Anekdoten: Die Theorie der Anekdote

Erläutert anhand des Volksbuchs 'Ein kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspiegel geboren uss dem land zu Brunsswick. Wie er sein leben volbracht hatt. (und) XCVI. seiner geschichten'


Seminararbeit, 2007

19 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Vorwort

2 Theorie der Anekdote
2.1 Terminologie
2.2 Charakteristika und das Problem einer Definition
2.2.1 Form
2.2.2 Inhalt
2.2.3 Resümee
2.2.3.1 Kompositionsprinzip und Erzählsituation nach Schäfer
2.2.3.2 Eine mögliche Definition von Dalitzsch
2.2.3.3 Checkliste der wichtigsten Merkmale
2.3 Anekdote vs. Schwank – ein Abgrenzungsversuch
2.4 Die geschichtliche Entwicklung der Anekdote
2.4.1 Wurzeln
2.4.2 International
2.4.2.1 Italien
2.4.2.2 Frankreich
2.4.2.3 Die Entwicklung im englischsprachigen Raum
2.4.3 Im deutschen Sprachraum

3 Die Anekdotensammlung „ Ein kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspiegel geboren uss dem land zu Brunsswick. Wie er sein leben volbracht hatt. (und) XCVI. seiner geschichten. “
3.1 Der Protagonist
3.2 Das Volksbuch und die frühesten Drucke
3.3 Der Autor
3.4 Die Ausgabe von

4 Analyse zweier Anekdoten des Volksbuches
4.1 Die erste Historie
4.1.1 Originaltext (Druck von 1515)
4.1.2 Terminologie
4.1.3 Typische anekdotische Merkmale
4.2 Die fünfundneunzigste Historie
4.2.1 Originaltext (Druck von 1515)
4.2.2 Terminologie
4.2.3 Typische anekdotische Merkmale

5 Schlussbetrachtungen

6 Quellen- und Literaturverzeichnis

1 Vorwort

Die vorliegende Seminararbeit hat das Ziel, die sehr wenig erforschte, aber viel gelesene, Gattung der Anekdote zu betrachten. Im Kapitel zwei werden die wichtigsten theoretischen Bestandteile der literarischen Kleinform aus der Forschungsliteratur zusammengetragen und ein Blick auf die nationale und internationale Geschichte dieser Gattung geworfen. Das Kapitel beinhaltet auch eine „Checkliste“ mit den formalen und inhaltlichen Kriterien, die eine Anekdote charakterisieren. Schließlich wird auch ein Abgrenzungsversuch zwischen den sehr ähnlichen Gattungen, Anekdote und Schwank, unternommen.

Im Kapitel drei wird eine der berühmtesten Anekdotensammlungen vorgestellt. Es handelt sich dabei um das Volksbuch über die Streiche Till Eulenspiegels.

Das Kapitel vier stellt eine Synthese zwischen der erarbeiteten Anekdotentheorie und dem besprochenen Volksbuch dar. Anhand zweier Geschichten aus dem Buch, sollen die Charakteristika der Anekdote exemplarisch herausgearbeitet werden.

2 THEORIE DER ANEKDOTE

Nur sehr wenige Werke beschäftigen sich mit der literarischen Kleinform Anekdote[1]. In diesem Kapitel sollen die wichtigsten erforschten Aspekte der Gattung zusammengetragen werden.

Zu Beginn ist der Begriff Anekdote zu bestimmen und dessen Ursprung zu ergründen. Darauffolgend werden die wichtigsten Merkmale dieser Gattung herausgearbeitet.

Aufgrund häufig auftretender Verwechslungen der Anekdote mit ihrer Nachbargattung, dem Schwank, beinhaltet dieses Kapitel auch einen Abgrenzungsversuch der beiden Genres.

Der theoretische Abschnitt über die Anekdote schließt mit einem geschichtlichen Überblick über ihre Entwicklung.

2.1 Terminologie

Das Wort Anekdote leitet sich vom griechischen Begriff anekdota (an-ekdota) ab. Im Griechischen bedeutet ekdidonai „herausgeben“ bzw. „editieren“. Somit bezeichnet die Anekdote (An-ekdote) etwas nicht Herausgegebenes (vgl. Moser-Rath 1977, 528).

Der Geschichtsschreiber Procopius von Caesarea war der erste, der diesen Begriff verwendete. Er betitelte seine Aufzeichnungen geheimer Hofgeschichten über den byzantinischen Kaiser Justinian und seine Frau Theodora mit „Anekdota“ (vgl. Moser-Rath 1977, 528).

