Einblicke in das Nichts. Friedrich Nietzsche, die Entwicklung des europäischen Nihilismus und seine Extensionen


Bachelorarbeit, 2022

40 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Dichotomie zwischen der Notwendigkeit einer begrifflichen Definition des Nihilismus und dessen Unbestimmbarkeit
2.1 Versuch einer Definition des Nihilismus oder die Genealogie des Nihilismus

3. Der ontologische Nihilismus
3.1 Platon und die zwei Arten des Seienden
3.2 Jacobi, Fichte und die Geburt des ontologischen Nihilismus
3.3 Schopenhauer, Nietzsche und das Leben als Leiden

4. Der epistemologische Nihilismus oder die Verwerfung der Metaphysik bei Nietzsche

5. Freie Geister und die Moral bei Nietzsche
5.1 Herrenmoral, Sklavenmoral und der Wille zum Nichts
5.1.1 Herrenmoral und Sprache als Machtäußerung
5.1.2 Sklavenmoral und die Bedeutung des Ressentiments

6. Heidegger, der Wille zur Macht und der aktive Nihilist der Tat

7. Der Tod Gottes

8. Nihilismus in der Gegenwart

9. Fazit

10. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In jeder kulturgeschichtlichen Epoche, in jeder Zeit und an jedem Ort der Welt, gibt es gedankliche Strömungen, Paradigmen und Arten der Erklärung über Phänomene, die den Menschen als Ausgangspunkt, seine Umgebung, den größeren Kontext der gesamten Menschheit oder abstrakte Konzepte zu entfalten versuchen. Auch die Philosophie ist von Strömungen durchzogen, die man besonders in der Retrospektive scheinbar akkurat, vielleicht sogar objektiv analysieren und voneinander differenzieren kann. Doch mindestens den gleichen Stellenwert wie den philosophischen Strömungen sollte man den Ereignissen, den Impulsen, den Denkern und den Werken zuschreiben, welche eine neue ideengeschichtliche Epoche einleiteten und eine bis dato bestehende Art, die Phänomene der Welt zu erklären, ablegten oder sogar aktiv angefochten haben. Nicht immer ist eine konkrete Festlegung dessen möglich, was den Umbruch in eine neue Art philosophischen Denkens hervorgerufen hat, doch im Falle dieser Arbeit, wie ich demonstrieren möchte, befinden sich die Menschen momentan inmitten einer philosophischen Bewegung, welche einer klar definierbaren Wurzel entsprungen ist.

In stillen, kontemplativen Momenten haben sich Philosophen aller Zeiten über die Beschaffenheit der Welt und über die Art ihrer Sinnhaftigkeit Erklärungen erdacht. Entfernt von Fragen über konkrete Phänomene oder Beobachtungen wurde stattdessen das Wozu inden Blick genommen und die Rolle des Menschen innerhalb der Welt, sowie die Frage nach der Beschaffenheit der Welt als Ganzes in den Fokus gerückt. Die Grenzen zwischen Naturwissenschaften, Philosophie und allgemeiner menschlicher Neugier verschwimmen, wenn sich der Mensch wie Goethes Faust fragt, „was die Welt im Innersten zusammenhält”1. Der Zusammenhalt der einzelnen Bestandteile der Erde, gar des Universums, sowie der Sinn und die Bedeutung der Bestandteile, zu denen auch der Mensch sich zählen muss, wurde in vergangenen Epochen von den meisten Menschen noch mit dem Verweis auf einen göttlichen Schöpfer erklärt. So etwa ein - nicht unbekannter - einsamer Spaziergänger, dessen Antwort auf die Sinnfrage in letzter Instanz auf keine andere Entität fällt, als auf Gott:

Wer einsam vor sich hindenkt, die Natur studiert und das Universum betrachtet, kann gar nicht anders: er lenkt seinen Geist empor zum Schöpfer all dessen und fragt nach dem Wozu all dessen, was er fühlt, und nach dem Warum all dessen, was er fühlt. Als das Schicksal mich ins Getöse der Welt zurückwarf, fand ich darin nichts, was mein Herz auch nur für einen Augenblick erfreut hätte.2

Die göttliche Macht, die Transzendenz, die jenem Spaziergänger, nämlich Jean Jacques Rousseau, eine Antwort auf die kontemplative Frage nach dem Wozu bietet, bleibt jedoch nur beständig, solange der Blick sich dem Jenseits zuwendet; das Leben selbst, das irdische „Getöse der Welt”3 sorgt hingegen immediat für ein Gefühl der Leere und der Freudlosigkeit. Wenn die einzige Instanz, die die Bedeutungsleere der Welt mehr oder weniger ausgleichen konnte, wegfällt, steht der Mensch vor einem finsteren Diesseits, welches „nichts von der Getragenheit der Welt durch die göttliche Hand”4 mehr übrig lässt. Friedrich Nietzsches Worte hallen bis heute nach wenn er in Die fröhliche Wissenschaft verkündet:

Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet5.

