Betriebliches Gesundheitsmanagement und der demografische Wandel


Masterarbeit, 2022

89 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG UND PROBLEMSTELLUNG

2 ZIELSETZUNG

3 GEGENWÄRTIGER KENNTNISSTAND
3.1 Der demografische Wandel in Deutschland
3.1.1 Geburtenzahlen
3.1.2 Die Lebenserwartung
3.1.3 Wanderungsbewegungen
3.1.4 Bevölkerungsentwicklung in Deutschland
3.1.5 Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Arbeitswelt
3.2 Gesundheit und Alter(n)
3.2.1 Verständnis von Gesundheit
3.2.2 Altern und Leistungsfähigkeit
3.2.3 Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit
3.3 Betriebliches Gesundheitsmanagement
3.3.1 Definition und Grundlagen
3.3.2 Digitales BGM
3.3.3 Ziele und Nutzen
3.3.4 Kernprozesse
3.3.5 Handlungsfelder

4 METHODIK
4.1 Forschungsfragen
4.2 Ablauf der Literaturrecherche

5 ERGEBNISSE

6 DISKUSSION
6.1 Diskussion der Ergebnisse
6.2 Kritische Reflexion der Vorgehensweise
6.3 Ausblick auf zukünftige Studien und mögliche Gestaltungsmaßnahmen
6.4 Fazit

7 ZUSAMMENFASSUNG

8 LITERATURVERZEICHNIS

9 ABBILDUNGS-, TABELLEN-, ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
9.1 Abbildungsverzeichnis
9.2 Tabellenverzeichnis
9.3 Abkürzungsverzeichnis

Voraberklärung

Zur besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern in dieser Arbeit die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform dient lediglich der Vereinfachung und beinhaltet keine Wertung.

1 Einleitung und Problemstellung

Der demografische Wandel ist mittlerweile fest in unserer Gesellschaft verankert. Dem­nach wird sich die Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland in den kommenden Jahrzenten weiterhin stark verändern. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung und der abnehmenden Geburtenrate, wird es im Laufe der Zeit immer mehr ältere Menschen in unserer Gesellschaft geben. Bereits heute ist jede zweite Person in Deutschland älter als 45 Jahre und jede fünfte Person älter als 66 Jahre. Laut Hochrechnungen des Statistischen Bundesamtes wird die Zahl der Menschen ab 67 Jahren bis 2035 um 22 Prozent steigen (Statistisches Bundesamt, 2021). Demnach werden in den nächsten 15 Jahren ca. 12,9 Millionen Erwerbstätige in den Ruhestand gehen. Dies entspricht 30 Prozent der 2021 auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestandenen Erwerbspersonen (FAZ, 2022). Das be­deutet, dass es immer weniger Jüngere im erwerbsfähigen Alter geben wird und immer mehr ältere Menschen, die kurz vor dem Renteneintrittsalter stehen. Somit altert nicht nur das Individuum an sich - sondern unsere gesamte Gesellschaft (Gellert, Kesselmann & Wilke, 2018). Aufgrund dieser Entwicklungen herrscht bereits heute ein akuter Fachkräf­temangel in Deutschland, welcher in Zukunft weiter zunehmen wird.

Das deutsche Rentensystem gerät aufgrund des demografischen Wandels zunehmend un­ter Druck. Aktuell stehen einem Altersrentner 1,8 Beitragszahler gegenüber. Zu Beginn der 1960er Jahre war das Verhältnis deutlich ausgeglichener: damals kamen auf einen Altersrentner sechs aktiv versicherte Erwerbstätige. Da die Babyboom-Generation dem­nächst in Rente gehen wird, wird das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenbeziehen­den in Zukunft weiter abnehmen (Janson, 2021). Um diesen Folgen entgegenzuwirken hat die Bundesregierung im Jahr 2010 die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre festgelegt.

Die dynamischen Entwicklungen in der heutigen Arbeitswelt tragen dazu bei, dass ältere Beschäftigte zahlreichen betrieblichen Veränderungen und Herausforderungen unterlie­gen. Stichworte bilden hier unter anderem die Begriffe Globalisierung, Rationalisierung und die zunehmende Dienstleistungsorientierung (Frerichs, 2015). Durch diese prägen­den Veränderungen steigen die Anforderungen und die Arbeitsbelastungen in der heuti­gen Arbeitswelt. Hinzu kommt, dass die Anfälligkeit für die Entwicklung von chroni­schen Erkrankungen mit steigendem Alter zunimmt, sodass auch die Fehlzeiten steigen. 2021 lag der durchschnittliche Krankenstand in der gesetzlichen Krankenversicherung bei ca. 4,34 Prozent. Somit ist der Wert seit dem jüngsten Tiefstand im Jahr 2007 (3,22%) in den letzten Jahren um rund 1,2 Prozentpunkte gestiegen (Statista, 2022a). Muskelske­letterkrankungen liegen mit 23,2 Prozent an der Spitze, dicht gefolgt von psychischen Erkrankungen mit 19 Prozent und Verletzungen mit 12,4 Prozent (Statista, 2022e).

Fehlzeiten haben enorme Auswirkungen auf das Gesamtunternehmen und sind sowohl für die Betriebe als auch für die gesamte Volkswirtschaft mit hohen Kosten verbunden. Gleichermaßen stellt sich die Frage, ob die Beschäftigten es überhaupt gesundheitlich schaffen, bis zum 67. Lebensjahr zu arbeiten - oder ob sie vorzeitig aus dem Erwerbsle­ben aussteigen müssen. Unternehmen, die langfristig wettbewerbsfähig bleiben wollen, müssen das Thema Gesundheit daher dringend in ihre strategische Unternehmensplanung einbeziehen und auf allen Ebenen implementieren. Eine Möglichkeit dies zu tun, stellt das betriebliche Gesundheitsmanagement dar. Das Ziel dabei ist es, die betrieblichen Rahmenbedingungen gesundheitsgerecht zu gestalten und darüber hinaus ein gesund­heitsförderliches Verhalten der Mitarbeiter an ihrem Arbeitsplatz zu schaffen (Petzi & Kattwinkel, 2016).

