Die historische Entwicklung psychischer Krankheitsdeutungen

Am Beispiel der Hysterie


Bachelorarbeit, 2008

46 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


I Inhaltsverzeichnis

Abstract

Vorwort

1 Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Forschungsstand

2 Begriffsdefinitionen der Hysterie im Wandel der Zeit
2.1 Definition des Hysteriebegriffs
2.2 Symptome der Hysterie

3 Die Entwicklung der Auffassungen über Hysterie in der Geschichte der Medizin
3.1 Die Hysterie in der altägyptischen Medizin
3.2 Die Geburt des Hysteriebegriffs in der hippokratischen Medizin
3.3 Die Hysterie in der griechisch- römischen Medizin
3.4 Hysterie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zwischen Krankheit und Sünde
3.4.1 Hysterie als Besessenheit und Hexenwerk im christlichen Mittelalter und der frühen Neuzeit
3.4.2 Medizinische Denkstile

4 Die Entwicklung der Hysterie von der Nervenkrankheit zur psychischen Störung
4.1 Anfänge und Vorläufer
4.2 Psychiatrische Denkrichtungen im 19. Jahrhundert
4.3 Der Weg zur psychogenen Krankheitsauffassung

5 Schlussbemerkungen

II. Glossar der Fachbegriffe

III. Abkürzungsverzeichnis

IV. Literaturverzeichnis

Abstract

The paper presents historical milestones focusing on conceptions of hysteria from the perspective of medical history. While the term "hysteria" has been used for over 2.000 years, its definition as a psychological disorder that alter motor or sensory functions with no organic cause, just developed in late 19th century.

In fact hysterical disorders where traditionally connected to medical conditions, thought to be particular to women.

The term originates in ancient Greek medicine.

Primary appearing in Hippocrates’ Early Medical Concept hysteria was referring to an inhomogeneous group of symptoms, though to be caused from the wandering womb.

This concept was applied and modified over the centuries, while the definitions have become broader and more diffuse over time. Followed up by demonological explanations in the Middle age, in which scientific approaches for mental illnesses rarely used. In Renaissance and Enlightenment hysteria became again connected to women.

By no mean the relationship of hysteria and woman kept vibrant until late 19th century.

As a result the term was excluded as a medical and psychiatric diagnosis and splintered into different diagnoses.

The paper wants to bring the reader across the development in witch the psychological perspective of hysterical disorders got acknowledged in medical history.

Keywords: hysteria, womb, medical history, psychological perspective, diagnosis

Vorwort

Diese Bachelorarbeit wurde an der Europa – Universität – Viadrina in Frankfurt (Oder) im Rahmen des Seminars „Medizingeschichte der Neuzeit“ im Verlauf des Sommersemesters 2008 geschrieben. Mein Dank gilt Herrn Prof. Dr. Christian Andree und Herrn Prof. Dr. Dr. Ulrich Knefelkamp für ihre Unterstützung, ihre Geduld und die Bereitschaft mich prüfen zu wollen. Zu Beginn meines Forschungsprozesses beging ich den methodischen Fehler, die Hysterie nicht aus dem für eine korrekte Darstellungsweise erforderlichen medizinhistorischen Blickwinkel zu betrachten. Stattdessen orientierte ich mich an der, in Bibliotheken hauptsächlich auffindbaren Fülle von Beiträgen, die feministische HistorikerInnen über das Thema Hysterie fabrizierten. Dadurch blieb mir in den ersten Monaten meiner Forschungen der nüchterne Blick auf die Hysterie als seelische Störung versagt. Hinzu kommt das Problem, aussagefähige Literatur über das Thema Hysterie aus rein medizingeschichtlicher Perspektive zu finden.

Trotz aller Schwierigkeiten, die sich bei der Erarbeitung zur Medizingeschichte der Hysterie ergaben, haftete dem Thema stets etwas konstant Faszinierendes und Rätselhaftes an und erhöhte dadurch meinen Anspruch an eine historisch möglichst interessant zu lesende und stringente Darstellungsweise.

