Oppositionen in Thomas Manns "Tonio Kröger" nach Erika Greber


Hausarbeit, 2021

17 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe

1 Einleitung

2 Künstler- und Bürgertum: Die dichotomischen Leitmotive

2.1`Ich-Identität und Nicht-Ich: Die Blonden und Blauäugigen

2.1.1 Hans Hansen und Tonio Kröger

2.1.2 Ingeborg Holm und Magdalena Vermehren

2.2 Der Antagonismus des väterlichen Nordens und des mütterlichen Südens

2.3 Spiegelmotivik: Die Doppelgänger-Figuren

3 „Verirrter Bürger“ oder „Z*******im grünen Wagen“?

3.1 Der Dualismus von Leben und Geist

3.2 Tonio Kröger als Hybrid zweier Welten

4 Fazit

Literaturverzeichnis


1  Einleitung

 

Die Novelle Tonio Kröger, die zu Thomas Manns Frühwerk zählt und oft (eher) vor einem autobiographischen Hintergrund gelesen wird, folgt in seiner formalen sowie inhaltlichen Gestaltung einem Modell der „Binäroppositionen“[1]. „[D]ie vo[m Protagonisten] so schmerzlich empfundene ´Zweiteilung´ der Welt“[2] spiegelt sich in dichotomischen Leitmotiven wider, die sich im über die ganze Erzählung hinweg erstrecken und wiederholen. Erika Greber hält in ihrem Artikel „zum wissenschaftlichen Sprachspiel »Oppositionen«“[3] fest, dass der Begriff ›Opposition‹ immer „eine semantische Beziehung […] konträrer Art: einen Gegensatz“[4] meint. „Daß eine Opposition [dabei] faktisch meistens als Dichotomie, als zweigliedriges Gegensatzpaar ohne dritten Term, aufgefaßt wird […]“[5], zeigt sich auch in Manns Werk. Die polare Struktur der künstlerischen, dunklen, südlichen Mutterwelt des Müßiggangs und der bürgerlichen, hellen, nördlichen Vaterwelt der Strebsamkeit stellt für Tonio Kröger nicht nur ein konfliktreiches Hin und Her zwischen zwei Welten dar, sondern auch sein sehnsüchtiges Bestreben, seinen Platz in diesen Welten zu finden. Aus dieser unversöhnlichen Polarität von Künstler- und Bürgertum resultiert also ein innerer Konflikt des Helden, der stets auf der Suche nach der eigenen Identität und Zugehörigkeit ist, um sein wahres Wesen/Ich zu erkennen. Tonios Wunsch, die Sphäre des bürgerlichen Lebens mit der des künstlerischen Geistes zu versöhnen, stellt nicht nur die zentrale Thematik der Novelle, sondern auch die meiner Arbeit dar. Hierfür werde ich zuerst die wichtigsten Motive und Kontrastmotive des Werks herausarbeiten und, mitunter Bezug auf Erika Grebers Text, ihre Bedeutsamkeit innerhalb des Gegensatzskonstrukts deuten. Durch das Herausfiltern und Analysieren der Oppositionen werde ich feststellen können, in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen und ob und inwiefern die Dichotomien sich in ihrer Gegensätzlichkeit abstoßen oder vielleicht sogar ergänzen.

2  Künstler- und Bürgertum: Die dichotomischen Leitmotive

 

„Leitmotive werden als solche erkennbar durch Wiederholung. Wiederholungen von präfigurativen Ursituationen prägen, anstelle von Handlungsfortschritten, den Bau des Tonio Kröger.“[6] Thomas Manns Novelle folgt sowohl in seiner thematischen wie auch seiner formalen Organisation einem dichotomischen Modell. Die immer wiederkehrenden Motive der Blonden und Blauäugigen, der wechselhaften Verortung von Süden und Norden, der Vergleich zwischen Mutter und Vater und der Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart lassen sich spiegelhaft in den einzelnen Kapiteln verorten. Die Gegenfigur zu Tonio Kröger, Hans Hansen, wiederholt sich in der Figur der Ingeborg Holm und diese beiden Figuren spiegeln sich wiederum in ihren Doppelgänger-Figuren in Kapitel 8. Während das bürgerliche Umfeld des Protagonisten den omnipräsenten sozialen Rahmen für die Novelle liefert, steht Tonios Berufung zum Künstlertum und seine daraus resultierende Außenseiterposition in der Gesellschaft in einem kontrastiven Licht. Mit den pragmatischen, lebenslustigen Vertretern des bürgerlichen Lebens verbindet den melancholischen, sensiblen Tonio überhaupt nichts und nichts bereitet ihm, sowohl in seiner Jugend als auch im Erwachsenenalter, mehr Leiden als die Einsicht, dass er nie so sein können wird wie sie. Seine ganze Ich-Identität wird sich auf Basis dieser zweigliedrigen Weltsicht konstruieren und schlussendlich auch sein Künstlerdasein definieren.

