Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1. Immanuel Kant - Kategorische Ablehnung oder falsch verstanden?
2.2. John Rawls -Eine Theorie der Gerechtigkeit
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Das Jahr 2020 und insbesondere die Corona-Pandemie haben die Debatte um möglichen Widerstand gegen die staatliche Gesetzgebung und die Ausübung individueller Freiheitsrechte wieder deutlich in den Fokus gestellt. Im Rahmen von beispielsweise Querdenker-Demonstrationen oder der Black Lives Matter Bewegungen scheint Widerstand in aller Munde zu sein. Ohne sich im folgenden genauer mit normativen Bewertungen der Angemessenheit jeweiliger Bewegungen zu befassen, scheinen diese Ereignisse Anlass zu liefern, sich mit einigen Theorien des Widerstandsrechtes zu befassen.
Wie das Verhältnis von Individuen und Institutionen sein sollte und welchen Rechten und Pflichten beide Parteien für eine geregelte Gesellschaftsordnung nachkommen sollten, wird bereits seit der Antike diskutiert. Welche Rechte stehen den Bürgerinnen und Bürgern zu, wenn beispielsweise ihre Freiheit nicht gewährleistet wird? Die Meinungen divergieren dabei immer wieder deutlich. Denkt man an den Nationalsozialismus oder andere autoritäre Systeme, erscheint Widersetzen gegen diese Herrschaftssysteme aus heutiger Perspektive unmittelbar in einem positiven Licht. Doch wie verhält es sich in einem modernen demokratischen Rechtsstaat? Wo beginnt und wo endet ein Recht auf Widerstand? Um diese Probleme genauer zu untersuchen, scheint es sinnvoll, sich mit sowohl klassischer Theorie als auch moderner Theorie auseinanderzusetzen.
Diese Arbeit wird sich dabei primär auf die Überlegungen von Immanuel Kant und John Rawls beziehen. Diese beiden Autoren wurden aus einer Reihe von Argumenten ausgewählt. Zum Einen vertritt John Rawls selbst die Auffassung, sein Werk würde grundlegend auf den rechtsphilosophischen Annahmen Kants aufbauen und diese weiter ausführen (vgl. Rawls 1971: viii). Dieser Anspruch soll im Rahmen dieser Ausführungen einer Überprüfung unterzogen werden. Darüber hinaus behandeln beide im Kontext ihrer Theorien explizit die Möglichkeiten von Widerstand in Gesellschaften und eignen sich daher hervorragend für einen Vergleich. Die Untersuchung zielt darauf ab, folgende Forschungsfrage zu beantworten: Inwiefern kann aus der Sicht von Immanuel Kant und John Rawls Widerstand gegen die staatliche Gesetzgebung als legitim angesehen werden?
Zur Klärung dieser Frage werden einige Grundelemente der Lehren von Kant und Rawls vorgestellt und miteinander in Beziehung gesetzt. Aufgrund des Umfanges an Werken beider Autoren werden nur die für das Verständnis des Widerstandsrecht unverzichtbaren Vorüberlegungen kurz thematisiert. Darüber hinaus wird es hauptsächlich um die Möglichkeiten und Grenzen von politischen Widerstand in den Theorien gehen. Rawls Definitionen werden bevorzugt in Arbeiten zum Widerstandsrecht im modernen Verfassungsstaat zitiert. Demgegenüber scheint Kant den Bürgerinnen und Bürgern in einer Gesellschaft generell jedes Recht auf Widerstand abzuerkennen. In diesem Kontext scheint es interessant, herauszufinden, wie beide Autoren mit einer ähnlichen Rechtsauffassung zu solch unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
2. Hauptteil
2.1. Immanuel Kant - Kategorische Ablehnung oder nur falsch verstanden?
Um die Ablehnung des Widerstandsrechts nach Kant nachvollziehbar darzustellen, bedarf es vorab der Auseinandersetzung mit dessen Staats- und Rechtsbegriff. Nur unter Heranbeziehung seiner generellen philosophischen Annahmen lässt sich seine Argumentation verfolgen. Festzustellen ist, dass es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, Kants vollständige Philosophie zu thematisieren. Daher werden nur Grundelemente vorgestellt, die aus der Sicht des Autoren unabdingbar notwendig sind, um dessen Ausführungen zum Widerstandsrecht zu verstehen.