1 Einleitung

„Die Störung wurde als Manifestation von nahezu allem aufgefasst, von göttlicher dichterischer Inspiration und satanischer Besessenheit bis zu weiblicher Unvernunft, Degeneration der Rasse und unbewussten psychosexuellen Konflikten. Sie hat zu gynäkologischen, humoralen, neurologischen, psychologischen und soziologischen Erklärungsversuchen Anlass gegeben und wurde im Schoß, dem Unterleib, den Nerven, den Eierstöcken, dem Bewusstsein, dem Gehirn, der Psyche und der Seele situiert. Sie wurde als körperliche Krankheit, Geistesstörung, spirituelles Leiden, Verhaltensabweichung, soziologische Kommunikation beschrieben, aber es wurde auch bestritten, dass sie überhaupt eine Krankheit sei.“[1]

Dieses Zitat des amerikanischen Medizinhistorikers Mark S. MICALE fasst all das zusammen, was sowohl medizinisch als auch kulturell in die Hysterie hinein interpretiert wurde. In dieser Arbeit sollen allerdings nur die medizinhistorisch relevanten Deutungsversuche interessieren. Im Zitat wird deutlich, dass es sich bei der Hysterie anscheinend nicht nur im Bereich der Medizingeschichte um einen kontroversen Gegenstand handelt. Speziell in der Geschichte der Psychiatrie sind abnorme Verhaltensweisen und Krankheitszeichen, die man früher unter den Begriff Hysterie fasste, neben anderen seelischen Störungen ohne organisches Korrelat ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Sie traten wahrscheinlich zu allen Zeiten auf, wurden jedoch historisch mit zahlreichen Deutungen und Lokalisationsversuchen versehen.

Man kann sich heute kaum noch vorstellen, dass der Begriff Hysterie noch vor einem Jahrhundert als die klassische Neurose[2] bezeichnet wurde und eine ernst zu nehmende Erkrankung darstellte. Der allseits bekannte abwertende Ausspruch „du bist ja völlig hysterisch“ erinnert uns in diesem Sinne noch an diese Zeit. Doch abgesehen davon, dass der Begriff im umgangssprachlichen Sinne noch heute gern benutzt wird, um – meist Menschen weiblichen Geschlechts – auf ihr für die Umwelt als störend empfundenes unechtes und übertrieben emotional wirkendes Verhalten hinzuweisen, erinnert sonst nicht mehr viel an den einst so präsenten Krankheitsbegriff. Das kommt nicht von ungefähr, da, bis auf wenige Ausnahmen, die Hysterie in der medizinischen Literatur als reines Frauenleiden beschrieben wurde. Seit der Entstehung dieses Begriffs in der griechischen Antike hat die Hysterie grob unterteilt sowohl biologische, magisch-religiöse und psychologische Deutungsversuche zur Krankheitsentstehung und Behandlungsmethoden hervorgebracht.[3] Allerdings rückten die Mediziner erst allmählich von der irreführenden Fixierung auf die weiblichen Geschlechtsorgane ab und entwickelten neben den überwiegend somatisch geprägten Krankheitsauffassungen neue Theorien, die sowohl psychische, als auch soziale Faktoren für die Entstehung von seelischen Störungen als wichtige Ursachen in Betracht zogen.

1.1 Fragestellung

Die Theorien zur psychischen Störung Hysterie waren, wie bereits unter 1. dargelegt, im Verlauf der Geschichte von sehr starken Veränderungen geprägt. Es dauerte viele Jahrhunderte bis die Medizin hysterische Symptome auch bei Männern beobachtete und sich von ihrem Bezug auf die weiblichen Geschlechtsorgane löste und damit zu der noch heute geltenden Auffassung gelangte, dass diese Symptome rein psychisch bedingt sind und geschlechtsunabhängig auftreten können.