In diesem systematischen Review wird beleuchtet, welche Bedeutung dem betrieblichen Gesundheitsmanagement aufgrund des demografischen Wandels in der heutigen Arbeits­welt zugeschrieben wird. Zu Beginn der Arbeit werden die theoretischen Grundlagen zum Thema Demografie behandelt und die demografische Entwicklung Deutschlands darge­stellt. Anschließend werden die sich daraus ergebenen Folgen für den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft aufgezeigt. Im folgenden Kapitel wird das Verständnis von Gesundheit sowie die Veränderungsprozesse im Laufe des Alterns erläutert. Auf dieser Basis folgt anschließend die Darstellung aller relevanter Grundlagen zum betrieblichen Gesundheits­management und dessen Handlungsfelder. Schließlich erfolgt im Methodikteil die Be­schreibung des Suchprozesses. Anhand der im Ergebnisteil vorgestellten Studien, werden Möglichkeiten zum Erhalt der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit von älteren Mitar­beitern aufgezeigt und bewertet. Die aufgestellten Forschungsfragen werden anhand von verschiedenen Studienergebnissen diskutiert und beantwortet.

2 Zielsetzung

Der demografische Wandel nimmt einen immer wichtigeren Stellenwert in unserer Ge­sellschaft ein. Politiker und Unternehmer stellen sich die Frage, wie sie mit den Folgen des demografischen Wandels umgehen sollen und die Beschäftigungsfähigkeit bis zum Renteneintritt ermöglichen können. Das betriebliche Gesundheitsmanagement gilt als zentrales Instrument, um den Entwicklungen und Herausforderungen der heutigen Ar­beitswelt zu begegnen. Ziel dieser Arbeit ist es, anhand einer systematischen Literatur­recherche und -auswertung verschiedene Möglichkeiten zum Erhalt der Arbeits- und Be­schäftigungsfähigkeit zu identifizieren. Zudem soll herausgearbeitet werden, welche Be­deutung der Implementierung eines betrieblichen Gesundheitsmanagements im Zuge des fortschreitenden demografischen Wandels zukommt.

3 Gegenwärtiger Kenntnisstand

In diesem Kapitel werden zunächst die theoretischen Grundlagen zum Thema Demogra­fie und demografischer Wandel dargestellt. Anschließend werden dessen Folgen für den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft aufgezeigt. Im Zuge dessen wird das Thema „Betriebli­ches Gesundheitsmanagement“ detailliert beleuchtet.

3.1 Der demografische Wandel in Deutschland

Die Frage „Wie viele sind wir?“ beschäftigt Regierungen bereits seit dem Altertum. Sie bildet die Grundlage der Demografie, welche sich mit der Entwicklung der Bevölkerung und ihrer Strukturen beschäftigt. Neben der Gesamtgröße der Bevölkerung, ihrer alters­mäßigen Zusammensetzung und der geografischen Verteilung sind die sozialen Faktoren sowie die Umweltfaktoren zu nennen, die für eine demografische Veränderungen verant­wortlich sein können (Zwahlen, Egger & Siegrist, 2012, S. 52). Es geht demnach nicht nur um die reine Bevölkerungszahl, sondern auch darum, wie diese entsteht. Um die de­mografische Entwicklung eines Landes nachvollziehen zu können, müssen die einzelnen Komponenten, aus welchen sich eine Demografie zusammensetzt, betrachtet werden. Die Geburtenrate, die Sterblichkeit bzw. Lebenserwartung sowie die Zu- oder Auswanderun­gen, gelten als zentrale Faktoren für die demografische Entwicklung (bpb, 2017). Diese werden im Folgenden näher dargestellt.

3.1.1 Geburtenzahlen

Geburtenzahlen gelten als Planungsgrundlage für Kinderbetreuung, Schulen, Ausbil- dungs- und Studienplätze bis hin zur Rentensicherheit. Zudem sind sie einer der wich­tigsten Faktoren des demografischen Wandels in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2022d). Man unterscheidet die Geburtenziffer zwischen der altersspezifischen Geburten­ziffer und der zusammengefassten Geburtenziffer. Bei der altersspezifischen Geburten­ziffer wird die Geburtenhäufigkeit für jedes Alter der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren ermittelt. Anschließend werden die innerhalb eines Kalenderjahres geborenen Kinder von Müttern eines bestimmten Alters auf alle Frauen dieses Alters bezogen. Der errechnete Wert gibt an, wie viele Kinder durchschnittlich von Frauen eines bestimmten Alters ge­boren werden (Statistisches Bundesamt, 2022b).

Die zusammengefasste Geburtenziffer hingegen (Total Fertility Rate) umfasst die Summe aller altersspezifischen Geburtenziffern der Frauen im Alter von 15- bis 49 Jahren für ein Kalenderjahr. Es handelt sich dabei um eine zusammengesetzte, hypothetische Kennzif­fer, die angibt, wie viele Kinder eine Frau gebären würde, wenn für ihr gesamtes Leben die altersspezifischen Geburtenziffern des jeweils betrachteten Kalenderjahres gelten würden (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, 2022a). Der Nachteil dieser Kenn­zahl besteht darin, dass sie durch das Vorziehen von Geburten in ein niedrigeres oder das Verschieben in ein höheres Lebensalter beeinflusst wird. Demnach wird in den letzten Jahren die tatsächliche Fertilität der Frauen durch die zunehmende Zahl von Geburten im höheren Alter unterschätzt (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, 2022a). Die Kennzahl hat daher einen abstrakten Charakter, da sie die Geburtenhäufigkeit einer mo­dellierten Frauengeneration abbildet und keiner konkreten. Ebenso ist sie frei vom Ein­fluss der jeweiligen Altersstruktur der weiblichen Bevölkerung (Statistisches Bundesamt, 2022b).