Nach dem Tod Gottes steht der Mensch, einsam wandernd, nun vor dem Diesseits allein, und mit ihm vor dem unheimlichsten aller Gäste - dem Nihilismus.6 Mit Blick auf Friedrich Nietzsches Philosophie schaut man auf einen Moment, an dem verschiedene Traditionsstränge der historischen Verwendung des Nihilismus-Begriffes kulminieren. Der Nihilismus wird zu einem der zentralen Motive des Denkens und Wirkens Nietzsches und hat daraufhin einen beträchtlichen Einfluss auf die Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, auch im Hinblick auf die Etablierung des Existenzialismus.

In dieser Arbeit soll als erstes versucht werden, eine Definition des Nihilismus aufzustellen und den Gegenstandsbereich einzurahmen, in den das Konzept und die Extensionen dieses Begriffes einzuordnen sind. Dabei wird auch die Problematik in den Fokus gestellt, die zwischen der Notwendigkeit einer begrifflichen Definition des Nihilismus und dessen Unbestimmbarkeit besteht.

Um im weiteren Verlauf der Arbeit zentral die Philosophie Nietzsches zu behandeln, muss im darauffolgenden Kapitel eine Differenzierung verschiedener Unterarten des Nihilismus vorgenommen werden. Die pessimistische Grundhaltung Schopenhauers soll dabei knapp als Bezugspunkt zu Nietzsches Philosophie identifiziert werden. Da der Nihilismus-Begriff von Nietzsche mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten verwendet wurde, wird weiterhin zwischen dem nihilistischen Charakter historischer philosophischen Bewegungen sowie dem modernen Nihilismus unterschieden.

Bevor der Einfluss, den der Nihilismus auf die Philosophie Martin Heideggers hatte, ins Auge gefasst wird, soll versucht werden, Eigenschaften zu identifizieren, die einen Nihilisten als Person konstituieren. Dementgegen werden einige Vorstellungen Nietzsches darüber angeführt, welche Kompetenzen ein Mensch ausprägen und verfeinern sollte, um sich als freier Geist zu offenbaren. Die Problembereiche des Nihilismus sollen im Verlauf dieser Arbeit primär in den Dimensionen der Ontologie, der Epistemologie aber auch der Moral liegen, wobei die Moral mit Blick auf die vor moralische Typisierung der Herren, respektive der Sklaven behandelt wird.

Im letzten Teil dieser Arbeit wird der Aufgabe nachgegangen, aus der historischen Entwicklung des Nihilismus und der nihilistischen Haltung die Frage zu beantworten, in welchem Ausmaß der europäische Nihilismus im 21. Jahrhundert ein Problem darstellt und in welchen Erscheinungsformen er heute auftritt. Das Hauptziel dieser Arbeit soll in ebendieser Fragestellung liegen, wobei die historische Betrachtung der Philosophie Nietzsches, Schopenhauers und Heideggers den Nihilismus-Begriff mit einer hinreichenden Menge an Kriterien belegen soll, um die Gegenwart im Hinblick auf mögliche Ausprägungen des Nihilismus beurteilen zu können.

2. Die Dichotomie zwischen der Notwendigkeit einer begrifflichen Definition des Nihilismus und dessen Unbestimmbarkeit

Bevor sich den Fragen genähert werden kann, was einen Nihilisten ausmacht und inwieweit die Zeit des 20. und 21. Jahrhundert vom Nihilismus geprägt ist, muss zunächst auf die Bedeutung des Begriffes eingegangen werden. Bei diesem Versuch muss allerdings eine Reihe von Hürden beachtet werden, die das Vorhaben einer begrifflichen Definition mit sich bringt. Der Begriff des Nihilismus „gehört zu jener Gruppe von Termini, die in der Regel wie selbstverständlich in Anwendung gebracht werden, ohne dass man sich dabei aber darüber klar wäre, was sie eigentlich genau bedeuten.”7