In diesem Sinne soll in der vorliegenden Bachelorarbeit der Versuch unternommen werden, einen Überblick über den Wandel im medizinischen Denken zur Hysterie zu geben. Die zentrale Fragestellungen dieser Arbeit sind: Welche unterschiedlichen Richtungen in den Krankheitsauffassungen zur Hysterie entwickelten sich in der Medizingeschichte? Welche historischen Entwicklungen lassen sich hinsichtlich der medizinischen Sichtweisen zur Hysterie feststellen? Inwiefern hing das Krankheitsverständnis der Hysterie mit der Begriffsprägung seit Hippokrates zusammen und welche Probleme und Schwierigkeiten ergaben sich daraus für die Mediziner? Inwiefern waren die medizinischen Konzepte eingebettet in den jeweiligen ´ Denkstil[4] der Zeit? Warum gelang erst unter Sigmund Freud der entscheidende Durchbruch im Verständnis von Krankheiten mit rein psychischem Ursprung?

Im Sinne einer medizinhistorischen Betrachtungsweise habe ich mich im Folgenden nur mit der Sichtweise der Ärzte zur Hysterie beschäftigt. Der Literatur zufolge haben sich seit der griechischen Antike ebenso Philosophen, wie beispielsweise Plato, mit dem Thema Hysterie befasst. Aufgrund des medizingeschichtlichen Fokus dieser Arbeit und des damit verbundenen Zwangs zur Kürze muss jedoch auf eine solche Betrachtungsweise in der Darstellung verzichtet werden.

In der Arbeit soll zunächst eine begriffliche Annäherung und Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Terminus Hysterie erfolgen. Danach soll folglich erläutert werden, was man früher und unter heutigem medizinischem Verständnis unter Hysterie versteht, welche Symptome früher unter dem Begriff gefasst wurden und welche Besonderheiten dazu beigetragen haben, dass neue diagnostische Begriffe an ihre Stelle getreten sind.

Anhand eines historischen Rückblicks wird im Hauptteil der Arbeit untersucht, was es seit der Antike mit dem Phänomen der Hysterie auf sich hat. Dabei sollen die prägenden Ansätze im Verständnis der heute als rein psychisch bedingt angesehenen Hysterie mit ihren medizinischen Hauptvertretern aus der griechisch-römischen Medizin zur Medizin zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach skizziert werden.

Abschließend soll eine kritische Bewertung mit den Auffassungen zur Hysterie aus eigener Erkenntnis stattfinden. Außerdem soll ein Ausblick Aufschluss über die heutige Entwicklung des Hysteriebegriffs seit Freud geben und angedeutet werden, welche möglichen Gründe zum Verschwinden des medizinischen Diagnosebegriffs Hysterie geführt haben.

1.2 Forschungsstand

Erstmals schriftlich erwähnt wird der Begriff der „Hysterie“ in den hippokratischen Schriften aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Somit ist der Hysteriebegriff einer der ältesten medizinischen Krankheitsbegriffe, der noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in der medizinischen Fachsprache Verwendung fand.[5] Die Beschäftigung mit einigen übersetzten Originaltexten aus der Medizin der griechisch-römischen Antike hat sich daher für meinen Erkenntnisprozess als sehr nützlich erwiesen. Irreführender Weise bezeichnete der Begriff „Hysterie“ bis zum 19. Jahrhundert hinein ursprünglich ein eng mit dem weiblichen Geschlecht verbundenes und somit nur bei Frauen vorkommendes nicht genau differenziertes Krankheitsbild. Kurios und zum Teil skurril erscheinen deshalb für den heutigen Leser unzählige medizinische Publikationen, die sich mit dem Krankheitsbild, den Ursachen und der Therapie von Hysterie beschäftigten. Um ein besseres Verständnis über die, das weibliche Geschlecht bedingende und zu dieser Zeit meist als neurologische Störung betrachteten Sichtweisen zu erhalten, empfand ich es daher als notwendig, mich weniger mit den Angaben aus der Sekundärliteratur unserer Zeit zu begnügen, sondern mich auch mit den verfügbaren Artikeln medizinischer Lexika aus der Zeit um 1800 bis 1900 zu beschäftigen.