Beim Betrachten des Entwicklungsverlaufes der Geburtenziffer in den letzten 120 Jahren zeigt sich ein enormer Rückgang der Geburtenhäufigkeit in Deutschland. Einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland verhältnismäßig hohe Geburtenzah­len. Der sogenannte „Babyboom“ erreichte seinen Höhepunkt im Jahr 1964 mit 1,36 Mil­lionen Geburten (Demografie-Portal, 2022a). Anschließend erfolgte über die Jahre ein enormer Rückgang der Geburten. 2011 wurde mit 663.000 Neugeborenen der historische Tiefstand der Geburtenzahl seit 1946 registriert (Statistisches Bundesamt, 2022d). Diese Entwicklungen können unter anderem auf die Erfindung der Antibabypille im Jahr 1960 zurückgeführt werden. Die Entwicklung des hormonellen Verhütungsmittels hat die Ge­sellschaft der Industrienationen nach dem Zweiten Weltkrieg nachhaltig und entschei­dend geprägt, denn Frauen konnten erstmals ungeplante Schwangerschaften verhindern (Bundeszentrale für politische Bildung, 2015).

Die zusammengefasste Geburtenziffer schwankte lange Zeit zwischen 1,3 bis 1,4 und ist dann bis zum Jahr 2017 auf 1,57 gestiegen. 2020 lag sie bei 1,53 Kindern pro Frau. Dem­nach ist sie nach einem kurzen Anstieg zwischen 2014 und 2016 das vierte Jahr in Folge gesunken (Statistisches Bundesamt, 2022). Der internationale Durchschnitt liegt bei 2,5 lebendgeborenen Kindern je Frau. Damit gehört Deutschland im internationalen Ver­gleich zu den Ländern mit einer geringen Geburtenrate (Deutscher Bundestag, 2016). Die folgende Grafik zeigt die Veränderung der zusammengefassten Geburtenziffern in Deutschland im Zeitverlauf. In den Jahren 1963-1965 hat eine Frau im Durchschnitt noch 2,5 Kinder zur Welt gebracht. Anschließend fiel diese rapide ab und pendelte sich dann in den letzten Jahren bei 1,5 Kindern je Frau ein (Statistisches Bundesamt, 2022).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das sogenannte „Bestaiidhaltungsniveau“ gibt die durchschnittliche Kinderzahl an, die benötigt wird, um den derzeitigen Bevölkerungsstand bei den gegebenen Sterblichkeits­verhältnissen konstant zu halten. Dieses liegt in den modernen Industrieländern im Diuchschnitt bei 2,1 Kindern je Frau (Bundeszentrale für politische Bildung, 2014). Ge­bären 1000 Frauen eines Geburtsjahrgangs im Laufe ihres Lebens weniger als 2100 Kin­der, so wird langfristig die Zahl der Geburten die Zahl der Sterbefälle nicht mein ausglei­chen und die Bevölkerungszahl wird schrumpfen. Diese Entwicklung, auch genannt als „natürlicher Saldo“, ist in Deutschland bereits seit Mitte der 1970er Jahre der Fall. (Max- Planck-Institut, 2022). In Abb. 2 werden diese Entwicklungen verdeutlicht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der heutigen Zeit erleben Familien einen starken Wandel der Lebensformen und Ar­beitsteilungsmodellen. Herausforderungen, wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die gestiegenen Ansprüche an das Eltemdasein sowie die Realisierung von Kindeiwün­schen im fortgesclnittenen Alter spielen heute eine immer größere Rolle und beeinflussen die Kindeiplanung von vielen Paaren (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, 2022b).

3.1.2 Die Lebenserwartung

Ein weiterer Faktor, welcher die demografische Entwicklung der Bevölkerung beein­flusst, ist die Lebenserwartung. Sie gilt als Maß zur Standardisierung der Sterblichkeits­verhältnisse eines oder mehrerer Kaiendeijahre. Die Lebenserwartung gibt an, wie viele Jalne eine Person in einem gewissen Alter durchschnittlich noch zu leben hat. Unterschie­den wird dabei zwischen der Lebenserwartung bei Geburt sowie der ferneren Lebenser­wartung (Zahl der in einem bestimmten Lebensjalu noch zu eiwartenden Lebensjahre) (Max-Planck-Institut, 2022).

Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt hat sich im Laufe der Jahrhunderte enorm verändert. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist dieser Wert stark angestiegen.

Zwischen 1871-1881 und 1949-1951 erhöhte sich die Lebenserwartung bei Geburt für Männer um 29 Jahre und für Frauen um 30 Jahre. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­derts bis ins 21. Jahrhundert, von 1949-1951 bis 2018-2020, erhöhte sich dieser Weit erneut. Die Lebenserwartung fiir Männer stieg um 14,1 Jahre und für Frauen um 14,9 Jahre. Heutzutage liegt die Lebenserwartung neugeborener Jungen bei 78,6 und die der Mädchen bei 83,4. Demnach hat sich die Lebenserwartung seit dem 19. Jahrhundert enorm entwickelt und sich gegenüber der 1970er Jahre mehr als verdoppelt (Statistisches Bundesamt, 2022c).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Entwicklung der Lebenserwartung bei Geburt in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2021)

Ebenso die feinere Lebenserwartung in den höheren Altersjahren ist stark gestiegen. Während die 65-jährigen Männer im Jahr 1871-1881 im Durchschnitt noch 9,6 Jahre zu leben hatten, waren es 2018-2020 im Schnitt noch 17,9 Jahre. Frauen leben im Schnitt noch länger: während die 65-jährigen Frauen im Zeitraum von 1971-1881 noch circa zehn Jahre zum Leben hatten waren es 2018-2020 noch 21,1 Jahre, die ihnen verblieben (Sta­tistisches Bundesamt, 2022c).

Ausschlaggebende Gründe für die gestiegene Lebenserwartung sind Fortschritte in der medizinischen Versorgung, Hygiene, Ernährungs- und Wohnsituation, verbesserte Ar­beitsbedingungen und gestiegener Wohlstand (Statistisches Bundesamt, 2022c). Im 19. Jahrhundert spielten die Kindersterblichkeit und Infektionskrankheiten eine große Rolle für die Gesellschaft, welche jedoch mit der Zeit zurückgedrängt wurden. Heutzutage hin­gegen ermöglichen Präventions- und Therapieangebote von typischen Altersleiden wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs eine längere Lebensdauer (Statista, 2022b).