Eine ungefähre Ahnung davon, was Nihilismus ist, haben die Gesprächsteilnehmer in den meisten Fällen; sie haben Assoziationen, sind etwa überzeugt, dass der Nihilismus mit dem Nichts, Sinnverlust, Bedeutungsverlust oder damit verwandten Begriffen in Verbindung steht. Eine genaue Definition ist jedoch trotz der Verwendung des Begriffes meistens selten gegeben. Auch Lexika wie das Historische Wörterbuch der Philosophie bieten keine klar differenzierte Antwort auf die Frage, was genau vom Nihilismus umfasst wird und wo seine Grenzen liegen; dort wird der Nihilismus definiert als ein Begriff, der „im Laufe seiner Geschichte zur Kennzeichnung für zum Teil sehr verschiedenartige philosophische Standpunkte und Richtungen verwendet [wurde], so für den philosophischen Egoismus bzw. Solipsismus, für Idealismus, Atheismus, Pantheismus, Skeptizismus, Materialismus und Pessimismus8. Durch diese Auflistung von - tatsächlich sehr unterschiedlichen - philosophischen Bewegungen und Richtungen entsteht wenig Klarheit darüber, was den Nihilismus selbst ausmacht. Andere Definitionen legen den Schwerpunkt des Nihilismus dagegen auf das Nichts bzw. auf den „Akt des Nichtens”9. So etwa die Definition der Routledge Encyclopedia of Philosophy, in welcher der Nihilismus als Philosophie der „negation, rejection or denial of some or all aspects of thought or life”10 definiert wird. Es wird an dieser Definition bereits in Ansätzen deutlich, dass es sich beim Nihilismus nicht um ein singuläres Phänomen handelt, sondern um einen philosophischen Bereich, zu dem viele Arten, also verschiedene Nihilismen gehören, die sich zum Teil stark in ihrem Gegenstandsbereich und der Reichweite ihrer Positionen voneinander unterscheiden. Fragen darüber, was eigentlich negiert wird, ob man Bedeutung oder Wahrheit nur als objektives Phänomen oder gänzlich bestreitet, ob sich die Verneinung auf konkrete Vorkommnisse oder auf das Sein selbst bezieht, werden mit unterschiedlichen Antworten und in variierender Intensität beantwortet - je nachdem, welchen der Nihilismen man ins Auge fasst. Dennoch ist es für eine Vielzahl von Fragen notwendig, zumindest einige Kriterien aufzustellen, die einen Menschen, eine Handlung oder eine gesamtgesellschaftliche Situation in einem bestimmten Zeitabschnitt als nihilistisch identifizieren; so ist eine Herausstellung dieser Kriterien oder einer Definition etwa für die Frage nötig, ob die Gegenwart des 21. Jahrhunderts sich als eine Zeit beschreiben lässt, in der nihilistische Tendenzen verstärkt werden, oder ob es sich um eine Zeit handelt, in der diesen Tendenzen entgegengegangen wird.

2.1 Versuch einer Definition des Nihilismus oder die Genealogie des Nihilismus

Um Klarheit über den zentralen Begriff des Nihilismus (oder über die verschiedenen Nihilismen) zu gewinnen, soll an dieser Stelle methodisch auf eine Weise verfahren werden, die Nietzsche selbst - vor allem im Spätwerk Zur Genealogie der Moral - anwendet; es soll versucht werden, dem Begriff auf den Grund zu gehen und anhand seiner genealogischen Ursprünge und Entwicklungen ein Verständnis darüber gewonnen werden, was eigentlich „Nihilismus” bedeutet. Es können freilich nicht alle intellektuellen Strömungen beleuchtet werden, deren historischer Einfluss zum heutigen Verständnis über den Nihilismus führten; es werden einige bedeutsame Traditionsstränge der Philosophie benannt, die allerdings nicht mit der Gesamtheit aller relevanten Einflüsse verwechselt werden dürfen.