 

2.1`Ich-Identität und Nicht-Ich: Die Blonden und Blauäugigen

 

Erika Greber erklärt, wie sich durch Opposition(en) eine „Ich-Identität durch Spiegelung an einem Anderen, am Nicht-Ich, bilde[n]“[7] kann. Durch den direkten Vergleich und der Gegenüberstellung mit einem „Nicht-Ich“ zeichnen sich Eigenschaften des eigenen Wesens heraus, die eben vorhanden oder abwesend sind. Dass dies oft unweigerlich einen „hierarchisierenden Trend der Gegensatzmuster“[8], ein Verhältnis der Über- und Unterlegenheit, zur Folge hat und als „originäre narrative Basisrelation, […] das Erzählgeschehen letzlich organisiert“[9], kann man an Thomas Manns Tonio Kröger und seiner Beziehung zu seinen blonden, blauäugigen Mitmenschen erkennen. Tonio, der die Blonden und Blauäugigen, das heißt die gewöhnlichen, bürgerlichen Menschen liebt, sieht in ihnen alles, was er nicht ist und nicht sein kann. Sie stellen Ideale der bürgerlichen Gesellschaft dar und erfüllen die an sie gestellten Erwartungen, während Tonio den Anforderungen nicht gerecht werden kann. Hans Hansen und Ingeborg Holm, Tonio Krögers Jugendlieben, verkörpern durch ihre Merkmale blond, blauäugig, sportlich aktiv und lebensfroh die „Anderen“, das Nicht-Ich“, an dessen Vorbild der Protagonist sich spiegelt und als dessen Gegenbild er sich sieht.

 

2.1.1        Hans Hansen und Tonio Kröger

 

Als Tonio vierzehn Jahre alt ist, erkennt er seine Liebe zu seinem gleichaltrigen Schulkameraden Hans Hansen. Hans ist „außerordentlich hübsch und wohlgestaltet, breit in den Schultern und schmal in den Hüften, mit freiliegenden und scharf blickenden stahlblauen Augen.“[10] Gleich im Anschluss zu dieser Beschreibung bezieht Tonio Hans´ Aussehen auf sein eigenes und stellt fest, dass er, mit seinem „brünetten und ganz südlich scharf geschnittenen Gesicht [und seinen] dunkle[n] und zart umschattete[n] Augen“ (TK, 8) das genaue Gegenteil von Hans darstellt. Abgesehen vom gegensätzlichen Aussehen, sind Tonio und Hans auch in ihren Wesensarten grundverschieden: Tonio ist empfindsam, sensibel und träumerisch, die Lehrer mögen ihn nicht besonders und er schreibt in seiner Freizeit Lyrik. Hans hingegen ist sportlich, gut in der Schule und bei seinen Mitschülern beliebt. Und „[d]iese Art und Weise, sich selbst und sein Verhältnis zum Leben zu betrachten, spielt[] eine wichtige Rolle in Tonios Liebe zu Hans Hansen. Er liebt[] ihn zunächst, weil er schön [ist]; dann aber, weil er in allen Stücken als sein eigenes Widerspiel und Gegenteil ersch[eint].“ (TK, 11) In seinen äußerlichen wie innerlichen Eigenschaften ist Hans Hansen der Gegentyp zu Tonio Kröger und niemandem ist dies schmerzlicher bewusst als Tonio selbst. Selbst Tonios Name, Hans bevorzugt es eigentlich, ihn einfach Kröger zu nennen, da sein „Vorname so verrückt ist“ (TK, 14), setzt ihn in eine Außenseiterposition. Erwin Jimmerthal macht die Bemerkung, dass das nur deswegen sei, weil sein Name „so ausländisch klingt und etwas Besonderes ist“. (TK, 15) Sein Name ist nicht deutsch und dies rückt ihn gegenüber einem Hans und einem Erwin, „das waren [nämlich] allgemein anerkannte Namen, die niemand befremdeten“ (ebd.), in ein Licht des Ungewöhnlichen und der Abnormalität. In seinen Jugendjahren reflektiert Tonio zum ersten Mal seine Andersartigkeit gegenüber seinen Mitmenschen, „er [ist] allein und ausgeschlossen von den Ordentlichen und Gewöhnlichen, obgleich er doch kein Z******* im grünen Wagen [ist], sondern ein Sohn Konsul Krögers, […].“ (ebd.) Seine literarischen Interessen an Schillers Don Carlos und Storms Immensee und das Verseschreiben in seiner Freizeit heben ihn von seinen Mitmenschen ab, in Tonios Augen aber auf negative Art und Weise. Während Tonio die Einsamkeit von Schillers König im Tiefsten nachempfindet, führt Hans Gespräche über seine Pferdebücher und Reitstunden mit Erwin Jimmerthal. Ein Gespräch, in welches Tonio sich nicht zu integrieren weiß. Er fühlt sich der bürgerlichen Gesellschaft fremd: während er mit träumerischem Müßiggang und „abgewandten Geistes“ (TK, 10) durchs Leben schlendert, stehen seine pragmatischen, aktiven Mitbürger tatkräftig im Leben. Nach diesem Lebensgeist sehnt sich Tonio, nach dem einfachen, heiteren Leben „von solider Mittelmäßigkeit“. (TK, 11) Und „[s]o war Hans Hansen, und seit Tonio Kröger ihn kannte, empfand er […] eine neidische Sehnsucht […]. Wer so blaue Augen hätte, dachte er, und so in Ordnung und glücklicher Gemeinschaft mit aller Welt lebte, wie du!“ (TK, 12) Die untrennbare, in Tonios radikaler Weltansicht bestehende Konnotation von Blauäugigkeit und problemloser Integration in die bürgerliche Gesellschaft wird hier an der Figur des Hans Hansen veranschaulicht.