Wissenschaftliche Prognosen gehen davon aus, dass die Lebenserwartung auch in Zu­kunft weiterhin steigen wird. In der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung wurden diesbezüglich verschiedene Annahmen getroffen. Es wird davon ausgegangen, dass die Lebenserwartung bei Geburt bis 2060 bei Männern um +4 bis +8 Jahre und bei Frauen um +3 bis +6 Jahren steigen wird. Diese Annahmen werden getroffen, da verbes­serte Lebensumstände, rückläufige Raucherquoten und Alkoholkonsum sowie weitere Verbesserungen in der medizinischen Versorgung zukünftig den weiteren Anstieg der Lebenserwartung positiv beeinflussen werden (Statistisches Bundesamt, 2022c).

3.1.3 Wanderungsbewegungen

Neben der natürlichen Bevölkerungsentwicklung eines Landes durch Geburten und Ster­befälle beeinflussen Migrationsbewegungen die Demografie. In den letzten Jahrzehnten hat die Diversität und Multikulturalität in Deutschland stark zugenommen, da die Bevöl­kerung unter anderem demografisch, soziokulturell und räumlich heterogener geworden ist. Der fortschreitende demografische Wandel und die Migration aus dem Ausland haben wesentlich dazu beigetragen (Swiaczny, 2016).

Seit Ende der 1950er Jahre ziehen im Schnitt mehr Menschen aus dem Ausland in die Bundesrepublik als im gleichen Jahr das Land verlassen. Dieses sogenannte positive Au­ßenwanderungssaldo sorgte in den letzten Jahrzehnten für ein Bevölkerungswachstum in Deutschland (Demografie-Portal, 2022b). Die erste größere Zuwanderungsphase in Deutschland gab es aufgrund der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in den 1960er bis Anfang der 1970er Jahren. Diese kamen zum größten Teil aus dem südlichen Europa, der Türkei sowie dem ehemaligen Jugoslawien. Im Jahr 1973 rief die Bundesrepublik erstmals ein Anwerbestopp aus, welches zur Folge hatte, dass nur noch Familiennachzüg­ler der Migranten nach Deutschland kommen durften. Eine erneute Zuwanderungswelle setzte in den späten 1980er- und frühen 1990er Jahren ein. Diese war gekennzeichnet von Flüchtlingen und Asylbewerbern aus Osteuropa und zunehmend auch aus weniger entwi­ckelten Ländern (Demografie-Portal, 2022b). In Folge der Wirtschaftskrise nahm die Zu­wanderung aus anderen EU-Staaten stark zu. Unter ihnen waren viele qualifizierte Ar­beitskräfte, was sich wiederum positiv auf die deutsche Wirtschaft auswir kte (Swiaczny, 2016).

Seit 2010 ist erneut eine Zunahme der Zuwanderungen zu beobachten. Diese beruht da­rauf, dass viele Menschen aus Ost- und Südeuropa einwandem, deren Motive hauptsäch­lich wirtschaftlich geprägt sind. Zum anderen stieg die Zahl der Schutzsuchenden aus Kr iegsgebieten in den letzten Jahren enorm an, insbesondere von syrischen Flüchtlingen. 2015 erreichten die Zuwanderungsbewegungen ihren Höhepunkt mit 2,1 Millionen Zu­zügen und 1 Million Fortzügen. Dieser sogenannte „Wanderungsgewinn“ von 1,1 Milli­onen war- der höchste in der deutschen Geschichte. 2020 lag dieser Wert bei plus 220.000 und somit wieder irn langfristigen Durchschnitt (Demografie-Portal, 2022b). Die fol­gende Abbildung verdeutlicht die Schwankungen des Wanderungssaldos und die enorme Zunahme der Einwanderungen irn Jain 2015.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Wanderungsbewegungen zwischen Deutschland und dem Ausland 1950-2020 (Demografie-Portal, 2022)

Seit dem Ausbruch des Krieges zwischen Russland und der Ukraine am 24. Februar 2022 sind die Zahlen der Zuwanderungen erneut stark gestiegen. Bis Ende April 2022 sind bereits 610.103 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland aufgenommen worden (Statista, 2022c). Die Zahl wird sich in den kommenden Monaten weiterhin erhöhen. Nach Angaben des Kommissars für Krisenmanagement der Europäischen Kommission Janez Lenarcic könnten infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine möglicherweise mehr als sieben Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen aus dem Land fliehen. Wie viele Menschen davon in Deutschland unterkommen werden ist noch unklar (Statista, 2022c).

3.1.4 Bevölkerungsentwicklung in Deutschland

Der Bevölkerungsstand eines Landes wird demnach beeinflusst durch die natürliche Be­völkerungsentwicklung (Saldo zwischen Lebendgeburten und Sterbefällen) sowie dem Wanderungssaldo (Saldo zwischen Zu- und Abwanderung), der über die Grenzen Deutschlands hinaus stattfindet. Der Anteil dieser Faktoren hat sich im Zeitverlauf enorm verändert und unterscheidet sich ebenso von Land zu Land. Seit 1972 übersteigt in Deutschland die Zahl der Gestorbenen die Anzahl der Lebendgeborenen. Besonders in den letzten zehn Jahren fiel der Überschuss der Gestorbenen überdurchschnittlich hoch aus (Bundeszentrale für politische Bildung, 2020). 2018 starben insgesamt 954.000 Men­schen und 787.500 Säuglinge wurden geboren. Somit sind 167.400 mehr Menschen ge­storben als geboren wurden. Im Jahr 2013 gab es mit knapp 212.000 den bislang größten Überschuss an Gestorbenen (Bundeszentrale für politische Bildung, 2020).