Kants Rechtsbegriff wirkt auf den ersten Blick relativ minimalistisch gehalten. Es habe „nur eine Funktion zu erfüllen, nämlich die äußere Handlungsfreiheit des einen mit derjenigen des anderen in Übereinstimmung zu bringen“ (Elpel 2017: 172). An dieser Stelle wird bereits deutlich, wie wichtig die Freiheit des Einzelnen ist. Auch ohne einen rechtlichen Zustand würde ein jeder Mensch über angeborene Freiheitsrechte verfügen, welche ihm erlauben würden, alles zu tun, wonach ihm obliegt (vgl. Elpel 2017: 177) Das dies problematisch für das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft werden könnte, ist logisch. Es fehlt eine Instanz, welche das Recht durchsetzt und damit die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger in Einklang bringt. Es wird deutlich, dass diesen Zweck der Staat in Kants Überlegungen übernimmt (vgl. Elpel 2017: 179). Die Menschen besitzen also angeborene Freiheitsrechte, jedoch ist es ihnen nicht möglich, diese auch zu verwirklichen, solange sie sich nicht in einem abgesicherten rechtlichen Zustand befinden. Diese Verwirklichung des Rechtszustandes und damit der individuellen Freiheitsrechte bildet die Grundlage der Legitimation des Staates (vgl. Elpel 2017: 179). Kant schränkt damit den Aufgabenbereich des Staates aus einer heutigen Perspektive stark ein. Nach dessen Überlegungen seien der Staat und die rechtliche Gesetzgebung beispielweise nicht für die Glückseligkeit der Bewohner verantwortlich (vgl. Schwaabe 2018: 181). Dinge, wie sein Glück zu finden, seien nicht verallgemeinerbar und daher auch nicht im Aufgabenbereich des Staates. Der primäre Unterschied zwischen dem Naturzustand und dem Rechtszustand nach Kant läge in der Tatsache, dass im Naturzustand jeder selbst die Zwangsbefugnis der Freiheit besitzt, während sie im letzteren der Staatsgewalt zukommt (vgl. Kant 2016: 21). Der Staatseintritt ist also nach diesen Überlegungen zwingend. Kant geht in seiner Rechtslehre soweit, dass der das „Recht [als] das Heiligste auf Erden“ bezeichnet (Elpel 2018: 180).
Wie bereits thematisiert lehnt Kant ein Recht auf politischen Widerstand kategorisch ab. Der Rechtszustand und ein positives Widerstandsrecht würden sich gegenseitig ausschließen (Kant 2016: 32). Der zuvor vorgestellte strikte Rechtsbegriff und die Notwendigkeit des Staates bedingen die folgende Argumentation. Wenn nur der bürgerliche Zustand die Verwirklichung der individuellen äußeren Freiheiten garantieren kann, scheint es nur logisch, dass dessen Erhalt oberstes Ziel sein muss. In der Sekundärliteratur wurden einige zentrale Argumentationsstränge Kants gegen ein Widerstandsrecht identifiziert, von denen drei im folgenden genauer beleuchtet werden.
Das Erste wird von vielen Verfassern als „Logikargument“ bezeichnet und meint Kants Annahme, das ein Recht auf Rechtsbruch einen Widerspruch in sich darstellen würde (vgl. Kant 2016: 32). Es sei schlichtweg unlogisch, ein Gesetz zu haben, welches die Bürgerinnen und Bürger zum legalen Rechtsbruch befugen würde (Elpel 2017: 188). Dieses Argument gegen ein Widerstandsrecht wurde nicht nur von Kant angeführt, sondern auch immer wieder von modernen Verfassungsrechtlern, Juristen und Philosophen. Beispielsweise in der Debatte um die Verankerung eines Widerstandsrechts im deutschen Grundgesetz (vgl. Isensee 2013: 144). Ein Widerstandsrecht auf positivrechtlicher Grundlage ist problematisch, da es die Beurteilung der Rechtmäßigkeit aller Gesetze und deren Befolgung dem Volk übertragt. Mit anderen Worten eine „[.] Befugnis zum Widerstand käme einer Selbstauflösung des Staates gleich“ (Kersting 1984: 322). Dieser Widerspruch ist außerdem unvereinbar mit dem Kantianischen Verständnis von Souveränität. Es würde die Frage aufwerfen, welche Instanz in einem möglichen Streitfall zwischen Volk und Herrscher als kompetenter Richter urteilen könne (vgl. Hirsch 2017: 340). Sollte es zu einem potentiellen Widerstandsfall kommen, ist es nur logisch, dass weder Volk noch der Herrscher ein gerechtes Urteil fällen könnten. Sie wären jeweils Richter in eigener Sache (vgl. Kant 2016: 29). Eine dritte Instanz, die in einem solchen Fall Urteil sprechen könnte, widerspricht Kants Auffassung von Souveränität und wird daher strikt abgelehnt (vgl. Kant 2016: 29). Diese sei unteilbar und stehe dem Herrscher zu, würde nun eine dritte Instanz zu Entscheidungen befugt sein, würde dies die Souveränität aufteilen und sei daher kritisch zu bewerten (vgl. Elpel 2017: 193). Kants Souveränitätslehre mag zwar relativ fortschrittlich gewesen sein, entspricht aber nur äußerst geringfügig unserem heutigen Verständnis. Im heutigen modernen deutschen Rechtsstaat wäre beispielsweise das Bundesverfassungsgericht als kompetenter Richter in einem solchen potentiellen Streitfall befugt, ein Urteil zu sprechen.