Es besteht eine Mannigfaltigkeit von Vorschlägen darüber, wie man Nietzsches verschiedene Verwendungsweisen des Begriffes auffassen und voneinander differenzieren kann - und sollte. An dieser Stelle soll zunächst zwischen der semasiologischen und der onomasiologischen Betrachtungsweise unterschieden werden, wobei die erste sich auf die Umstände bezieht, die zu den Lebzeiten Nietzsches herrschten und Einfluss darauf nahmen, was er - zeitlich und räumlich unmittelbar - mit dem Begriff des Nihilismus bezeichnete und aus welchen Beweggründen er dem Begriff eine zentrale Position zukommen ließ. Aus semasiologischer Betrachtungsweise „geht das Wort ,Nihilismus' in derjenigen Bedeutung in Nietzsches Philosophie ein, in der es zur Zeit seiner Aufnahme durch Nietzsche im Sommer 1880, hervorgerufen durch die politischen Verhältnisse in Rußland, am bekanntesten war.”11

Onomasiologisch betrachtet bezieht sich Nietzsche mit dem Nihilismus-Begriff auf eine Dimension, die nicht im politischen, sondern im historischen und Philosophie-historischen Hintergrund ihren Ursprung findet. Durch Nietzsches Auseinandersetzung mit den Werken Arthur Schopenhauers entstand sein Interesse an dessen „Beschäftigung mit dem Pessimismus, mit dem Nirväna und mit dem Nichts und dem Nichtsein”12. Diese Dimension, welche ihren Schwerpunkt auf die ideellen und philosophischen Implikationen des Nihilismus legt, soll für den weiteren Verlauf dieser Arbeit primär betrachtet werden.

Eine weitere Unterscheidung zwischen zwei Betrachtungsweisen des Nihilismus wird von Wilhelm Weischedel vorgenommen, wenn dieser den ontologischen dem noologischen Nihilismus in seinem Hauptwerk Der Gott der Philosophen gegenüberstellt. Zuvor soll gesagt werden, dass Weischedel geschichtsphilosophische und politische Aspekte des Begriffes ausklammert und sich mit der begrifflichen Unterscheidung auf „eine mögliche philosophische Haltung”13 bezieht, deren Hauptmerkmal darin besteht, zu untersuchen, was bleibt, wenn „unter den Hammerschlägen des radikalen Fragens”14 nach Wahrheit, Struktur oder Bedeutung gesucht wird. Die Konklusion und der letzte theoretische Überrest, der uns nach einer fundamentalen Kritik an Wahrheit und Bedeutung bleibt, ist - so viel sei vorweggesagt - nichts. „Alle Sicherheit des Wissens um das Gegründetsein der Welt und des Menschen in einer beständigen Wahrheit geht unter.”15 Der zuvor angedeutete Unterschied zwischen dem ontologischen und dem noologischen Nihilismus meint laut Weischedel den Unterschied zwischen dem Problembereich, wobei der ontologische Nihilismus „das Problem des Seins”16 und der noologische Nihilismus „das Problem des Sinnes”17 zu seinem thematischen Zentrum macht.

Es ist an dieser Stelle bereits eine Beobachtung festzuhalten, die im weiteren Verlauf von Bedeutung sein wird: Nihilismus beschreibt grundsätzlich eine Negation, die sich je nach Unterart des Nihilismus auf ein bestimmtes, begrifflich festzulegendes Konzept bezieht. Um eine längere Auflistung an dieser Stelle zu vermeiden, sollen zunächst Wahrheit, Sinn und Sein als mögliche Problemdimensionen des Nihilismus genannt werden. Mögliche Manifestationen einer nihilistischen Haltung lassen sich etwa als den Glauben bezeichnen, dass es gar keine Wahrheit gibt. Dieser ist laut Nietzsche „der Nihilisten-Glaube"18. Eine andere mögliche Art, sich als Nihilist zu offenbaren, entsteht laut Nietzsche durch „den Glauben an die absolute Wertlosigkeit”19, also das Ergebnis einer radikalen Entwertung der obersten Werte. Bevor genauer auf die einzelnen Formen des Nihilismus eingegangen wird, soll eine letzte Unterscheidung angeführt werden, die einerseits möglicherweise einen Teil zum bisher teils unklaren Verständnis des Nihilismus beigetragen hat, andererseits eine Hilfe sein kann, um sich dem Kern oder der Essenz des Begriffes zu nähern. Nietzsche selbst unterscheidet zwischen dem Nihilismus der Stärke und dem Nihilismus der Schwäche; „Nihilismus als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes: der aktive Nihilismus” [und demgegenüber] „Nihilismus als Niedergang und Rückgang der Macht des Geistes: der passive Nihilismus”20.