Der Terminus wurde in europäischen Gelehrtenkreisen zu einem publizistischen Begriff für das lateinische Wort inedita, das „noch nicht bekannt gemachte Vorgänge“ (Grothe 1971, 4) bezeichnet (vgl. Moser-Rath 1977, 528).

Im Frankreich des 17./18. Jahrhunderts durchläuft das Wort Anekdote einen Bedeutungswandel. Es steht nicht mehr für geheim gehaltene Aufzeichnungen, sondern für den Inhalt selbst (vgl. Moser-Rath 1977, 528). Es bezeichnet nun „die ‚histoire secrète’ hervorragender Persönlichkeiten“ (Moser-Rath 1977, 528).

Kurze Zeit später erscheint der Begriff Anekdote auch in England, wo das Interesse für derartige Geschichten steigt. (vgl. Moser-Rath 1977, 529).

Schließlich erreicht die Anekdote im 18. Jahrhundert Deutschland. Auch hier durchläuft sie einen Bedeutungswandel von der geheimen Begebenheit hin zur Bezeichnung für eine charakterisierende Äußerung einer Person (vgl. Moser-Rath 1977, 529).

Durch welche Merkmale die Anekdote charakterisiert und definiert werden kann, das soll im folgenden Kapitel herausgearbeitet werden.

2.2 Charakteristika und das Problem einer Definition

Es ist schwierig, die Anekdote zu definieren, da es nur sehr wenig Sekundärliteratur zu dieser Gattung gibt. Deshalb werden in diesem Kapitel wichtige Merkmale herausgearbeitet, durch welche die Anekdote charakterisiert werden kann. Es erfolgt eine Unterteilung in Form, Inhalt, und Resümee, um die Beschreibung übersichtlicher zu gestalten.

2.2.1 Form

Die Anekdote ist eine kleine, kurze, im Präteritum verfasste Erzählung (vgl. Grenzmann 1958, 65). Sie zeichnet sich durch ihre Knappheit und die „ganz auf das Wesentliche gerichtete Sprache“ (Lerbs 1944, 20) aus.

Die Anekdote umfasst eine einzige Handlung (Von störenden Nebenhandlungen sieht sie strikt ab.) und dreht sich um einen Helden, der in der Erzählung das letzte Wort hat bzw. die letzte Geste ausführt. Diese Gattung lässt keine unwichtigen Nebenpersonen zu (vgl. Doderer 1972, 19ff).

Die ganze Erzählung strebt hin zu ihrem einzigen Höhepunkt, der Pointe, die auch gleichzeitig den Schluss der Anekdote darstellt. Vom ersten bis zum vorletzten Satz wird diese vorbereitet: Figuren, Handlung und Situation werden auf kürzeste Weise eingeführt (vgl. Doderer 1972, 18ff).

Wilhelm Grenzmann beschreibt die Pointe einer Anekdote so:

Der eigentliche Sinn liegt in der Pointe, in der überraschenden Wendung, in einer nicht erwarteten Tat oder Aussage, in einer der Logik des Geschehens scheinbar widersprechenden, jedoch sinnvollen Schlußfolgerung (Grenzmann 1958, 65).

2.2.2 Inhalt

Die Anekdote beschreibt eine Situation, in der eine bekannte Person agiert (vgl. Doderer 1972, 17f).

Die besondere Konstellation der Anekdote besteht eben darin, daß in ihr eine Spannung zwischen Held und Umwelt […] aufgerichtet wird, die durch eine plötzliche, unerwartete Wendung gelöst wird (Doderer 1972, 22).

Diese Lösung wird durch eine Äußerung oder eine Gebärde des Helden bewirkt. Durch seine Art zu reden bzw. zu handeln wird der Held charakterisiert (vgl. Schäfer 1977, 9f).

Der Protagonist der Anekdote kann entweder eine historische bzw. berühmte Persönlichkeit sein oder eine Figur, die stellvertretend für eine bestimmte Gruppe von Menschen steht (Berufsgruppe, Schicht,…) (vgl. Doderer 1972, 19).

Ein weiteres wichtiges Charakteristikum der Anekdote ist ihr Wahrheitsanspruch. Diesen erhält sie „durch Signale der Wahrheitsbeteuerung wie einleitende Orts- und Zeitangaben“ (Schäfer 1977, 13) aufrecht. „Hier ist einschränkend zu sagen, daß sie wohl Tatsachen berichtet, aber nicht Tatsachen verbürgt“ (Lerbs 1944, 22). Es besteht also bei jeder Anekdote die Möglichkeit, dass sich die geschilderte Handlung wirklich ereignet hat. Dafür gibt es jedoch keine Garantie.