Aus diesem Grund ist die Zuwanderung von ausländischen Einwanderern seit den 1970er Jahren für die Bundesrepublik enorm wichtig geworden. Ohne einen positiven Wande­rungssaldo, der diese negative natürliche Bevölkerungsbilanz kompensiert, würde die deutsche Bevölkerungszahl bereit seit über 40 Jahren schrumpfen. Im Zeitraum von 1981 bis 1985 gab es einen negativen Wanderungssaldo, sprich mehr Fort- als Zuzüge. Von 1961 bis 1965 und 1966 bis 1970 summierten sich die positive natürliche Bevölkerungs­entwicklung und der positive Wanderungssaldo und die Bevölkerung ist gewachsen (Bundeszentrale für politische Bildung, 2020). Die folgende Abbildung verdeutlicht diese Entwicklungen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: Natürliche Bevölkerungsentwicklung und Wanderungssaldo in Deutschland, 1961 bis 2018 (Eu­rostat: Online-Datenbank: Demographische Veränderung. 2020)

In den Jahren 2011 bis 2018 nahm die Bevölkerungszahl wieder zu, da der Wanderungs­saldo die negative Differenz zwischen den Lebendgeburten und Sterbefallen überkom­pensiert hat (Statistisches Bundesamt, 2022a). Auf einen Höchststand der Bevölkerungs­zahl im Jahr 2002 folgte erneut ein Rückgang. Zwischen 2002 und 2010 fiel der Wert von 82,5 auf 81,8 Millionen. Seit 2011 ist der positive Wanderungssaldo jährlich deutlich höher gewesen als der Rückgang, der sich aus dem natürlichen Saldo ergeben hat. Ohne die Zuwanderung wäre die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik im Zeitraum von 2011 bis 2018 um 1,4 Millionen gesunken. Da jedoch 4,2 Millionen Menschen mein ein- als auswanderten, stieg die Bevölkerungszahl um 2,8 Millionen (Bundeszentrale für politi­sche Bildung, 2020).

Zukünftig ist zu erwarten, dass die Sterbefalle - trotz steigender Lebenserwartung - weiter zunehmen werden, da die zahlenmäßig starken Jahrgänge aus der Babyboom-Generation ins hohe Lebensalter hineinwachsen (Statistisches Bundesamt, 2022a). Ebenso wird es in den kommenden 20 Jahren vermutlich weniger potenzielle Mütter geben, da dann die schwach besetzten 1990er Jahrgänge im gebärfahigen Alter sein werden. Als Folge des­sen werden die Geburtenzahlen weiter abnehmen und die Schere zwischen Gestorbenen und Geborenen wird weiter aufgehen (Bundeszentrale für politische Bildung, 2020).

In der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wurden diesbezüglich verschiedene Annahmen aufgestellt. Ohne die Nettozuwanderung und bei einer moderaten Entwicklung der Geburtenhäufigkeit sowie der Lebenserwartung würde das Geburtendefizit zwischen 2018 und 2054 von 167.000 auf 530.000 steigen und anschließend leicht sinken. Ebenso wird das Geburtendefizit in der Zukunft durch die Nettozuwanderung mehr oder weniger stark vermindert. Eine weitere Annahme betrifft die Entwicklung der Bevölkerungszahl. Bei mäßigen Veränderungen der Geburtenhäu­figkeit und der Lebenserwartung bis 2060 sowie einem positiven Wanderungssaldo von ca. 221.000 Personen pro Jahr wird die Bevölkerungszahl bis 2024 auf 83,7 Millionen steigen und anschließend bis 2060 kontinuierlich auf 78,2 Millionen sinken (Statistisches Bundesamt, 2019).

3.1.5 Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Arbeitswelt

Für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ist von Bedeutung, wie sich der demografische Wandel auf den Arbeitsmarkt auswirkt. Die Bevölkerungszahl und ihre Altersstruktur bestimmen das potenziell ausschöpfbare Arbeitskräfteangebot ei­ner Volkswirtschaft und somit auch weitere Faktoren wie die Produktivität und ihr Wachstumspotenzial. Damit die Finanzierung der Renten-, Kranken- und Arbeitslosen­versicherungsleistungen sichergestellt ist, sind die Sozialversicherungssysteme auf eine ausreichende Zahl an Beitragszahlern und somit sozialversicherungspflichtigen Beschäf­tigten angewiesen (Wilke, 2016). Entscheidend für den Arbeitsmarkt ist die Entwicklung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. 2018 gab es 53,8 Millionen Menschen im er­werbsfähigen Alter zwischen 20 und 66 Jahren. Aufgrund der demografischen Entwick­lungen wird die erwerbsfähige Bevölkerung bis zum Jahr 2035 um rund vier bis sechs Millionen auf 45,8 bis 47,4 Millionen schrumpfen. Anschließend wird sie sich zunächst stabilisieren und dann bis zum Jahr 2060 je nach Höhe der Nettozuwanderung auf 40 bis 46 Millionen sinken (Statistisches Bundesamt, 2019).

Aufgrund der Zuwanderung und der gestiegenen Erwerbsbeteiligung hat das Arbeitskräf­teangebot in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Zwischen 2006 und 2019 erlebte der deutsche Arbeitsmarkt einen starken Aufschwung mit einem Rekordniveau bei der Beschäftigung. 2019 betrug die Beschäftigung 45,3 Millionen, dies entsprach zu der Zeit 95 Prozent des Erwerbspersonenpotenzials (Klinger & Fuchs, 2020). Dies sorgte für ei­nen Rückgang der Arbeitslosigkeit und einen Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten. Der Anteil der Erwerbsbeteiligung von Älteren und Ausländern ist dabei überdurchschnittlich gestiegen (Bundesagentur für Arbeit, 2020). Diese Zahlen verdeut­lichen, wie wichtig die berufliche Eingliederung von Migranten für die deutsche Wirt­schaft ist.

Das Phänomen der „alternden Bevölkerung“ in Deutschland wird sich in den nächsten Jahren trotz hoher Nettozuwanderung und leicht gestiegener Geburtenzahlen weiter ver­stärken. Durch den aktuellen Altersaufbau der Gesellschaft ist in den nächsten 20 Jahren mit einem Rückgang der erwerbsfähigen Personen sowie einem Anstieg der Seniorenzahl zu rechnen. Das sind die zentralen Ergebnisse der 14. koordinierten Bevölkerungsvoraus­berechnung, die das Statistische Bundesamt in einer Pressekonferenz am 27. Juni 2019 in Berlin vorgestellt hat (Statistisches Bundesamt, 2019).