 

2.1.2        Ingeborg Holm und Magdalena Vermehren

 

Einige Jahre später findet Tonios Bewunderung ein anderes Ziel: Ingeborg Holm. Inge „mit dem dicken, blonden Zopf, den länglich geschnittenen, lachenden, blauen Augen und dem zart angedeuteten Sattel von Sommersprossen über der Nase“. (TK, 18) Sie, genau wie Hans Hansen, stellt das bürgerliche Ideal dar, das Tonio beneidet. In der Tanzstunde erfüllt sie die an die Eleven gestellten Erwartungen, während Tonio Fehler beim «Moulinet» Tanz und sich vor den Mitschülern lächerlich macht. Ihm ist bewusst, dass er und Inge nichts gemein haben und dass sie „ihm fern und fremd und befremdet [erscheint], [da] seine Sprache […] nicht ihre Sprache [ist]“ (TK, 23) und dennoch empfindet er stets nur Glück, wenn Tonio sie sieht. Sie strahlt Heiterkeit und Normalität aus, im Gegensatz zu ihm und im Gegensatz zu Magdalena Vermehren. So wie Tonio als männliches Pendant zu Hans gezeichnet wird, so gibt es auch eine weibliche Gegenfigur zu Inge: Magdalena, „Rechtsanwalt Vermehrens Tochter, mit dem sanften Mund und den großen, dunklen, blanken Augen voll Ernst und Schwärmerei“ (TK, 20), die beim Tanzen immer hinfällt. Die tollpatschige Magdalena findet Gefallen an Tonio, im Gegensatz zu Inge, und mag es, dass er „Verse dichtet[], sie hat[] ihn zweimal gebeten, sie ihr zu zeigen, und oftmals schaut[] sie ihn von Weitem mit gesenktem Kopfe an.“ (ebd.) Sie erkennt, dass sie und Tonio von identischer Wesensart sind und sie das gleiche empfindsame, künstlerische Gemüt teilen, doch „[es] kränkt[] […] [Tonio], daß er mit Magdalena Vermehren, […], sprechen [kann], daß sie ihn ver[steht] und mit ihm lacht[] und ernst [ist], während“ (TK, 23) die „blonde, lustige Inge, […] ihn sicher darum verachtet[], daß er poetische Sachen schr[eibt]“. (ebd.) Er weiß, dass Magdalena eigentlich eine Seelenverwandte ist, aber Tonio kann keine Liebe oder Zuneigung für sie empfinden, da sie so ist wie er. Und so bildet sich bereits in Jugendjahren in Tonios Kopf „ein Weltbild elementarer Kontraste ohne Ausdifferenzierungen“[11], das sich nicht nur auf seine Mitmenschen, sondern auch seine eigene Person miteinbezieht/ auf seine eigene Person ausweitet.

