Ist Nathan der Weise Waise?

Sieg der Humanität oder Gesellschaftskritik?


Seminararbeit, 2006

13 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Textimmanent: keine Umarmung für Nathan
2.1 Regieanweisungen
2.2 Sprache
2.3 Form und Inhalt
2.4 Dramatischer Spannungsbogen

3 Über die Textgrenze: Motivation des Schriftstellers
3.1 Lessing als Anwalt des Judentums
3.2 Lessings eigenes Umfeld
3.3 Lessing als Mensch

4 Abschluss und Ausblick

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Das 1779 von Lessing fertig gestellte und veröffentlichte Stück „Nathan der Weise“ wird seit nahezu drei Jahrhunderten als Träger einer „Botschaft der Toleranz“[1] verstanden und interpretiert. Die berühmte Regieanweisung am Schluss lässt den Vorhang über eine „allseitige Umarmung“[2] fallen und pflanzte sich als Stück der Versöhnung in die Köpfe der Leser bzw. der Zuschauer. Liest man Lessings „dramatisches Gedicht“ aber genau, kann ebenso gut ein unruhiges Gefühl im Leser zurück bleiben. Die „stumme[] Umarmung“ scheint nicht recht zu der Handlung zu passen, die die Figuren (und Zuschauer) doch zum Jubeln anregen müsste. Da finden sich Familienmitglieder wieder und die Umarmung bleibt stumm?

Die Regieanweisungen des Dramenschlusses waren mir Inspiration, den Text noch einmal zu untersuchen und zwar unter der Fragestellung: Hat das Stück noch eine andere Komponente, die über den in der Forschung unbestrittenen Sieg der Humanität über menschliche Vorurteile hinausgeht? Versteht sich das Schlusstableau auf einer tieferen Ebene doch auch als (versteckte) Gesellschaftskritik? Und wenn ja, worin besteht die Kritik? Und wenn sie sich versteckt präsentiert, warum ist sie nicht so offen formuliert, wie alle anderen kritischen Momente im Stück? Liest sich, unter dem ernsthaften Ton dieses Endes, das ganze Drama nicht sogar um einen Ton weniger harmonisch und ist dafür insgesamt eine Spur kritischer zu verstehen als es gemeinhin interpretiert wird?

Ausgangspunkt der Überlegung ist die Beobachtung, dass die Figur Nathan laut Text kein Mitglied der von ihm zusammen geführten Familie ist und er laut Regieanweisung im Stück, auch aus der Umarmung ausgeschlossen bleiben müsste. Auch wenn die klassische Theater-Inszenierung Nathan in der Mitte der Menschen gesehen hat, bleibt Nathan nicht in Wirklichkeit symbolträchtig am Rand der Bühne alleine stehen? Ist Nathan am Ende nicht nur weise sondern auch Waise? Und ist letzteres sogar zu einem Teil die Konsequenz des ersten?

2 Textimmanent: keine Umarmung für Nathan

2.1 Regieanweisungen

Folgt man dem Text am Schluss des Dramas konsequent, führen die Regieanweisungen in der Enthüllungsszene über die Familienverhältnisse zu einem überraschenden Ende:

1. Nachdem Nathan die geschwisterliche Verbindung zwischen Recha und dem Tempelherrn aufgedeckt hat, eilt der Tempelherr zunächst auf Nathan zu und umarmt anschließend Recha:

Auf Nathan zueilend. / Ihr nehmt und gebt mir, Nathan! / Mit vollen Händen beides! - Nein! Ihr gebt / Mir mehr, als Ihr mir nehmt! unendlich mehr! / Recha um den Hals fallend. / Ah meine Schwester! meine Schwester!“[3]

2. Anschließend nennt Nathan Rechas richtigen Namen und bietet dem Tempelherrn an, sich ebenfalls seinen Sohn zu nennen: Die folgende Umarmung, die von den Kindern ausgeht scheint als positive Antwort zu werten zu sein, während der Tempelherr eine verbale Antwort schuldig bleibt:

„NATHAN. Und was? - O meine Kinder! meine Kinder! - / Denn meiner Tochter Bruder wär mein Kind / Nicht auch, - sobald er will? / Indem er sich ihren Umarmungen überläßt, / tritt Saladin mit unruhigem Erstaunen zu seiner Schwester.“[4]

3. Saladin hat sich von der Gruppe entfernt und spricht mit seiner Schwester. Anschließend ruft Saladin Nathan von den Geschwistern weg und Sittah geht zu ihnen herüber. Die Tatsache, dass Saladin und Nathan leiser sprechen deutet darauf hin, dass Saladin zunächst vermeiden möchte, von den anderen gehört zu werden. Der Logik halber müssten die beiden Gesprächspartner also einige Schritte von der Gruppe entfernt stehen. Text und Regieanweisung dazu lauten:

„SALADIN. Nathan, auf ein Wort! ein Wort! - / Indem Nathan zu ihm tritt, tritt Sittah zu dem Geschwister, ihm ihre Teilnehmung zu bezeigen; und / Nathan und Saladin sprechen leiser.“[5]

4. Es werden die weiteren Verwandtschaftsverhältnisse anhand eines Buches aufgedeckt, das Nathan von seinem Freund Assad vorweisen kann. Saladin eröffnet die weiteren familiären Entdeckungen nun auch der entfernt stehenden Gruppe:

(Saladin). „ Wieder laut. / Sie sinds! sie sind es, Sittah, sind! Sie sinds! / Sind beide meines ... deines Bruders Kinder!“[6]

5. Dann „rennt“ Saladin in die Umarmung seiner wieder gefundenen Familie. Das Verb „rennen“ weist noch einmal darauf hin, dass hier eine räumliche Distanz überwunden werden muss, die mindestens so groß ist, dass ein Mensch überhaupt zum Rennen ausholen kann. Sittah begibt sich ebenfalls in diese Umarmung:

Er [ Saladin ] rennt in ihre Umarmungen. / SITTAH ihm folgend.“[7]

6. Zu diesem Zeitpunkt gibt es keine Regieanweisung für die Figur Nathan, als Saladin sich von Nathan weg bewegt. Es folgt ein Austausch zwischen Saladin und dem Tempelherrn, worauf unmittelbar die letzte Äußerung ebenso wie die berühmte Regieanweisung des Schlussbildes folgen:

„SALADIN ihn aufhebend. Seht den Bösewicht! / Er wußte was davon / und konnte mich / Zu seinem Mörder machen wollen! Wart! / Unter stummer Wiederholung allseitiger / Umarmungen fällt der Vorhang.“[8]

7. Bis zu dieser letzten Anweisung, die das Bühnenstück beendet, hat es keine Regieanweisung gegeben, die dafür gesorgt hätte, dass Nathan sich hätte in die Gruppe zurück bewegen können: Weder hat jemand Nathan herüber gerufen, gewunken, geführt, noch hat sich die Gruppe auf Nathan zu bewegt oder lässt sich ein Hinweis darauf lesen, dass Nathan sich aktiv zu der Gruppe gesellt.

Die mögliche, wenn auch saloppe Deutung, der Autor Lessing wäre in dieser Situation einfach ein wenig nachlässig gewesen, oder die Einstellung würde sich doch von selbst ergeben, schließlich sei Nathan der Protagonist des Stücks, scheint nicht haltbar, wenn man beobachtet, dass Lessing keine einzige Bewegung der anderen Figuren dem Zufall überlassen hat. Den Regieanweisungen konsequent folgend befindet sich Nathan einige Meter von der soeben zusammen geführten Familie entfernt, am Rand der Bühne, alleine.