Aufgrund dieser Entwicklungen ist die Fachkräftesituation in deutschen Unternehmen bereits seit einigen Jahren sehr angespannt. In einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags im Jahr 2020 berichtete fast jedes zweite (47 Prozent) der 23.000 befragten Unternehmen von Stellenbesetzungsschwierigkeiten. Sie konnten ihre offenen Stellen längerfristig nicht besetzen, da keine passenden Arbeitskräfte gefunden wurden. 84 Prozent der Unternehmen rechnen mit negativen Folgen durch den lang andauernden Fachkräftemangel. Weitere 62 Prozent erwarten eine Mehrbelastung der Belegschaft, wenn gesunde Fachkräfte fehlen (Deutscher Industrie- und Handelskammertag, 2020). Die Lage unterscheidet sich je nach Branche, Region, Berufsbild und Qualifikation. Be­sonders betroffen sind Berufe in den Bereichen Sozialarbeit, Erziehung und Pflege. Zu­dem fehlt viel Personal im Handwerk und in der IT-Branche (Hickmann & Koneberg, 2022).

Durch die dargestellten Entwicklungen ergeben sich verheerende Folgen für die wirt­schaftliche Entwicklung der Volkswirtschaft und es entsteht ein produktivitätsdämpfen­der Effekt (Bertelsmann Stiftung, 2019). Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung wird sich das Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um voraussichtlich 274 Mil­liarden Euro insgesamt und rund 3.700 Euro pro Kopf reduzieren. Im internationalen Ver­gleich wird Deutschland die dritthöchsten Einbußen des Pro-Kopf-Einkommens (3.716 Euro) verkraften müssen. Lediglich in Japan (6.467 Euro) und Österreich (4.223 Euro) werden die Einbuße noch höher ausfallen. Die Gründe für diese Entwicklung liegen in den sehr niedrigen Geburtenzahlen der letzten Jahrzehnte. Als Folge dessen wird die Er­wirtschaftung des deutschen Wohlstandes in Zukunft auf immer weniger Schultern lasten (Bertelsmann Stiftung, 2019).

Auch das deutsche Rentensystem gerät aufgrund des demografischen Wandels zuneh­mend unter Druck. Aktuell stehen einem Altersrentner 1,8 Beitragszahler gegenüber. Zu Beginn der 1960er Jahre war das Verhältnis deutlich ausgeglichener: damals kamen auf einen Altersrentner sechs aktiv versicherte Erwerbstätige. Da die Babyboom-Generation demnächst in Rente gehen wird, nimmt das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern in Zukunft weiter ab (Janson, 2021). Bereits Ende 2010 hat die Bundesregierung unter dem Titel „Aufbruch in die altersgerechte Arbeitswelt“ den Bericht nach § 154 Abs. 4 SGB VI zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre vorgelegt. Dies sei laut Bun­desregierung eine wichtige Maßnahme, um dem demografischen Wandel und dem Fach­kräftemangel entgegen zu wirken. Die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung Älterer soll ei­nen Beitrag zur Sicherung des deutschen Wohlstands und zur Stärkung der internationa­len Wettbewerbsfähigkeit leisten (Prümper, 2012). Zunächst beträgt die Anhebung jähr­lich einen Monat, ab 2024 dann zwei Monate. Demnach wird die neue Rentenaltersgrenze von 67 Jahren voraussichtlich im Jahr 2029 erreicht sein (Nerdinger, Wilke, Stracke & Drews, 2016, S. 19).

Neben den Veränderungen der Altersstruktur der Bevölkerung wandeln sich auch viele Tätigkeiten im Zuge der Globalisierung, Technisierung, Dynamisierung und Digitalisie­rung - zusammengefasst unter dem Stichwort „Arbeiten 4.0“. Diese Veränderungen sor­gen für eine Zunahme der Tätigkeiten mit kognitiven, informatorischen und emotionalen Anforderungen, so zum Beispiel im Dienstleistungssektor. Dadurch steigen die psychi­schen Belastungen in diesen Bereichen (Mühlenbrock, 2017). Das klassische Verständnis von Arbeit hinsichtlich Raum, Zeit, Struktur und Hierarchien hat sich dadurch enorm verändert. Die Unternehmen und Beschäftigten werden dadurch vor völlig neue Heraus­forderungen gestellt.

Viele Erwerbstätige schaffen es aus gesundheitlichen Gründen heutzutage gar nicht bis zum vorgegebenen Renteneintrittsalter zu arbeiten und müssen vorzeitig aus dem Berufs­leben ausscheiden. Laut einer Statistik der deutschen Rentenversicherung haben Ende 2020 über 1,82 Millionen Bürger eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente erhalten (Deutsche Rentenversicherung, 2021). Dabei stellen psychische Erkrankungen mit 42 Prozent die häufigste Ursache für den Bezug einer Erwerbsminderungsrente dar (Statista, 2018). Laut der repräsentativen Studie "lidA - leben in der Arbeit" nehmen sieben von zehn Personen der Babyboom-Generation an, nicht bis zu ihrer Regelaltersgrenze arbei­ten zu können. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Erwerbs­gruppen (lidA Studie, 2019). Die Arbeitsbedingungen eines Unternehmens haben ent­scheidenden Einfluss darauf, ob die Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit bis ins höhere Erwerbsalter realisiert werden kann. Demnach muss die zukünftige Arbeitswelt alters­und alternsgerecht sowie gesundheitsfördernd gestaltet werden. Die Förderung der Ar- beits- und Beschäftigungsfähigkeit bis ins hohe Erwerbsalter wird damit zu einer ent­scheidenden Aufgabe von Unternehmen und Beschäftigten (Prümper, 2012).