 

2.2 Der Antagonismus des väterlichen Nordens und des mütterlichen Südens

 

Tonio Krögers gespaltenes Wesen und seine Sehnsucht nach der simplen bürgerlichen Welt führen zurück „auf sein Elternhaus; auch dieses ist nämlich von grundverschiedenen, heterogenen Einflüssen bestimmt:“[12] er ist der Sohn des norddeutschen Kaufmanns und Konsuls Kröger und der südländischen Musikerin Consuelo. Während der Nachname „Kröger“ für ein angesehenes bürgerliches Dasein spricht und in seiner Heimatstadt eine respekteinflößende Wirkung mit sich bringt, wirkt sein Vorname „Tonio“, den er von seinem südländischen Onkel Antonio hat, auf seine Mitmenschen befremdlich. Tonio ist ein für nordische Ohren merkwürdig und fremd klingender Name. Der Name des Protagonisten ist in sich selbst also schon eine Zusammenstellung von zwei kontrastiven Elementen. Er vereint und repräsentiert die Dichotomien von Norden und Süden, Vater und Mutter, Bürgerlichkeit und Künstlertum. Tonio Kröger, „dieser exotisch angehauchte Bürgersname“ (TK, 27), als von Thomas Mann ausgewählter Titel für seine Novelle setzt bereits vor der Lektüre eine Dialektik des Gegensatzes für sein Werk voraus.

 

Die sich durch das ganze Werk ziehende Dichotomie der geographischen Zuteilung von Nord und Süd, zeigt sich sowohl in Tonios biologischer Herkunft als auch in seiner persönlichen Auswahl an Reisezielen und Wohnorten im Laufe seines Lebens. Sein Vater, „ein langer, sorgfältig gekleideter Herr mit sinnenden blauen Augen“ (TK, 10) und angesehener Kaufmann in der Stadt, repräsentiert die nördliche, bürgerliche Welt. Bürgerlichkeit und Norden stellen in Tonios Weltvorstellung Ordnung, Pflichtgefühl und ein strenges Leistungsethos dar. Die Mutter von Tonio, „seine dunkle und feurige Mutter“ (TK, 11), hingegen kommt „von ganz unten auf der Landkarte“ (ebd.), aus dem warmen Süden. Seine „schöne[…] schwarzhaarige[…] Mutter“ (TK, 10) spielt den Flügel und die Mandoline. Hier werden dem Leser erneut die anfänglichen Binäroppositionen von blond-/schwarzhaarig und blau-/dunkeläugig in Erinnerung gerufen und Tonios drastischer Vergleich zwischen beiden optischen Eigenschaften lässt sich anhand seiner Beziehung zu seinen Eltern erklären. Tonio hat nicht nur seine dunklen Augen und Haare, sondern auch sein Talent zur Kunst von der Mutter geerbt. Er selbst spielt das Instrument der Geige und schreibt empfundene Verse über den in ihrem Garten stehenden Walnussbaum und die Ostsee. Und obwohl Tonio mehr, wenn nicht sogar nur Gemeinsamkeiten mit seiner Mutter teilt, empfindet er dennoch weitaus mehr Respekt gegenüber seinem strengen, erwartungsvollen Vater, dessen Idealvorstellungen er gerne gerecht werden würde, es aber nicht kann.

 

Tonio liebte seine […] Mutter, […], und er war froh, daß sie sich ob seiner zweifelhaften Stellung unter den Menschen nicht grämte. Andererseits empfand er, daß der Zorn des Vaters weit würdiger und respektabler sei, und war, obgleich er von ihm gescholten wurde, im Grunde ganz einverstanden mit ihm, während er die heitere Gleichgültigkeit der Mutter ein wenig liederlich fand. (TK, 11)

 