Das sogenannte Rückfallargument entstammt ebenfalls den bereits vorgestellten Bedingungen des kantianischen Rechtsbegriffes. Kant gehe davon aus, dass jeder Widerstand gegen die bestehende Ordnung zu einer Zerstörung des bürgerlichen Zustandes und damit einen Rückfall in den Naturzustand bedeuten würde (vgl. Kant 2016: 28). Das nur der durch den Staat bedingte Rechtszustand die Verwirklichung der individuellen äußeren Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger ermögliche, begründet dessen strikte Ablehnung von Widerstand. Im Naturzustand verfüge nach Kant jeder Mensch selbst über Gewalt und Zwang (vgl. Elpel 2017: 196). In diesem Sinne wird deutlich, dass die Erhaltung des bürgerlichen Zustandes und die Vermeidung von Anarchie oberste Priorität für Kant zu haben scheint. Da in einem Widerstandsfall der Rechtszustand und damit der Schutz vor der Willkür anderer bedroht ist, scheint dessen Ablehnung eines Widerstandsrechts aus seiner Theorie heraus schlüssig.
Unglück oder Unzufriedenheit könne ebenfalls nicht als Rechtfertigung für Widerstand gegen staatliche Regelungen standhalten, da sich Glückseligkeit nicht universell bestimmen lassen würde (vgl. Elpel 2017: 207). Glücklich zu werden, liegt nach Kants Auffassung im privaten Bereich und daher außerhalb der Aufgaben des Staates. Jeder Mensch habe eine individuelle Auffassung davon, was Glückseligkeit bedeuten würde (vgl. Schwaabe 2018: 181). Der Staat scheint nur dafür zuständig den rechtlichen Zustand zu gewährleisten, in welchem die Menschen ihre Freiheiten verwirklichen können, um ihr eigenes Glück zu finden. Sich in einem potentiellen Widerstandsfall auf ein Recht auf Glückseligkeit zu berufen, muss in dieser Argumentation daher kategorisch abgelehnt werden (vgl. Kant 2016: 31). Die Widerstandslehre Kants gehe primär davon aus, dass kein Zusammenhang zwischen der Gehorsamspflicht und der Qualität staatlicher Herrschaft bestehe (vgl. Kersting 1984: 328). In anderen Worten Gesetzliche Ungerechtigkeiten legitimieren unter keinen Umständen eine Verweigerung des Gehorsams. Dabei sei für Kants Lehre völlig unerlässlich, worin die Motive der Widerständigen liegen würden (vgl. Kersting 1984: 329).
Die vorgestellte Argumentation Kants zeigt, dass dessen Überlegungen zum Widerstandsrecht konsequent seiner Rechts- und Staatsphilosophie entspringen. Nichtsdestotrotz ist die Kritik in der Sekundärliteratur relativ umfangreich. Festzuhalten ist, dass ein Widerstandsverbot nach Kant unbedingt gilt. Jegliche Handlungen, die unter dessen Verständnis von Widerstand fallen, würden den rechtlichen Zustand gefährden und seien daher als „das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen [...]“ anzusehen (Kant 2016: 28). Das sich seine Ablehnung des Widerstandsrechts in der Vergangenheit häufig dem Vorwurf der Widersprüchlichkeit ausgesetzt sah, überrascht weniger (vgl. Hirsch 2917: 353). Die Tatsache, dass Kant den Untertanen jegliches Recht auf Widerstand unbedingt aberkennt, jedoch positiv von der Französischen Revolution berichtet (vgl. Bielefeldt 2002: 1363) und die angeboren Freiheitsrechte der Menschen so hoch proklamiert, hat zu zahlreichen verschiedenen Interpretationen und Auslegungen der kantianischen Rechtslehre geführt. Es muss daher Formen von Widerstand geben, welche nicht dem Widerstandsverbot unterliegen (vgl. Hirsch 2017: 345).