Um die negativen Folgen der demografischen Alterung für den Arbeitsmarkt und die so­zialen Sicherungssysteme zu dämpfen, wären verschiedene Maßnahmen nötig. Zum ei­nen bräuchte es eine Steigerung der Arbeitsmarktpartizipation von Frauen und Müttern, Geringqualifizierten, bereits im Inland lebenden Migranten und älteren Menschen oder eine Steigerung der Fachkräftezuwanderung. Eine weitere Möglichkeit wären hohe In­vestitionen in die Automatisierung und Digitalisierung. Vor allem jedoch sollten betrieb­liche Maßnahmen, welche die körperliche Fitness, Gesundheit und Leistungsfähigkeit in allen Erwerbsaltersgruppen unterstützen, eingeführt werden. Durch diese Maßnahmen könnte der Erhalt der Produktivität insbesondere im höheren Erwerbsalter gefördert wer­den (Bertelsmann Stiftung, 2019).

Um die Beschäftigten möglichst lange arbeitsfähig im Unternehmen halten zu können, gilt es, sie mit entsprechenden Maßnahmen der Arbeitsgestaltung und des Personalmana­gements auf diese Veränderungen vorzubereiten und entsprechend zu qualifizieren (Müh­lenbrock, 2017). Die zukünftige Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit von Unterneh­men wird maßgeblich davon abhängen, inwieweit es ihnen gelingen wird, mit alternden Belegschaften weiterhin innovativ und produktiv zu sein (Bundesanstalt für Arbeits­schutz und Arbeitsmedizin, 2011).

3.2 Gesundheit und Alter(n)

Die gestiegene Lebenserwartung bietet heutzutage vielen Menschen die Möglichkeit, noch viele Jahre nach Beendigung der Berufs- und Familienphase aktiv am gesellschaft­lichen Leben teilzunehmen. Um die gewonnene Lebenszeit jedoch auch genießen zu kön­nen, ist ein möglichst guter Gesundheitszustand erforderlich. Doch was macht einen gu­ten Gesundheitszustand überhaupt aus? Wie lässt sich Gesundheit als solches definieren? Was verändert sich im Zuge des natürlichen Alterungsprozesses bei dem Menschen? Diese Fragen sollen im folgenden Kapitel geklärt werden.

3.2.1 Verständnis von Gesundheit

Der Begriff „Gesundheit“ beschäftigt die Menschheit bereits seit vielen Jahrhunderten. Dennoch gibt es bis heute keine einheitliche und allgemein anerkannte Definition des Begriffs. Die Schwierigkeit liegt darin, dass Gesundheit individuell und sozial produziert, konstruiert und organisiert wird (Franzkowiak & Hurrelmann, 2022).

Frühere Definitionsversuche waren sehr biologisch behaftet und berücksichtigten weder psychische noch soziale Aspekte. Sie beschrieben Gesundheit als die reine Abwesenheit von Krankheit. Problematisch daran ist jedoch, dass es sich dabei um negative Ansätze handelt und Gesundheit lediglich durch die Abgrenzung von Krankheit bestimmt wird, obwohl der Begriff als solches positiv zu betrachten ist (Franzkowiak & Hurrelmann, 2022). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte 1948 die bis heute bedeut­samste wertebasierte Gesundheitsdefinition:

„Gesundheit ist der Zustand des vollständigen, körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen. Sich des best­möglichen Gesundheitszustandes zu erfreuen ist ein Grundrecht jedes Menschen, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Überzeugung, der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung" (WHO, 1948).

Mit dieser Definition entstand zu seiner Zeit ein neues Konzept von Gesundheit. Es ist demnach ein Zustand, der nicht nur dann erreicht ist, wenn keine Krankheiten und Ein­schränkungen vorliegen. Die Gesundheit wird vielmehr als ein vollständig positiver Zu­stand angesehen. Die Definition umfasst sowohl das körperliche, psychische und soziale Wohlbefinden der Menschen, weshalb sich Gesundheit nicht mehr nur auf ein Individuum konzentriert, sondern auch die Einflüsse der (sozialen) Umwelt betrachtet werden (Roch & Hampel, 2019). Auch wenn die Definition der WHO zu damaligen Zeiten bahnbre­chend war, steht sie aufgrund des dichotomen Charakters häufig unter Kritik. Die Defi­nition grenzt die zwei Zustände „Gesundheit“ und „Krankheit“ klar voneinander ab, wie ein Lichtschalter der entweder ein- oder ausgeschaltet ist. Die verschiedenen Stadien zwi­schen Gesundheit und Krankheit werden jedoch nicht berücksichtigt (Roch & Hampel, 2019). Außerdem lässt die Definition außer Acht, dass es sich bei Gesundheit um einen dynamischen Prozess handelt, der immer wieder neu erreicht, wiederhergestellt und auf­rechterhalten werden muss (Vögele, 2013).

Es ist zudem fraglich, ob die Definition der WHO heute aufgrund der demografischen Entwicklungen in den meisten Ländern, einhergehend mit dem wachsenden Altersdurch­schnitt und den damit steigenden Anfälligkeiten für altersassoziierte chronische Krank­heiten und psychische Störungen bereits überholt ist. Laut WHO-Definition wäre dem­nach heutzutage nur noch eine Minderheit der Bevölkerung als gesund einzustufen, denn die überwiegende Mehrheit leidet nicht nur an einer Erkrankung, sondern gleich an meh­reren, auch „Multimorbidität genannt (Vögele, 2013).

Der britische Medizinethiker und -philosoph D. Seedhouse arbeitete 1986 vier charakte­ristische wissenschaftliche Kernvorstellungen für Gesundheit heraus (Seedhouse, 1986):

- Idealzustand mit völligem Wohlbefinden ohne jede körperliche, psychische und soziale Störung
- Persönliche Stärke, die auf körperlichen und psychischen Eigenschaften beruht
- Leistungsfähigkeit zur Erfüllung von gesellschaftlichen Anforderungen, insbe­sondere von alltäglichen Rollenverpflichtungen
- Gebrauchsgut (Ware), das hergestellt und „eingekauft“ werden kann

Die deutsche Psychologin Alexa Franke versuchte 2012 den Begriff „Gesundheit“ in fünf verschiedene Dimensionen zu unterteilen. Diese werden in der folgenden Tabelle darge­stellt.