Tonio erkennt also in sich selbst mehr von der „liederlichen“ Mutter, deren Einstellung zum Leben er manchmal verwerflich findet, strebt aber das strenge, bürgerliche Wesen seines Vaters an. Diese Hin- und Hergerissenheit zwischen Mutter und Vater, die Zwiespältigkeit von Süden und Norden, wird ihn sein ganzes Leben begleiten. So zieht er im Erwachsenenalter nach dem Tod seines Vaters und der Wiederheirat seiner Mutter mit einem italienischen Musikvirtuosen aus seiner Heimatstadt weg, um sich den Abenteuern des Künstlertums zu widmen und sich eine Ich-Identität als Literat zu schaffen. Er lebt anschließend „in großen Städten und im Süden, […]; und vielleicht war es das Blut seiner Mutter, welches ihn dorthin zog.“ (TK, 26) Er empfängt sein Künstlerdasein also nun mit offenen Armen und gibt sich dem südlichen, sinnlichen Lebensstil hin, der jedoch nicht die erhoffte Wirkung auf ihn hat. „Die ganze bellezza macht [ihn] nervös [und er] mag auch alle diese fürchterlich lebhaften Menschen dort unten mit dem schwarzen Tierblick nicht leiden.“ (TK, 41) Tonio kann sich mit dem Wesen der südländischen Menschen nicht identifizieren und erkennt, dass er dort nicht hingehört. Und [v]ielleicht war es das Erbteil seines Vaters in ihm, des langen, sinnenden, reinlich gekleideten Mannes […], das ihn dort unten so leiden machte“. (TK, 26) Tonio findet also im mütterlichen Süden kein Glück und kein Gefühl der Zugehörigkeit, nachdem er in seiner Vaterstadt in Norddeutschland ebenfalls keinen Platz mehr hatte. Tonio zieht nach seinen Abenteuern in Italien nach München, denn „»[m]an ist als Künstler innerlich immer Abenteurer genug[, ä]ußerlich soll man sich gut anziehen […] und sich benehmen wie ein anständiger Mensch«.“ (TK, 30) Wieder von dem aus seiner Kindheit und Jugend bekannten bürgerlichen Umfeld umgeben und unter Pflichtbewusstsein und Selbstkasteiung wird Tonio hier zum Kunstschaffenden. Ungefähr ein Jahrzehnt später, als er sich als Schriftsteller einen Namen gemacht und seine Künstleridentität geschaffen hat, sehnt er sich nach einer Auszeit und entschließt sich dazu, in den Norden zurückzukehren, sein finales Reiseziel ist Dänemark. Seine Vorliebe für die reine, ordentliche Vaterwelt im Norden überwiegt deutlich, doch auch nach all diesen Jahren hat sich nichts daran geändert, dass er keinen Platz in dieser Welt hat. In seiner Vaterstadt kennt ihn niemand mehr, er wird als Wildfremder behandelt und sein Elternhaus wurde zur Stadtbibliothek ummodelliert. Und als wäre das nicht schon Enttäuschung genug für Tonio, wird er auch noch von einem Polizeibeamten für einen kriminellen Flüchtigen gehalten und nach seinen Papieren gefragt. Er geht somit nach Dänemark, um dort „auf der Terrasse von Kronborg [zu] stehen, wo der ›Geist‹ zum Hamlet kam und Not und Tod über den armen, edlen jungen Menschen brachte“. (TK, 42) An dieser Stelle stehen selbst Tonios literarische Vorlieben in einem dichotomischen Verhältnis von Nord und Süd: während der vierzehnjährige Tonio die Geschichte des spanischen Infanten in Schillers Drama Don Carlos verfolgte, möchte der nun Dreißigjährige die Erfahrungen von Shakespeares Prinzen von Dänemark nachempfinden. „Jedes Ich [Tonios] ist ein Kreuzungspunkt von Identifikationslinien, von anziehenden und abstoßenden Kräften, und infolgedessen stets ein widersprüchliches Gebilde. Je nach Situation überwiegt das Vorbild des Vaters oder das der Mutter.“[13]

 

2.3 Spiegelmotivik: Die Doppelgänger-Figuren

 