Bevor in den folgenden Kapiteln die Unterarten des Nihilismus einzeln betrachtet und erläutert werden, soll nun knapp die bisherige Erkenntnis wie folgt zusammengefasst werden: Nihilismus beschreibt grundsätzlich eine Negation von Annahmen über die Welt, ihre Bestandteile, den Sinn oder die Bedeutung der Welt und ihrer Bestandteile und die Ablehnung der Möglichkeit, Wahrheit, Sinn oder Bedeutung zu erkennen oder zu erschließen. Die Dimension, auf die sich eine nihilistische Haltung bezieht, reicht dabei von einem - am Leben und am Sinn orientierten - Pessimismus, bis zu einem ontologischen, radikalen Skeptizismus, welcher seine Negation auf die Existenz einer Außenwelt, anderer Individuen und dem Subjekt, welches diese Haltung einnimmt, selbst bezieht. Zwischen diesen Dimensionen existiert eine Reihe von Nihilismen, die ihre Negation je auf einen bestimmten Bereich des Lebens, der Ontologie oder Episteme fokussieren. Nihilismus ist im Allgemeinen „die radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Wünschbarkeit”21

3. Der ontologische Nihilismus

Um uns dem Bereich des ontologischen Nihilismus zu nähern, wird zunächst knapp dargestellt, welche fundamentalen Annahmen seit Platon das philosophische Verständnis davon geprägt haben, was mit den Begriffen Ontologie und Sein gemeint ist und welche Aufgaben und grundlegende Annahmen der Ontologie zugeschrieben werden. Daraufhin wird die Entwicklung der ontologischen Disziplin und die verschiedenen Arten der Kritik an traditionellen, stark von Platon geprägten Prämissen genannt, welche in Nietzsches ontologischem Nihilismus kulminieren. Mit dem Übergang in vierte Kapitel wird die Kritik Nietzsches an der historischen Verschmelzung von epistemologischen und moralischen Überzeugungen in den Fokus gerückt, im Lichte derer das Wahre auch immer gleichbedeutend mit dem Guten erscheint.

3.1 Platon und die zwei Arten des Seienden

Sollen wir also, so sprach er [Sokrates], zwei Arten der Dinge setzen, sichtbar die eine und die andere unsichtbar? [...] Und die unsichtbare als auf immer gleiche Weise sich verhaltend, die sichtbare aber niemals gleich? [...] Wohlan denn, sprach er, ist nicht von uns selbst das eine Leib und das andere Seele?22 Es sei an dieser Stelle anzumerken, dass Schleiermacher im genannten Zitat die Übersetzung „der Dinge” für twv övtc) verwendet, wobei „die ontologische Tragweite des gegebenen Begriffs”23 nicht vollständig von dieser Übersetzung erfasst wird, da der von Platon verwendete Begriff sich auf zwei Arten des Seienden bezieht. Dies sei angemerkt, damit nicht das Bild entsteht, der Gegenstandsbereich, in den sich hier begeben wird, handele von zwei verschiedenen materiellen Dingen.

Die zwei Arten des Seienden unterscheiden sich nach ihrer Definition darin, dass auf der einen Seite die Unveränderlichkeit steht, „welche in Kongruenz zu Parmenides als bewegungslos dargestellt wird, allerdings von Platon den Zusatz der Unsichtbarkeit erfährt”24. Auf der anderen Seite befindet sich das bewegte Seiende, welches durch seine Veränderbarkeit konstituiert wird. Die beiden Metaphern Leib und Seele meinen demnach das Materielle, Veränderliche einerseits - in dem sich auch die Dinge unserer Erfahrungswelt befinden -, sowie das Ewige, Unveränderliche andererseits; in der Geschichte der Philosophie und Religion wurden viele verschiedene Welten der ewigen Dinge konzeptualisiert, denen etwa Engel, Götter und Seelen als Bestandteile zugeordnet wurden.25

Eine weitere Weise, die beiden Arten des Seienden, die durch die Idee zweier unterschiedlicher Welten ausgedrückt werden, voneinander zu unterscheiden, ist es, der einen Welt, namentlich der Welt des Seins, die Eigenschaft zuzuschreiben, unabhängig von Zeit und Veränderung zu existieren, während die andere Welt, die Welt des Werdens, Zeit und Veränderung beinhaltet und ihre Bestandteile davon geprägt sind.26

Während Platons Vorstellung vom Seienden auf der Überzeugung aufbaut, alles, was in der Natur existiert und erfahrbar ist, verweise auf eine Idee, welche das ewige Urbild (exemplar aeternum) darstellt, auf welches die veränderbaren Dinge verweisen, wurde von Philosophen nach ihm verschiedene Arten der Kritik an dieser Anschauung geübt. Grundsätzlich lässt sich bei kritischer Betrachtung schnell feststellen, dass Platon mit seiner Ideenlehre an einem Modell haften bleibt, welches vorstellungshaft ist und Gefahr läuft, das Allgemeine an den Ideen aus dem Blick zu verlieren.27

Zwischen dieser Kritik an Platons Auffassung des Seienden und dem ontologischen Nihilismus Nietzsches, dem es sich in diesem Kapitel anzunähern gilt, liegt allerdings noch eine gewaltige epistemologische Schlucht, die im Folgenden betrachtet werden soll.