2.2.3 Resümee

2.2.3.1 Kompositionsprinzip und Erzählsituation nach Schäfer

Walter Ernst Schäfer beschreibt das Kompositionsprinzip dieser Gattung in seinem Werk „Anekdote, Antianekdote: zum Wandel einer literarischen Form in der Gegenwart“ folgendermaßen:

Die Anekdote „umreißt, auf möglichst knappem Raum, zunächst die Ausgangslage, Ort und Zeit des Ereignisses, führt die Figuren ein. Sie berichtet sodann das Ereignis, in dessen Verlauf der Charakter sich enthüllt. Sie schließt mit der durch die Situation provozierten Geste oder dem Dictum des Helden. Insofern als diese Enthüllung unvermittelt eintritt, bringt sie ein Moment der Überraschung beim Leser hervor, das heißt, eine Pointe schließt die Anekdote ab“ (Schäfer 1977, 13).

Laut Schäfer setzt die Erzählsituation einer Anekdote einen „gemeinsamen Horizont“ (Schäfer 1977, 13) von Erzähler und Leser bzw. Hörer voraus. Das soll heißen, dass sowohl dem Erzähler als auch dem Hörer bestimmte Hauptinformationen (historischer Zusammenhang, Persönlichkeit,…) bekannt sind, sodass diese nicht mehr eigens erläutert werden müssen (vgl. Schäfer 1977, 13).

2.2.3.2 Eine mögliche Definition von Dalitzsch

Dalitzsch definiert die Anekdote in seiner Dissertation so, dass nahezu alle bis hierhin erarbeiteten Merkmale darin enthalten sind. Daher soll diese Charakterisierung der Gattung stellvertretend für alle anderen gemachten Definitionsversuche hier zitiert werden:

„A. ist die einen Einzelmenschen behandelnde kurze Geschichte ohne Nebenhandlung, in der durch individuelle Züge des Handelns und Sprechens die Charakteristik einer Persönlichkeit oder Kennzeichnung einer gemeinsamen, womöglich allgemein-menschlichen Eigenschaft einer Gruppe von Menschen geboten wird. Dabei ist wesentlich, daß diese Geschichte entweder tatsächlich auf eine historische Begebenheit zurückgeht oder wenigstens Anspruch erhebt, für historisch genommen zu werden in bezug auf das zu charakterisierende Individuum“ (zitiert nach Moser-Rath 1977, 534; Originalzitat: Dalitzsch 1922, 4).

2.2.3.3 Checkliste der wichtigsten Merkmale

Da die in diesem Kapitel erarbeitete Anekdotentheorie zur Analyse der Eulenspiegel-Anekdoten angewandt werden soll, befindet sich an dieser Stelle eine zusammenfassende Checkliste mit den bedeutendsten Analysekriterien.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.3 Anekdote vs. Schwank – ein Abgrenzungsversuch

Die Grenzen zwischen den verschiedenen literarischen Kleinformen sind oft fließend. Manchmal ist die absolute Zuordnung eines Textes zu einem einzigen Genre nicht möglich.

Was die Anekdote betrifft, so ist sie wohl am schwierigsten vom Schwank zu unterscheiden, zumal dieser in der Fachliteratur bisher viel ausführlicher behandelt worden ist. Nur selten hat sich jemand an die Erforschung der Anekdote herangewagt (vgl. Grothe 1971, 28).

Heinz Grothe hat in seinem Buch „Anekdote“ den Versuch unternommen, die beiden Gattungen, anhand bestimmter Merkmale, voneinander abzugrenzen.

Laut Grothe hebt sich der Schwank durch den oft derben bis obszönen Inhalt und durch seine Volkstümlichkeit von der Anekdote ab (vgl. Grothe 1971, 29).

Außerdem sind Schwänke oft von Übertreibungen durchzogen. Diese reichen manchmal bis ins Wunderbare hinein (vgl. Grothe 1971, 29). Im Gegensatz dazu wird die Anekdote in dem von Karl Lerbs herausgegebenen Buch „Die deutsche Anekdote“ folgendermaßen charakterisiert:

„Denn eine rechte Anekdote hat nichts Schwankendes, Verschwommenes oder Problematisches; sie ist ein Wesen, das auf festen und sicheren Füßen an uns vorübergeht“ (Lerbs 1944, 25).