Tonios zwiegespaltenes Wesen, welches sich aus seinem künstlerischen Gemüt und seinem bürgerlichen Umfeld zusammensetzt, beherrscht nicht nur seine Jugendzeit, sondern auch sein Erwachsenendasein. In den ersten beiden Kapiteln der Novelle, in denen die blonden, blauäugigen Figuren des Hans Hansen und der Ingeborg Holm in Tonios Geschichte eingeführt werden, wird bereits auf eine der wichtigen, zentralen Leitmotive hingewiesen. Die Jugendlieben des Protagonisten repräsentieren all das, wonach Tonio sich sehnt. Während zu Beginn der Novelle diese beiden Figuren dem Zweck dienen, einen Gegentyp zum Helden zu schaffen und in die Kernproblematik des Werks einzuführen, so fungieren die Doppelgänger-Figuren von Hans, Inge und Magdalena in Kapitel 8 als Spiegelmotive zur Vergangenheit. Diese Spiegelungsszene steht sowohl in Opposition als auch in Ergänzung zueinander. Einerseits erinnert sie an ein vergangenes, traumatisches Ereignis in Tonios Leben und zeigt, inwiefern dieses immer noch Einfluss auf sein gegenwärtiges Leben hat. Andererseits reflektiert sie aber auch Tonios neugewonnenen Einsichten und Erkenntnisse zu seiner eigenen Person und Identität, wer und was er ist und sein möchte. Dass Tonio Kröger heute aber, genau wie damals, immer noch nicht Anteil am hellen Licht der bürgerlichen, spaßigen Tanzgesellschaft haben kann, zeigt sich in dieser Szene an dem Leitmotiv des Schattens und der Dunkelheit.

 

Während sich am Anfang der Novelle Tonios „Ich-Identität durch Spiegelung an […] [Hans und Inge], am Nicht-Ich“[14] etabliert hat, so stellen der Doppelgänger-Hans und die Doppelgänger-Inge der Gegenwart eine Spiegelung zur Vergangenheit dar und stehen in Opposition und im direkten Vergleich zu ihr. Dass und weshalb es sich um Doppelgänger von Hans und Inge handelt, wird folgendermaßen erklärt:

 

Tonio Kröger sah sie an, die Beiden, um die er vor Zeiten Liebe gelitten hatte, - Hans und Ingeborg. Sie waren es nicht so sehr vermöge einzelner Merkmale und der Ähnlichkeit der Kleidung, als kraft der Gleichheit der Rasse und des Typus dieser lichten, stahlblauäugigen und blondhaarigen Art, die eine Vorstellung von Reinheit, Ungetrübtheit, Heiterkeit und einer zugleich stolzen und schlichten, unberührbaren Sprödigkeit hervorrief… (TK, 67)

 

Diese Doppelgänger-Figuren ähneln Hans und Inge also vom „Typus“ her und aufgrund ihrer hellen, bürgerlichen, Tonio wieder gegensätzlichen Art. Sie tanzen Quadrille und setzen damit die Voraussetzung für einen Zeitsprung in die Tanzstunde des sechzehnjährigen Tonios, als er von seinen Mitschülern ausgelacht wurde. Diesmal aber tanzt Tonio nicht, er nimmt nicht an den bürgerlichen Festivitäten teil, weil er weiß, dass er dort keinen Platz findet und bleibt im Hintergrund verborgen als stiller Beobachter. Der Adjunkt, der den Tanz kommandiert, stellt ein Pendant zum damaligen Tanzlehrer, Herr Knaak, dar, denn auch er spricht Französisch und „brachte die Nasallaute auf unvergleichlich distinguierte Art hervor“ (TK, 69).[15] Neben dem Doppelgänger-Hans und der Doppelgänger-Inge, gibt es ebenfalls eine Doppelgänger-Magdalena.

 

Ein Mädchen stand nicht weit von [Tonio], mit blassem, schmalen und feinen Gesicht, […]. Sie hatte nicht viel getanzt, die Kavaliere hatten sich nicht sonderlich um sie bemüht, und er hatte sie einsam mit herb geschlossenen Lippen an der Wand sitzen sehen. Auch jetzt stand sie allein. […] Gesenkten Kopfes blickte sie Tonio Kröger von unter heraus mit schwarzen, schwimmenden Augen an. (TK, 68)

 

