen Soldaten, den Besatzungstruppen. Im Café berichtet jemand von einem Vorfall aus Berlin. Eine Kriegsgefangenenkolonne, geführt von einem russischen Soldaten, ist auf dem Weg zur Arbeit und bewegt sich durch die Straßen. Plötzlich kommt eine Frau aus einer Ruine hervor und umarmt einen der Gefangenen, der Trupp muss anhalten. Als der russische Soldat die Lage begriffen hat, läuft er zu dem sich umarmenden Paar. Er fragt die beiden ob sie Mann und Frau sind. Beide bejahen seine Frage. Dann deutet er ihnen mit seiner Hand, dass sie weglaufen sollen, „Weg - laufen, laufen – weg!“ (Max Frisch 1987:54). Der russische Soldat marschiert mit den elf anderen Gefangenen weiter, und zwingt, circa hundert Meter später, einen wahllosen Passanten, mit dem Maschinengewehr, in den Trupp einzutreten, „damit das Dutzend, das der Staat von ihm verlangt, wieder voll ist“ (Max Frisch 1987:55). Der russische Soldat, handelt, indem er das Liebespaar laufen lässt, sehr menschlich in dieser Situation. Dennoch ist es seine reine Willkür, die Angst bereitet. Die kaltblütige Skrupellosigkeit, einen zufälligen Passanten mit vorgehaltener Maschinenpistole zu zwingen, in den Trupp einzutreten, kann theoretisch jeden treffen, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort befindet.
Das geistige Bild, welches im Stück gezeichnet wird, ist ein grausames. Zum einen erzählen sie die grausige Geschichte von Günther, der sich die Befreiung herbeigesehnt und von russischen Soldaten erschlagen wurde.
„Endlich die Befreiung: der gute Günther kann nicht warten, du kennst ihn ja, sofort hinaus auf die Straße, zum ersten Mal seit drei Jahren, die ganze Armee will er umarmen – nun ja, da sieht er eben, wie die Armee gerade sein Kind umarmt, er stellt sich dazwischen, natürlich sind sie alle besoffen - verstehen kein Wort - ein Kolben auf den Kopf, und da liegt er“ (Max Frisch 2019:215).
Zum anderen erzählt Agnes von Gittas Geschichte, ein Erlebnis, welches Gitta nicht zweimal machen möchte, vorher würde sie sich lieber die Adern aufbeißen. Ein grauenvolles Erlebnis, welches schockiert, und auch Agnes im Laufe des Werkes noch beschäftigt, über das sie spricht, während sie mit Stepan Iwanow alleine ist.
„Ihrer sind fünf in den Keller gekommen, und wie sie sich wehrt, nehmen sie einfach das Messer. Um ihr die Hose aufzuschneiden, verstehst du. Weil sie den Reißverschluß nicht begreifen. Was soll sie schon machen? Gegen fünf Betrunkene. -Wenigstens hat sie die Hose gerettet, das Letzte, was sie anzuziehen hat. Agnes zerdrückt die Zigarette. Nachher kommt der Offizier, wenigstens einer, der nicht betrunken ist. Als Gitta ihm zeigt und zwar deutlich, was geschehen ist, als sie es ihm unter die Nase hält: bitte - natürlich schickt er die Soldaten hinaus … nun ja, und er ist der Sechste“ (Max Frisch 2019:223).
Aus diesem Grund, schmieren sich die Frauen Asche ins Gesicht, oder tragen absichtlich hässliche Kopftücher, um auf die Soldaten nicht noch zusätzlich attraktiv zu wirken, auch wenn es im Fall von Gitta, leider nicht von Erfolg gekrönt war. Denn Gitta wurde trotz ihres mit Asche verschmierten Gesichts geschändet. Die Angst ist also groß vor den russischen Soldaten, die im dramatischen Frühwerk als betrunkene, ungehobelte, gewalttätige, begriffliche und schießwütige Personen beschrieben. Dies lässt sich durch viele kurze Textpassagen (217, 228, 229) fundieren.
Frank, der Gastgeber Frischs, erzählt eine Geschichte aus der Russenzeit. In seiner Schilderung spielt das Ereignis im Mai 1945, und zwar in Westberlin. Genauer gesagt im Keller eines wenig zerstörten Hauses. Oben, auf der Straße, hört man die russischen Soldaten im Zuge einer Siegesfeier feiern, tanzen und lachen. Sie feiern den Fall der deutschen Hauptstadt und damit ihren Sieg über Nazideutschland. Im Keller verstecken sich eine Frau und ein deutscher Offizier der Wehrmacht, er ist der Gefangenschaft entgangen, trägt aber immer noch seine Wehrmachtsuniform und muss sich deshalb verstecken. Eines Tages, kommt ein Bursche herunter, der nach Wein sucht. Die Frau muss ihm die Tür öffnen, der deutsche Offizier muss sich deshalb verstecken. Die Frau fragt den Burschen, ob sein befehlshabender Offizier deutsch spricht, dieser bejaht die Frage. Die Frau bittet sich eine Frist, von einer halben Stunde aus. Ihr Mann, der deutsche Offizier, will sie natürlich nicht gehen lassen, dennoch zwingen die äußeren Umstände ihn dazu, seine Frau nach oben gehen zu lassen. Die Frau zieht ihr bestes Abendkleid an, die beiden versprechen sich, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden, falls ihr Versuch, mit dem russischen Offizier zu reden, scheitern sollte. Die Frau geht nach oben und findet bereits betrunkene russische Offiziere vor, das übergriffige Verhalten, von Seiten der russischen Soldaten, beantwortet sie mit einer Ohrfeige. Danach gelingt es ihr, den russischen Oberst zwecks ihres Anliegens, der Bitte um menschliche und respektvolle Behandlung, alleine zu sprechen. Das Problem ist allerdings, dass der Oberst kein deutsch spricht, deshalb wird ein Übersetzer, der Bursche, geholt. In diesem Moment kommt die Frau in den Besitz einer Pistole, welche sie unter ihrem Kleid versteckt. Die Frau bietet dem russischen Oberst an, sofern er alle anderen Soldaten aus dem Haus wirft, dass sie ihm zu eignen sein wird, jeden Tag, zu einer bestimmten Stunde. Sie möchte Zeit gewinnen, im Zweifelsfall schießen; doch dazu kommt es nicht. Sie besucht nun eine Woche lang, jeden Tag den russischen Oberst, um ihm sozusagen Gesellschaft zu leisten. Im Keller, lügt sie ihren Mann an, und erzählt ihm, dass der Oberst deutsch spricht und erfindet fiktive Gespräche über Russland und so. Diese Notlüge beruhigt ihren Mann, den deutschen Offizier, dennoch nimmt er wahr, dass sie irgendwie gerne nach oben geht. Nach einiger Zeit, haben sich die Frau und der russische Oberst ineinander verliebt, ganz ohne Sprachverständigung - möglicherweise genau deshalb. Es endet damit, dass der russische Oberst, befehlsmäßig versetzt wird. Beide wollen sich wiedersehen, doch dazu kommt es nicht. Der deutsche Offizier, spricht zukünftig stets in kameradschaftlicher Achtung von dem russischen Oberst, den russischen Verhältnissen und deren Einrichtungen. Also genau das, was ihm seine Frau, unten im Keller, als Notlüge erzählt hat (Max Frisch 1987:189-191).
[...]