Erst seit dem 19. Jahrhundert wurde akribischer begonnen, die damals sehr häufig auftretende Hysterie mit neuen naturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen und unter rationalen Gesichtspunkten einer engeren und systematischeren Erforschung zu unterziehen. Auf der Suche nach der Ätiologie von Gemütskrankheiten, wie die der Hysterie, lieferte das Fehlen jeglicher organischer Befunde den Grundstein für die Entwicklung der Psychoanalyse. Damit entstand die in ihrer Basis heute noch gültige Auffassung von der psychischen Genese von Störungen, d.h. von der rein psychisch bedingten Entstehung von Krankheiten.[6] Daher war es wichtig, Einblicke in die Originalarbeiten von Sigmund Freud sowie seine Übersetzungsarbeiten von Jean Martin Charcot zum Thema der Hysterie zu nehmen, um einen eigenständigen Blickwinkel über deren Auffassungen zur Hysterie zu erhalten.

Vor allem seit dem 20. Jahrhundert erlangte die Hysterie als rätselhaftes Phänomen große Bedeutung innerhalb der Geisteswissenschaften.[7] Besonders seit den 1970er Jahren erschienen kontinuierlich zahlreiche Forschungsbeiträge zum Phänomen „Hysterie“, die sich u.a. aus kultur-, literatur-, sozialwissenschaftlicher und historischer Perspektive mit dem Thema auseinandersetzen. Aufgrund der Fülle und Verfügbarkeit an Literatur aus den Zweigen der Frauen- und Geschlechterforschung kam ich bei der Bearbeitung des Themas nicht umhin, mich, trotz der bereits im Vorwort erwähnten z.T. einseitigen Darstellungsweise, mit historischen Arbeiten aus diesen Disziplinen kritisch auseinander zu setzen. So beschäftigten sich beispielsweise die Darstellungen in den Publikationen „Hysterie und Weiblichkeit“ von Regina SCHAPS (1982) und „Krankheit Frau“ von Esther FISCHER-HOMBERGER (1979) getreu ihres methodischen Forschungsansatzes sehr detailliert mit dem Thema Hysterie. Im Gegensatz dazu wird sie in den historischen Darstellungen zur Psychiatriegeschichte wie beispielsweise in Erwin H. ACKERKNECHTS (1985) „Kurze Geschichte der Psychiatrie“ oder F. G. ALEXANDERS und S. T. SELESNICKS (1969) „Geschichte der Psychiatrie“ im Kontext seelischer Störungen nur am Rande erwähnt.

Neben dem benanntem Quellenstudium und der Sekundärliteratur beschäftigte ich mich mit einschlägigen medizinhistorischen Übersichtswerken, u.a. Erwin H. ACKERKNECHTS (1992) „ Geschichte der Medizin“, Werner E. GERABEKS (2007) „ Enzyklopädie Medizingeschichte“, Bettina von JAGOWS und Florian STEGERS (2005) „Literatur und Medizin. Ein Lexikon.“

2 Begriffsdefinitionen der Hysterie im Wandel der Zeit

Die Hysterie gilt als die älteste aller beobachteten psychischen Störungen. Die Vorstellungen von den Ursachen dieser Erkrankung reichen von einer im gynäkologischen Bereich angesiedelten Erkrankung über eine neurologische Verursachung bis hin zur psychischen Störung.

Schon immer haben es die Mediziner bei der Hysterie mit einem rätselhaften Krankheitsbild zu tun, dass sich eher durch die Vielschichtigkeit in der Symptomatik auszeichnet, als durch ein einheitliches Krankheitsbild. Der Begriff ist auch mit einer Menge von Vorurteilen, vor allem gegenüber Frauen, behaftet.

2.1 Definition des Hysteriebegriffs

Bei der Hysterie handelt es sich um ein nicht genau umschriebenes Krankheitsbild, das in der Medizingeschichte mit verschiedensten Bedeutungsinhalten verbunden wurde. Als Sammel- und Fachbegriff umfasste sie vielfache psychische und körperliche Symptome, bei denen keine körperlichen, d.h. organischen Ursachen festgestellt werden konnten. Ursprünglich bezeichnete der Begriff eine ausschließlich bei Frauen vorkommende Krankheit, da krankhafte Veränderungen der Gebärmutter (griech. hyster(a)) bis in das Mittelalter als Ursache der Erkrankung angesehen wurden. Auch in der Folgezeit hielt man lange an dem Begriff Hysterie fest.