Somit ist das Wunderbare ein Merkmal des Schwankes. Die Anekdote hat aber nichts Übersinnliches und Unerklärliches an sich.

Grothe nennt zusätzlich noch gravierendere Unterschiede zwischen den beiden literarischen Kleinformen. Während bei der Anekdote eine Person im Mittelpunkt steht, liegt beim Schwank alle Aufmerksamkeit auf der Handlung (vgl. Grothe 1971, 29).

Außerdem umfasst der Schwank mehrere Personen und Handlungen. Im Gegensatz dazu gibt es in der Anekdote nur eine einzige (wichtige) Person und eine Handlung (vgl. Grothe 1971, 29).

Was den Protagonisten der beiden Gattungen betrifft, zeichnet er sich in der Anekdote durch Historizität aus (Er ist meistens eine historisch bekannte Persönlichkeit.), wohingegen sein Charakteristikum im Schwank die Anonymität ist (vgl. Grothe 1971, 29).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die zwei sehr ähnlichen Gattungen durch wenige, aber gravierende, Merkmale unterscheiden.

2.4 Die geschichtliche Entwicklung der Anekdote

Um die Geschichte der Anekdote betrachten zu können, muss man weit in die Vergangenheit zurückgehen. Zu Beginn dieses Kapitels wird ein Blick auf die Wurzeln der Gattung geworfen. Darauf folgt ein kurzer Überblick über ihre internationale Entwicklung. Das Hauptaugenmerk dieses Kapitels liegt aber auf der Geschichte der Anekdote im deutschsprachigen Raum.

2.4.1 Wurzeln

Wann und wo die Anekdoten genau entstanden sind, ist nicht bekannt. Ihre Geburtsstunde muss aber schon in der Antike liegen (vgl. Grothe 1971,4f).

Was wir heute unter dem Begriff Anekdote verstehen, wurde in der Antike Apophthegma[2] genannt (vgl. Böker 1997, 51).

Die frühesten griechischen Anekdoten dürften von Logographen[3], wie Hekataios, Hellanikos und Ion Chios, verfasst worden sein (vgl. Grothe 1971, 37). „Herodot (490- ca 425 v. Chr.) hat davon einiges in sein Werk übernommen“ (Grothe 1971, 38).

Ihre erste Blütezeit erreichte die Gattung durch Plutarch. Spätere Anekdotenverfasser waren Dichter und Philosophen, die Weisheitssprüche durch eine charakterisierende Geschichte ausschmückten (vgl. Grothe 1971, 38).

Die römische Anekdote war schon früh eine zweckgebundene Gattung und wurde in einen historischen Zusammenhang eingebettet. Sie sollte moralisierend und patriotisch wirken (vgl. Grothe 1971, 38).

Einer der wichtigsten Vorläufer der Anekdote war der Historienschreiber und Bischof, Gregor von Tours, der geschichtliche Ereignisse im anekdotischen Stil schilderte (vgl. Grothe 1971, 38f).

[...]


[1] Siehe Sekundärliteratur: Quellen- und Literaturverzeichnis.

[2] Apophthegma: „Ausspruch, Sinnspruch, Zitat, Sentenz“ (Duden 2001, 79).

[3] Logograph: „frühgriechischer Geschichtsschreiber; Prosaschriftsteller der ältesten griechischen Literatur“ (Duden 2001, 586).

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Anekdoten: Die Theorie der Anekdote
Untertitel
Erläutert anhand des Volksbuchs 'Ein kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspiegel geboren uss dem land zu Brunsswick. Wie er sein leben volbracht hatt. (und) XCVI. seiner geschichten'
Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
SE Literarische Kleinformen in Antike und im Mittelalter
Note
1
Autor
Jahr
2007
Seiten
19
Katalognummer
V131073
ISBN (eBook)
9783640370405
ISBN (Buch)
9783640369997
Dateigröße
488 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die vorliegende Arbeit soll versuchen, die Gattung ANEKDOTE zu definieren, sie in ihren Merkmalen zu beschreiben und ihre geschichtliche Entwicklung darzustellen.
Schlagworte
Anekdoten, Volksbuch, Till Eulenspiegel, Anekdote vs. andere Genres
Arbeit zitieren
Mag. Sylvia Jungmann (Autor:in), 2007, Anekdoten: Die Theorie der Anekdote, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/131073

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