Eine Art von Widersetzlichkeit, welche nicht unter das strikte Verbot von Widerstand fällt, ist typisch für die Epoche der Aufklärung. Kant spricht in diesem Kontext von der Freiheit der Feder (Kant 2016: 33). Gemeint ist, dass es den Bürgerinnen und Bürgern zusteht, vermeintliches Unrecht seitens der Herrschaft öffentlich bekannt zu machen (vgl. Hirsch 2017: 345). Anders als die bereits vorgestellten Überlegungen Kants vielleicht vermuten ließen, geht dieser sehr wohl davon aus, dass der Souverän sich irren kann und die Rechte der Untertanen verletzt werden könnten. Damit distanziert sich Kant beispielweise von Hobbes, welcher einen Gesetzesbruch seitens des Souveräns als unmöglich darstellt (vgl. Kant 2016: 32). Jedoch schränkt auch Kant die Handlungsmöglichkeiten dieser Art von Widerstand stark ein. Und zwar müsse sich die Veröffentlichung der Untertanen „in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung [...] [bewegen]“ (Kant 2016: 33). Diese Einschränkung scheint im Kontext des Rechtsverständnisses logisch. Das Volk hat zwar das Recht, den Herrscher auf vermeintliche Ungerechtigkeiten hinzuweisen, darf aber in diesem Akt nicht dessen Legitimität in Frage stellen. Wird dies nicht gewährleistet, droht erneut der Rückfall in den Naturzustand, welcher aus den bereits zuvor vorgestellten Gründen unbedingt abzulehnen ist. Die Freiheit der Feder diene im Sinne Kants wohl eher dazu, auf vermeintliche Missstände hinzuweisen und Reformen seitens des Souveräns anzustoßen, aber nicht, um einen aktiven Widerstand oder gar eine Revolution in Gang zu setzen (vgl. Elpel 2017: 210).
Eine weitere Form von Ungehorsam, welche laut Kant legitimiert zu sein scheint, sei die individuelle Gehorsamsverweigerung (vgl. Elpel 2017: 211). Diese Form ist zwar für die Untersuchung der vorliegenden Forschungsfrage von geringer Bedeutung, muss der Vollständigkeit halber trotzdem vorgestellt werden. Gehorsamsverweigerung wird an dieser Stelle als weniger relevant eingestuft, weil es um persönliche Entscheidungen und Handlungen einzelner Individuen geht und daher nicht wirklich als kollektiver, politischer Widerstand betrachtet werden kann. Das Recht auf Gehorsamsverweigerung entspringt Kants klarer Trennung von Recht und Moral (vgl. Schwaabe 2018: 182). Die einzelnen Bürgerinnen und Bürger müssen bestimmten Forderungen des Herrschers nicht nachkommen, wenn diese ihrem inneren moralischen Verständnis zuwiderlaufen (vgl. Elpel 2017: 211). Daraus resultierende Konsequenzen müssen sie erdulden. Wo die genauen Grenzen dieser Gehorsamsverweigerung liegen, wird nicht ersichtlich. Es sei beispielsweise unklar „inwiefern der Einzelne rechtsverbindlich beurteilen kann, was dem inneren Moralischen unterliegt“ (Hirsch 2017: 348). Wolfgang Kersting führt die Gehorsamsverweigerung nach Kant umfangreicher aus. Im Falle eines Zusammenstoßes von Gehorsamspflicht und dem eigenen moralischen Sittengesetz, überwiege letzteres in jedem Fall (vgl. Kersting 1984: 331). Mit anderen Worten bedeutet dies, dass in einem solchen Fall die Verweigerung von Befehlen nicht nur erfolgen kann, sondern ausdrücklich erfolgen muss. Die Einschränkung, dass weiterhin kein Recht zu aktiven Widerstand bestehe, bleibt jedoch intakt (vgl. Kersting 1984: 332).
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