Noch um 1900 existierte folgende Definition der Hysterie: „Hysterie (Mutterplage, Mutterstaupe), eigentümliche, meist bei Frauen, selten bei Männern auftretende Nervenkrankheit, geht meist von Krankheiten der Geschlechtsorgane aus, kennzeichnet sich durch Stimmung des Gemüts, plötzliche Übergänge vom Weinen zum Lachen, Gefühl des Aufsteigens einer Kugel vom Magen zur Kehle (Globus hystericus) […] Krämpfe […] Gelenkschmerzen und Lähmungen. In höheren Graden und bei längerem Bestehen geht die Krankheit auch in schwere Formen, der Geistesstörung (hysterische Melancholie, hysterische Verrücktheit) über.“ [8]

Nach Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, war „die Hysterie eine nosologische Einheit, d.h. eine Störung, bei der immer dieselbe Ätiologie vorliegt (hier ein ungelöster, unbewusster ödipaler Konflikt), dieselbe Pat hogenese, also dieselben Abwehrmechanismen (auf Verdrängung, Dramatisierung, Konversion usw.) mit dem der Konflikt neurologisch verarbeitet wird, dies führt zu mehr oder weniger typischen Erscheinungsbildern und Symptomen. Es ist eine Störung, die einen relativ einheitlichen Verlauf hatte und eine spezielle Therapie (psychoanalytische Kur) erforderlich machte.“ [9]

Von dieser Definition musste man aber bald abrücken, da es zahlreiche Menschen gab, die zwar typische Anzeichen für die Hysterie boten, bei denen aber keine ödipalen Konflikte zugrunde lagen sondern andere. Hysterische Symptome konnten somit auch unter unterschiedlichen Konstellationen auftreten. Andererseits gab es viele Menschen, die ähnliche Konflikte hatten, diese aber ohne klinische Symptomatik lösen können.

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Hysterie als eine Ziel gerichtete psychogene Erkrankung mit seelischen und/oder körperlichen Symptomen als Reaktion auf emotional stark belastende Erlebnisse, die infolge einer angeborenen Disposition nicht normal verarbeitet worden, angesehen. Die Grenzen zur Simulation schienen oft fließend.[10]

Diese inhomogene Symptomatik und unklare Ätiologie war neben der Neueinordnung der Neurosen und des diskriminierenden Aspekts bezüglich der Frauen ein maßgeblicher Grund für die Abschaffung des Terminus Hysterie in den internationalen Klassifikationssystemen ICD oder DSM Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die früher hysterisch benannten Symptome bezeichnet man jetzt als dissoziative/ Konversions- bzw. somatoforme Störung. Aus der hysterischen Charakterneurose entstand die Bezeichnung histrionische Persönlichkeitsstörung.[11]

2.2 Symptome der Hysterie

Um zu verstehen, was das spezifisch „Hysterische“ ausmacht bzw. welche psychisch bedingten Störungen man früher unter den Sammelbegriff Hysterie fasste, ist es notwendig, sich mit den aktuellen Diagnosebezeichnungen zu beschäftigen – histrionische Persönlichkeitsstörungen, dissoziative Störungen bzw. somatoforme Störungen – durch die die Begriffe Hysterie und hysterisch ersetzt wurden. Allgemein findet sich in der Literatur eine Unterteilung der „hysterischen Phänomene“ in drei Gruppen.[12] Das sind erstens, die körperlichen Funktionsstörungen (somatoforme Symptome), zweitens die psychischen Funktionsstörungen (überwiegend dissoziative Erscheinungen) und drittens hysterische Verhaltensmuster und Charakterzüge im Sinne einer histrionischen Persönlichkeit.