3.2 Jacobi, Fichte und die Geburt des ontologischen Nihilismus

Friedrich Heinrich Jacobi war nach heutigem Forschungsstand der erste, der den Terminus ontologischer Nihilismus erstmals explizit formulierte. 1799 bezeichnete er im Schreiben Jacobi an Fichte dessen idealistische Deutung der Wirklichkeit als nihilistisch. Gemeint ist von Jacobi damit „diejenige Gesamtauffassung, der gemäß das einzige Wirkliche das Ich ist, während alle anderen sogenannten Seienden nur Vorstellungen dieses Ich, also nicht selbstständig seiend und somit nichtig sind.”28 Die Richtung Fichtes Philosophie scheint mit dieser Beschreibung bestätigterweise getroffen worden zu sein, denn dieser stellt selbst seine Position des reinen Idealismus im zweiten Buch seiner Bestimmung des Menschen, herausgegeben 1800, so dar, dass die Konsequenzen einer idealistischen Philosophie dieser Art darin münden müssen, dass am Ende auch das Ich fraglich wird und wie alle bereits abgelegten Scheinwahrheiten als nichtig enttarnt wird. So heißt es: „Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Sein - Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht.”29

Man erkennt an Fichtes Formulierung, sowie an Jacobis Zusammenfassung derselben unter der Bezeichnung ontologischer Nihilismus, dass sich beides in letzter Instanz auf eine Leugnung jeder Wirklichkeit bezieht. Vom Ausgangspunkt, dass alles seine Realität nur im Ich habe, muss weitergedacht werden, dass das Ich sich, wenn es sich selber fassen will, seinem eigenen Zugriff entzieht. Das Ich wird letztlich „ein leeres Kreisen in sich selbst, nichtig und weder einer Welt noch seiner selbst gewiß.”30 Die Konsequenz dieses ontologischen Nihilismus kann es nur sein, dass jedes intellektuelle Befangen, welches sich zum Ziel nimmt, etwas in der „wirklichen Welt” oder sich selbst zu greifen, nur ins Leere greift und jeder Versuch, sich aus diesem epistemologischen Abgrund zu befreien, fehlschlägt.31

Die von Fichte und Jacobi formulierte Erkenntnis über die absolute Unbestimmbarkeit der Welt und ihrer Bestandteile kann niederschmetternd oder gar fatalistisch wirken. Wenn tatsächlich davon ausgegangen werden müsste, dass nichts kognitiv greifbar ist - nicht einmal das sich selbst erkennende Subjekt - wozu sollte man in dem Fall die Mühe aufbringen, weitere Fragen über die Welt und den Menschen zu formulieren, überhaupt Philosophie zu betreiben, um Erkenntnisse irgendeiner Art zu erzielen? Wenn man Fichtes Argumentation folgt und sie aus einer Perspektive betrachtet, die sich von ihrem Inhalt zunächst distanziert und stattdessen ihre logischen Implikationen in den Fokus rückt, fällt auf, dass Aussagen über die Nichtigkeit der Welt und des Ich gar keine Aussagen im epistemologischen oder ontologischen Sinn sein können, ohne dass ein logischer Widerspruch entsteht. Wenn tatsächlich rein gar nichts an den Dingen liegt, so kann auch nichts an der Erkenntnis oder Überzeugung liegen, dass an den Dingen nichts liegt. Daher muss der ontologische Nihilismus nicht als Setzung, sondern als Frage formuliert werden. Nur so kann ermöglicht werden, dass eine Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen ontologischen Überzeugungen und ontologischen Nihilismus überhaupt behandelt werden kann.32