2.2 Sprache

In seiner Arbeit über Lessing deckt Peter J. Brenner eine „untergründige Spannung in der Sprachgestaltung[9] “ auf, die er, „so harmonisch das Drama in seinem Verlauf und vor allem in seiner Schlusswendung angelegt“[10] sei, trotzdem deutlich erkennt. Er hebt „kakophonische[] Sprachgestalten“ hervor wie Enjambements als „auffälliges Merkmal“, außerdem seien „die Verse […] zudem sehr häufig auf verschiedene Figuren verteilt“ und „gegen eine harmonische Glättung [seien] die vielen Synkopen, Apokopen und Wortreihungen gerichtet, die häufig in emphatischen Ausrufen münden“[11].

Diese Spannung, die sich durch das ganze Drama zieht, findet, wie Brenner an anderer Stelle erwähnt, ihren Höhepunkt in der „Affektenlosigkeit des Nathan-Schlusses“[12]. Diese Atmosphäre steht seiner Meinung nach „im Gegensatz zum Anfang“[13] und für das Vorherrschen der Vernunft, die sich „von partikularen, besonders konfessionellen und ökonomischen, Interessen ebenso befreit hat wie von individuellen Emotionen“[14]. Ist es nicht aber auch möglich, dass das Attribut „stumm“ zusätzlich auf das Vorhandensein eines Subtextes hindeutet, der vom Leser des 18. Jahrhunderts entschlüsselt werden sollte? Ein Subtext kann dort vermutet werden, wo Sprache und Gestik/Mimik oder Handlung und Atmosphäre nicht korrespondieren. Insbesondere Nathan wird bereits am Anfang des Stückes als leidenschaftlicher Mensch vorgestellt. Gerade er sollte angesichts einer Jubelsituation, angesichts einer von ihm geleisteten Familienzusammenführung, angesichts einer hoffnungsvollen Zukunft, die sich ihm in der „allseitigen Umarmung“[15] präsentiert, ruhig und leidenschaftslos bleiben? Der Leser, spätestens aber der Zuschauer müsste die Spannung zwischen Handlung und Stimmung fühlen und vermuten, dass hier noch etwas anderes ausgedrückt werden soll als das, was vordergründig sichtbar ist.

[...]


[1] Fick, Monika: Lessing Handbuch, Stuttgart, 2004, S. 406

[2] Nathan der Weise, Akt 5, letzter Auftritt. (Alle folgenden Zitate aus „Nathan der Weise“ stammen aus: Lessing: Nathan der Weise. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur. (vgl. Lessing-W Bd. 2)

[3] Lessing: Nathan der Weise, 5. Aufzug, letzter Auftritt

[4] Lessing: Nathan der Weise, 5. Aufzug, letzter Auftritt

[5] Lessing: Nathan der Weise, 5. Aufzug, letzter Auftritt

[6] Lessing: Nathan der Weise, 5. Aufzug, letzter Auftritt

[7] Lessing: Nathan der Weise, 5. Aufzug, letzter Auftritt

[8] Lessing: Nathan der Weise, 5. Aufzug, letzter Auftritt

[9] Peter J. Benner: Gotthold Ephraim Lessing, Stuttgart, 2000, S. 282

[10] Ebd., S. 282

[11] Ebd.

[12] Ebd.

[13] Ebd.

[14] Ebd., S. 301

[15] Ebd., S. 282

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Ist Nathan der Weise Waise?
Untertitel
Sieg der Humanität oder Gesellschaftskritik?
Hochschule
Hochschule Ludwigshafen am Rhein  (Germanistisches Institut)
Veranstaltung
Toleranz der Aufklärung
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
13
Katalognummer
V132131
ISBN (eBook)
9783640381555
ISBN (Buch)
9783640381708
Dateigröße
394 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nathan, Weise, Waise, Sieg, Humanität, Gesellschaftskritik, Thema Nathan der Weise
Arbeit zitieren
Ariela Sager (Autor:in), 2006, Ist Nathan der Weise Waise?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132131

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