Die erste Gruppe umfasst körperliche Funktionsstörungen wie Krämpfe (hysterischer Anfall), Beeinträchtigungen des Sprechvermögens und der Sinne (u.a. Seh-, Hör-, Schluckstörungen), Atembehinderungen, Schwindelzustände, Muskelschwächen, Lähmungen, Anästhesien, Erbrechen und Zittern.

Bei der zweiten Gruppe geht es um psychische Funktionsstörungen, bei denen bestimmte psychische Vorgänge vom Bewusstsein abgehalten und von anderen psychischen Prozessen getrennt werden, wie z.B. Halluzinationen, Dämmerzustände, Amnesien, Bewusstseinsspaltungen.

Die dritte Gruppe umfasst Verhaltensweisen und Charakterzüge, die der Laie am ehesten mit dem Begriff der Hysterie in Verbindung bringen würde. Sie finden sich früher in dem veralteten Begriff der hysterischen Charakterneurose und heute in dem der histrionischen Persönlichkeitsstörung wieder. Auffallend ist dabei eine gewisse Kontinuität in den für diese Charaktere typischen Verhaltensstrukturen, die Anlass für die Entstehung des hysterischen Charakters gegeben haben und sich wie folgt kennzeichnen lassen. Typisch sind Charaktermerkmale mit einer erhöhten Tendenz, alltägliche Erlebnisse in übertriebener Weise zu dramatisieren und darzustellen. Daneben reagieren hysterische Charaktere übertrieben auf das Verhalten ihrer Mitmenschen, d.h. beispielsweise, sie nehmen alles viel zu schnell persönlich und regen sich schon über Kleinigkeiten auf. Weitere Merkmale finden sich in der Literatur wie folgt: verführerisches Verhalten, leichte Beeinflussbarkeit und unbewusste Inszenierung, exaltiertes theatralisches und egozentrisches Verhalten, sehr subjektive Wahrnehmung auf eigenes Erleben und allgemeine Übererregbarkeit.

Bei näherer Untersuchung der Betroffenen zeigt sich, dass sowohl bei den bereits umschriebenen Störungen der Körperfunktionen, als auch bei den Störungen der psychischen Funktionen und der hysterischen Charakterzüge sich unbewusste Sehnsüchte, Phantasien und schwer erfahrbare Gefühle als Sprache des Körpers äußern, die den Betroffenen so meist nicht bewusst sind und im Verborgenen in ihnen schlummern. Da die Hysterie aufgrund ihres Symptomreichtums große Ähnlichkeiten zu anderen, besonders zu neurologischen Krankheiten aufwies, brachte sie sich den Ruf des „großen Imitators“ aller möglichen Krankheiten ein.[13]

3 Die Entwicklung der Auffassungen über Hysterie in der Geschichte der Medizin

3.1 Die Hysterie in der altägyptischen Medizin

In der historischen Forschungsliteratur über Hysterie wird mehrheitlich davon berichtet, dass bereits in einigen der erhaltenen Quellen aus der Medizin Altägyptens (3000 v. Chr. – 500 v. Chr.) Symptome beschrieben wurden, die retrospektiv der Hysterie zugeordnet werden können. Erwähnt wird der Begriff Hysterie allerdings noch nicht.