3.3 Schopenhauer, Nietzsche und das Leben als Leiden

Um einen weiteren Schritt in Richtung Friedrich Nietzsches Umgang mit dem Sein selbst als nichtige und bedeutungsleere Erscheinung zu gehen, darf der Einfluss nicht außenvorgelassen werden, den Arthur Schopenhauer als philosophischer Vorreiter und intellektuelle Lehrfigur auf Nietzsches Denken und Wirken hatte. Für Schopenhauer ist es grundsätzlich eine essenzielle Setzung, dass wesentlich alles Leben Leiden ist33 und dass der Mensch als vernunftfähiges Wesen besonders mit dem Faktum der eigenen Vergänglichkeit zu kämpfen hat, da seine Existenz sich nicht nur auf den unvermeidbaren Tod hinbewegt, sondern er im Gegensatz zu anderen Lebewesen auch noch weiß, dass keine Bemühungen ihn jemals davor bewahren werden, dass am Ende seines Daseins der Tod auf ihn wartet.34 Die Vorstellung eines Jenseits, in welches die menschliche Seele nach dem Tod und nach der irdischen Existenz übergeht, hat Schopenhauer bereits abgelegt, ebenso den christlichen Gott als lenkende Instanz; stattdessen ist für ihn der Wille jene Instanz, die den Menschen konstituiert. Gemeint ist kein konkreter, auf ein Ziel gerichteter Wille, sondern „ein großer Wille, der nicht weiß, was er will; denn er weiß nicht, sondern will bloß, eben weil er ein Wille ist und nichts Andres”35. Der Wille ist nach Schopenhauer nicht nur das metaphysische Prinzip der Welt, sondern er ist außerdem das, „was sich hinter der empirisch erfahrbaren Welt verbirgt, der Welt, die unsere Vorstellung ist.”36

In Nietzsches erstem großen Werk, die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, ist ebenso, wie bei Schopenhauer, der Gott des Christentums, welcher den Lauf der Welt steuert und das Sein der Menschen stets umrahmt, bereits abgetan - und wird nicht einmal namentlich erwähnt. Stattdessen ist der griechische Gott Dionysos in Nietzsches ästhetischer Metaphysik die Instanz, die das Sein und Vergehen der Menschen und der Welt begleitet. Dionysos ist konträr zum Christengott allerdings einer, der sich durch eine fundamentale „Lust am Vernichten”37 auszeichnet. Dionysos ist für Nietzsche kein Gott der Fürsorge, sondern ein „fürchterlicher Gott, der kein letztes Ziel des Werdens kennt.”38 Er wird von Nietzsche als der Gott der phonetischen Künste (Musikgott), Apollon gegenübergestellt, dem Gott der bildenden Künste (und laut Nietzsche auch Gott des Traums und des Scheins). Die Wendung, die bereits im Frühwerk Nietzsches zu beobachten ist, mag auf den ersten Blick nicht so gewaltig wirken, wie der spätere Umbruch, welcher durch den Tod Gottes expliziert wird, jedoch handelt es sich bei Dionysos bereits um die Verkörperung einer gänzlich anderen Weltwahrnehmung als derjenigen, die durch den personalen, christlichen Gott dargestellt wird. Viel mehr lässt sich durch den Verweis auf diesen anarchischen, willkürlich handelnden und zerstörerischen Gott Dionysos bereits eine starke Annäherung an den Pessimismus Schopenhauers erkennen.39 So kulminiert Nietzsches Bruch mit dem Christentum in der von ihm selbst formulierten Frage:

Indem wir die christliche Interpretation dergestalt von uns stossen und ihren „Sinn“ wie eine Falschmünzerei verurtheilen, kommt nun sofort auf eine furchtbare Weise die Schopenhauerische Frage zu uns: hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn?40

Nietzsche sieht in der - scheinbar kaum überwindbaren - Aufgabe des Menschen, dem Dasein selbst irgendeinen Sinn zuschreiben zu können, allerdings nicht das Ende, sondern kehrt den Blick zurück auf das Leben und beschreitet fortan einen Weg, an dessen Ende das ungetrübte Ja-Sagen steht, Ja zum Leben und Ja zum Schicksal - zusammengefasst im Amor Fati.41

[...]


1 Goethe, Johann Wolfgang (2017): Faust. Ein Fragment. Berlin, Boston [OA 1790]: De Gruyter Verlag. S. 4.

2 Rousseau, Jean Jacques (2001): Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Stuttgart [OA 1781]: S. 38.

3 Ebd.

4 Brock, Eike (2015): Nietzsche und der Nihilismus. In: Abel, Günter/Stegmaier, Werner (Hrsg.): Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung. Band 68. Berlin, München, Boston: De Gruyter Verlag. S. 1.