Diese junge Dame steht, genau wie Tonio, allein und abseits der restlichen Gesellschaft an der Wand und beobachtet das festliche Geschehen aus der Ferne. Ihr wird von den männlichen Tänzern nicht viel Beachtung geschenkt, denn sie ist von unauffälliger Erscheinung, und auch Tonio wendet sich von ihr ab. Sie übt keinerlei Faszination auf den Helden aus, denn sie steht genau wie er im Kontrast zu ihren blonden, tanzfreudigen und lebensfröhlichen Mitmenschen. Die beinahe exakte Wiederholung der vergangenen Ereignisse findet ihren Höhepunkt und ihren drastischen Abschluss, als die Magdalena-Doppelgängerin beim Tanzen hinfällt. Tonio, der sich selbst in ihr wiedererkennt, hilft ihr auf und sagt sanft zu ihr: „»Sie sollten nicht mehr tanzen, Fräulein«“. (TK, 71) Genau wie er damals in der Tanzstunde erkannt hat, dass er aufgrund seines nachdenklichen, künstlerischen Wesens niemals den Anforderungen der bürgerlichen Welt gerecht werden könnte, möchte er der Doppelgänger-Magdalena, die vom gleichen Gemüt und Wesen ist wie er, an eben dieser Erkenntnis teilhaben lassen.

 

Als Tonio die Tanzgesellschaft, genauer die Doppelgänger, bemerkt, schleicht er sich durch den Gang, „als befinde er sich auf verbotenen Pfaden, tastet[…] sich behutsam durch das Dunkel“ (TK, 65), um durch die Glastür den von „Petroleum-Lampen hell erstrahlten“ (ebd.) großen Saal sehen zu können. Tonio steht in der Dunkelheit, um „ungesehen Die belauschen zu dürfen, die im Lichte tanz[]en“. (ebd.) „Tonios Standort im dunklen Korridor steht für seine Ausgeschlossenheit und distanziert-kontemplative Haltung zum Leben, während die in Gesellschaft der anderen lachende[n] und tanzende[n] […] [Doppelgänger], kontrastiv für aktive und unkomplizierte Lebensoffenheit steh[en].“[16] Dieses Leitmotiv von Licht und Dunkelheit befindet sich am Anfang sowie am Ende der Spiegelungsepisode, als Tonio sich noch ein letztes Mal sehnsüchtig „nach ihnen um[blickt], nach Hans und Ingeborg, […] [ehe er] fort[geht]“ (TK, 71). Er entfernt sich aus der bürgerlichen Tanzgesellschaft, kehrt zum Alleinsein in sein Zimmer zurück und „um ihn war es still und dunkel.“ (ebd.) Die spiegelhaften Verkörperungen seiner Jugendlieben zu sehen, die „Blonden, Lebendigen, Glücklichen“ (TK, 71) zu beobachten, hat lange totgeglaubte Gefühle und Sehnsüchte in ihm geweckt. Er fühlt sich in die Vergangenheit zurückversetzt und wird daran erinnert, wie es ist, zu empfinden. „Ja, wie damals war es, und er war glücklich wie damals. Denn sein Herz lebte. Was aber war gewesen während all der Zeit, in der er das geworden, was er nun war? – Erstarrung; Öde; Eis; und Geist! Und Kunst!...“ (TK, 71) Der Hell-Dunkel-Kontrast lässt hier nicht nur die Dualität von bürgerlicher Lebenszuwendung und künstlerischer Lebensabwendung wiederkehren, sondern sie ruft auch die lange von Tonio verdrängten Sehnsuchtsgefühle wieder in Erinnerung. Tonio wird mit verdrängten, nicht aufgearbeiteten Ereignissen der Vergangenheit konfrontiert und ihn überwältigen ihn mit der nostalgischen Reminiszenz, die er in seiner Heimatstadt nicht finden konnte. Die gleichzeitig süß-schmerzhafte und bitter-traurige Erinnerung und Sehnsucht an seine verflossenen, unerwiderten Jugendlieben lassen in ihm eine keusche, unschuldige Liebe aufblühen, die er lange nicht gefühlt und vergessen hatte. Es ist diese „keusche Seligkeit“ (TK, 17), die sowohl Grund für sein Leiden als auch Antrieb für seine Kunstschaffung ist.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Oppositionen in Thomas Manns "Tonio Kröger" nach Erika Greber
Hochschule
Université du Luxembourg
Note
1,7
Autor
Jahr
2021
Seiten
17
Katalognummer
V1318432
ISBN (eBook)
9783346800398
ISBN (eBook)
9783346800398
ISBN (eBook)
9783346800398
ISBN (Buch)
9783346800404
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Thomas Mann, Tonio Kröger
Arbeit zitieren
Naomi Berrend (Autor:in), 2021, Oppositionen in Thomas Manns "Tonio Kröger" nach Erika Greber, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1318432

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