Bereits in den medizinischen Fragmenten des ältesten bekannten Papyrus Kahun (Niederschrift um 2000 v. Chr.). dem Papyrus Edwin Smith (Niederschrift um 1550 v. Chr.) und der für uns bedeutendsten und vollständig erhaltenen Quelle altägyptischer medizinischer Praxis, dem Papyrus Ebers [14] (Niederschrift um 1550 v. Chr.) finden sich mehrerer Autoren zufolge erste Beschreibungen zu Krankheitszeichen, wie Sensibilitäts- und Bewegungsstörungen und magisch – religiösen Behandlungsmethoden, die sie in einem engem Zusammenhang zur Hysterie sehen.[15] In ihrer „Geschichte der Psychiatrie“ (1969) erwähnen die Autoren Alexander und Selesnick „die Ägypter hatten die seelische Störung erkannt, die von den Griechen später „Hysterie“ […] genannt wurde.“ [16] Weiterhin berichten sie davon, dass die Beschwerden nach der Vorstellung der altägyptischen Medizin durch eine anormale Lage des “wandernden“ Uterus verursacht wurde. Nach dieser medizinischen Sichtweise wurden die Krankheitssymptome vor allem auf Wanderbewegungen des Uterus im Körper der Frau zurück geführt, die durch das Verhaften des Uterus an jeder möglichen Körperregion allerlei Krankheitszeichen erzeugen könnten. Die ägyptischen Heilkundigen[17] wendeten unter Einsatz religiöser Beschwörungsformeln eine spezielle „Ausräucherungs- bzw. Kräutertherapie“ an.[18] Sie hatte den Zweck, den Uterus an seine ursprüngliche Lage zurück zu holen. Dazu heißt es in der Literatur, dass einerseits der weibliche Unterleib mit verschiedenen Pflanzen durchräuchert wurde und andererseits die uterale Körperregion mit wohlriechenden Pflanzen und der Rest des Körpers mit übel riechenden Pflanzen belegt wurden. Die Betroffene musste einen Tag lang darunter ausharren, bis die Gebärmutter in ihre normale anatomische Lage zurückkehrt.[19]

[...]


[1] Zit. nach: Micale, Mark S. (1995): „Approaching Hysteria. Disease and It’s Interpretations“, Princton University Press, New Jersey, S. 285. In: Bronfen, Elizabeth (1998): Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne, Berlin. S. 112.

[2] Die wichtigsten Fachbegriffe werden bei der Erstnennung jeweils fett gedruckt und werden am Ende der Arbeit im Glossar der Fachbegriffe kurz erläutert.

[3] Vgl. Alexander, F. G., Selesnick, S. T. (1969): Geschichte der Psychiatrie, Diana Verlag, Konstanz, S. 22-31.

[4] Der Begriff des Denkstils stammt von dem Medizin- und Wissenschaftshistoriker Ludwig Fleck, der damit die traditionell und kollektiv herrschende Lehrmeinung innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen bezeichnete. Seine Theorie von der Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache ermöglicht es, die Geschichte der Hysterie als Teil der Wissenschaftsgeschichte in ihrer Komplexität zu erfassen. Anstatt der einfachen und linearen Darstellung historischer Fakten über Entdeckungen und Entwicklungen in der Heilkunde ermöglicht der Ansatz eine kritische Sicht, beispielsweise auf die Bedingungen bzw. die Dauer, die ein von Kuhn bezeichnetes „wissenschaftliches Paradigma“ braucht, um sich allgemein in der Fachwelt durch zu setzen. Vgl. Fleck, Ludwig (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Fischer TB, Frankfurt/ Main. Kuhn, Thomas S. (1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Fischer TB, Frankfurt/ Main.

[5] Vgl. Braun, Christina von (1999): Der Frauenkörper als Norm und Anomalie des Gemeinschaftskörpers, in: Braun, Christina von, Dietze, Gabriele (Hrsg.): Multiple Persönlichkeit. Krankheit, Medium oder Metapher?, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main, S. 65.

[6] Alle im Text benutzten Abkürzungen finden sich am Ende der Arbeit im Abkürzungsverzeichnis.

[7] Die Hysterie fand neben der Medizin und Psychologie großes Interesse, v.a. in den mit der Frauenforschung verbundenen wissenschaftlichen Disziplinen, wie etwa der Philosophie, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Kunst- und Literaturwissenschaft.

[8] Brockhaus Lexikon (1911): Bd. 1, Leipzig, S. 854. Quelle: http://www.zeno.org/Brockhaus-1911/A/Hysterie

[9] Mentzos, Stavros (2006): Was ist aus der Hysterie geworden? Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 157/5, S. 237-240, hier: S. 238. Quelle: http://www.sanp.ch/pdf/2006/2006-05/2006-05-042.PDF

[10] Peters, Uwe Hendrik (2007): Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, medizinische Psychologie, 6. völlig neu bearbeit. U. erw. Aufl., Urban & Fischer, München- Jena. S. 250f.