5 Nietzsche, Friedrich Wilhelm (2008): Die fröhliche Wissenschaft [OA 1882] . In: Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.: Kritische Studienausgabe (12. Aufl.). München: De Gruyter Verlag. S. 481 [A: 125].

6 Vgl. Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1954): Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. [27]19. In: Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden. Bd. 3: München. S. 880.

7 Brock (2015): S. 8.

8 Müller-Lauter, Wolfgang/Goerdt, Wilhelm: [Art.] Nihilismus. In: Gabriel, Gottfried/Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Onlineversion. Gesamtwerk. Basel: Schwabe Verlag [DOI: 10.24894/HWPh.5304].

9 Brock (2015): S. 8.

10 Crosby, Donald A. (1998): Art. „Nihilism“, in: Craig, Edward (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Philosophy. Bd. 7. London, New York [DOI: 10.4324/9780415249126-N037-1].

11 Kuhn, Elisabeth (2011): Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus. In : Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 25. (1. Aufl.) Berlin, Boston: De Gruyter. S. 18.

12 Ebd.

13 Weischedel, Wilhelm (2013): Gott der Philosophen: Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus (5. unveränderte Aufl.) (Bd. 1). Darmstadt: Lambert Schneider Verlag. S. 161.

14 Weischedel (2013) (Bd. 2): S. 160.

15 Ebd.

16 Ebd.

17 Ebd.

18 XVI 94. Zitiert nach Weischedel (2013) (Bd. 1): S. 439.

19 Ebd.

20 XV 156. Zitiert nach Weischedel (2013) (Bd. 1): S. 440.

21 Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1954): Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. 27[19]. In: Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden. Bd. 3: München. S. 880.

22 Platon: Phaidon. Nach der Übersetzung on Friedrich D. E. Schleiermacher. In: Platons Werke. Zweiten Teiles dritter Band, Dritte Auflage. Berlin [1861]. 79 a-b.

23 Kastropp, Philipp Christian (2019): Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen. Eine literaturphilosophische Untersuchung zu den Vorsokratikern, Platon, Nietzsche und Heidegger. Bielefeld: Transcript Verlag. S. 97.

24 Ebd.

25 Vgl. Addis, Laird (2012): Nietzsche’s Ontology. Berlin, Boston: De Gruyter Verlag. S. 24.

26 Vgl. ebd.

27 Vgl. Urbich, Jan/Zimmer, Jörg (Hg.) (2020): Handbuch Ontologie. J. B. Metzler Verlag. S. 13.

28 Weischedel (2013) (Bd. 2): S. 162.

29 Joh. Gott. Fichte, Werke, hrsg. . F. Medicus, Leipzig o. J., Bd. III, S. 341: Zitiert nach Weischedel (2013) (Bd. 2): S. 163.

30 Weischedel (2013) (Bd. 2): S. 163.

31 Vgl. ebd.

32 Vgl. Weischedel (2013) (Bd. 2): S. 163-164.

33 Vgl. Schopenhauer, Arthur (2020): Die Welt als Wille und Vorstellung [OA 1859] (3. Aufl.). München: Anaconda Verlag. S. 284 [§. 57.].

34 Vgl. Brock (2015): S. 71.

35 HN I, 196: Zitiert nach Brock (2015): S. 71.

36 Brock (2015): S. 72.

37 Nietzsche, Friedrich Wilhelm (2012): Götzendämmerung. Kap. Was ich den Alten verdanke [A5]. In: Gesammelte Werke. Köln: Anaconda Verlag [S. 816].

38 Brock (2015): S. 80.

39 Vgl. Brock (2015): S. 80-81.

40 Nietzsche (2008): FW, fünftes Buch. KSA 3, A357.

41 Vgl. Nietzsche (2008): FW. KSA 3, A276.

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Details

Titel
Einblicke in das Nichts. Friedrich Nietzsche, die Entwicklung des europäischen Nihilismus und seine Extensionen
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Institut für Philosophie I)
Note
1,0
Autor
Jahr
2022
Seiten
40
Katalognummer
V1315328
ISBN (Buch)
9783346790101
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nihilismus, Existenzialismus, Moral, Atheismus, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Martin Heidegger, Nihilismus in der Gegenwart, Der Tod Gottes, Ontologischer Nihilismus, Epistemologischer Nihilismus, Herrenmoral, Sklavenmoral, Pessimismus
Arbeit zitieren
Tim Reinbacher (Autor:in), 2022, Einblicke in das Nichts. Friedrich Nietzsche, die Entwicklung des europäischen Nihilismus und seine Extensionen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1315328

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