[11] Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.) (2008): ICD-10-German Modification, Systematisches Verzeichnis. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, S. 174-184. Quelle: http://www.dimdi.de/de/klassi/diagnosen/icd10/index.htm

[12] Aufgrund der anschaulichen und sachlichen Darstellungsweise dienen die folgenden Publikationen hier als Grundlage meiner Erklärungen: Vgl. Mentzos, Stavros (2004): Hysterie. Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen. Geist und Psyche, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, S. 19-27. Vgl. weiterhin Jagow, Bettina von; Steger, Florian (Hrsg.) (2005): Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 390.

[13] Mentzos (2004), S. 21.

[14] Der Papyrus Ebers ist nach dem deutschen Ägyptologen Georg Ebers benannt, der ihn von dem amerikanischen Antikensammler Edwin Smith (nach dem der gleichnamige Papyrus Smith benannt ist) 1872 in Luxor abkaufte. Der Papyrus wird heute in der Universitätsbibliothek in Leipzig aufbewahrt. Vgl. Medizinische Papyri, in: Gerabek, Werner E., et al. (Hrsg.) (2007): Enzyklopädie Medizingeschichte, Walter de Gruyter, Berlin, S. 1096-1100 , hier: 1099ff.

[15] Alexander, Selesnick (1969), S.40. Schaps (1982), S. 18f. Mentzos (2004), S. 31. Jagow, Steger (2005), S. 390.

[16] Alexander, Selesnick (1969), S. 40.

[17] Ackerknecht berichtet, dass drei Typen von „Heilpersonen“ in den ägyptischen Quellen erwähnt werden: Ärzte, Zauberer und Priesterärzte (u.a. Chirurgen). Welcher dieser drei Typen die beschwörende Uterusausräucherung vornahm, wird in den Quellen nicht genannt. Vgl. Ackerknecht, Erwin H. (1992): Geschichte der Medizin, 7., überarb. und erg. Aufl. von A. H. Murken, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, S. 22.

[18] Jagow, Steger (2005), S. 390.

[19] Der Psychotherapeut Hans Morschitzky weist allerdings darauf hin, dass die aus dem Papyrus Kahun stammenden Symptombeschreibungen einer Frau mit Sehstörungen und Schmerzen in der Nacken- und Gesichtsregion ohne erkennbare Ursache sowie eine erwähnte Lageveränderung der Gebärmutter nicht wie fälschlicherweise seit der Neuzeit, angenommen, für das spätere Konzept der umherwandernden Gebärmutter verstanden werden darf. Zudem berichtet er über neue Forschungserkenntnisse, die die Rückführung des Uterus nicht, wie früher angenommen, als Rezept im Papyrus Ebers beschrieben ist, sondern erst von römischen Ärzten als die im Text beschriebene Geruchstherapie angewandt wird. Obwohl sich das Deutsche Ärzteblatt für Moschitzkys’ Buch als Literaturempfehlung aussprach, gibt der Autor selbst keine überprüfbaren bibliographischen Angaben zu genauen Informationen der zuvor behandelten Einwände. Aus diesem Grund habe ich sie in meiner Arbeit nur in der Fußnote erwähnt. Vgl. Morschitzky, Hans (2007): Somatoforme Störungen. Diagnostik, Konzepte und Therapie bei Körpersymptomen ohne Organbefund. 2. erw. Aufl., Springer, Wien- New York, S. 1.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Die historische Entwicklung psychischer Krankheitsdeutungen
Untertitel
Am Beispiel der Hysterie
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)  (Kulturwissenschaften)
Veranstaltung
Medizingeschichte
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
46
Katalognummer
V131812
ISBN (eBook)
9783640376551
ISBN (Buch)
9783640376681
Dateigröße
584 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entwicklung, Krankheitsdeutungen, Beispiel, Hysterie
Arbeit zitieren
Sandra Pfeil (Autor:in), 2008, Die historische Entwicklung psychischer Krankheitsdeutungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/131812

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