Tab. 1: Dimensionen des Gesundheitsbegriffs (Franke, 2012, S. 38-50)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie bereits dargestellt wurde, gibt es viele unterschiedliche Definitionsansätze und Be­trachtungsweisen zum Thema Gesundheit. Aus diesem Grund fällt auch die individuelle Bewertung eines jeden Menschen diesbezüglich unterschiedlich aus. Die Bewertungs­möglichkeiten werden in Tab. 2 dargestellt.

Tab. 2: Wertungsmöglichkeiten von Gesundheit (Franke, 2012, S. 51-57)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie die Tabelle deutlich macht, gibt es zahlreiche Einstellungen zum Wert von Gesund­heit. Diese reichen von Gesundheit als höchstes Gut, bis hin dazu, dass Gesundheit für einige eine eher lästige Pflicht darstellt. Jeder Mensch hat seine individuelle Sichtweise und Einstellung zum Thema Gesundheit und gestaltet seinen Lebensstil nach diesen Wer- ten. Daher gibt es keine richtige oder falsche Sichtweise, sondern lediglich gesundheits­förderliche- oder eher schädigende Sichtweisen. Schlussendlich wird durch diese Kom­plexität deutlich, dass sowohl körperliche, psychische und soziale Aspekte von Bedeu­tung sind, um den Begriff von Gesundheit in der Arbeitswelt zu definieren. In dieser Masterarbeit wird „Gesundheit“ daher als multidimensionaler Zustand des körperlichen und geistigen Wohlbefindens verstanden, der immer wieder ins Gleichgewicht gebracht werden muss.

3.2.2 Altern und Leistungsfähigkeit

Der Begriff des Alterns bezieht sich auf jene Veränderungsprozesse, die sich im Laufe des fortschreitenden Lebensalters abspielen (Baltes & Baltes, 1994). Innerhalb der ver­schiedenen Wissenschaftsdisziplinen gibt es unterschiedlichste Auffassungen darüber, was unter alterungsbezogenen Prozessen verstanden wird. Vor allem die Biologie, Psy­chologie und Soziologie unterscheiden sich deutlich darin. Nach der biologischen Auf­fassung werden unter Alterungsprozessen jene Veränderungen definiert, die mit der Re­produktionsphase bzw. Fortpflanzungsphase einsetzen und eine Abnahme der Anpas­sungsfähigkeit des Organismus mit sich bringen (Böhm, Tesch-Römer & Ziese, 2009). Der amerikanische Professor Steven Austad definiert das biologische Altern als einen Prozess intrinsischen, fortschreitenden und generellen körperlichen Abbaus, der ungefähr im Alter der Geschlechtsreife beginnt (Austad, 2001).

Obwohl so gut wie alle lebenden Organismen auf natürliche Weise im Laufe der Zeit altern, läuft dieser Prozess individuell sehr unterschiedlich ab. Laut Vertretern der biolo­gischen Altersforschung bringt das Altern zwar eine erhöhte „Vulnerabilität“ (Verletz­lichkeit, Anfälligkeit) des Organismus mit sich, jedoch ist es nicht mit Krankheit gleich­zusetzen. Andere Vertreter der Alternsbiologie hingegen gehen davon aus, dass mit zu­nehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit zu erkranken (Morbidität) und zu sterben (Mor­talität) exponentiell zunimmt (Böhm, Tesch-Römer & Ziese, 2009).

Während die biologischen Definitionsansätze des Alterns eher einen verlustbetonten Cha­rakter aufweisen, betrachtet die Psychologie es als ein multidimensionales Bild der Ver­änderungsprozesse im höheren Erwachsenenalter. Aus der Sichtweise der Entwicklungs­psychologie ist das Altern nicht nur durch Verluste, sondern gleichermaßen auch durch Gewinne gekennzeichnet (Böhm, Tesch-Römer & Ziese, 2009). Die sogenannte Geron- topsychologie, auch „Psychologie des Alterns“ genannt, bezieht sich auf die Entwick­lungs- und Veränderungsprozesse des Alterns. Dabei wird speziell die Altersgruppe der über 60-jährigen Menschen betrachtet (Martin & Kliegel, 2014, S. 14). Veränderungspro­zesse des Menschen finden über die gesamte hinweg statt und sorgen dafür, dass sich die Gruppe der älteren Personen in vielerlei Hinsicht von den jüngeren Menschen unterschei­det. Beispielsweise gehen ältere Menschen aufgrund ihrer Lebenserfahrung anders mit Problemsituationen um oder sehnen sich nach neuen Lebensaufgaben (Martin & Kliegel, 2014).

Mit den sogenannten „Altersselbstbildern“ werden Vorstellungen beschrieben, die die Menschen von ihrem eigenen Älterwerden haben. Einige Menschen blicken hoffnungs­voll in die Zukunft und freuen sich auf die Freiheiten des Alters, auf Weiterentwicklungs­möglichkeiten oder auf die zunehmende Weisheit. Bei dieser gewinnorientierten Sicht­weise wird das eigene Älterwerden mit Möglichkeiten persönlicher Weiterentwicklung verknüpft (Spuling, Wettstein & Tesch-Römer, 2020, S. 5). Bei anderen Menschen hin­gegen ist das eigene Älterwerden mit Ängsten und Sorgen verbunden, da sich die eigene Gesundheit verschlechtern- oder man geliebte Menschen verlieren könnte. Bei dieser ver­lustorientierten Sicht wird das Älterwerden mit körperlichen Verlusten verbunden (Spu­ling, Wettstein & Tesch-Römer, 2020, S. 5). Wie Menschen ihr eigenes Altern wahrneh­men, ist neben objektiven Lebensbedingungen wie der Gesundheit, dem Einkommen oder den Haushalts- und Familienstrukturen ein wichtiger Aspekt zur Beschreibung der Le­benssituation von Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Individuelle Altersbilder geben Aufschluss darüber, welche Vorstellungen eine Person vom Alter als Lebensphase, vom Prozess des Älterwerdens sowie von älteren Menschen als soziale Gruppe hat (Beyer, Wurm & Wolff, 2017, S. 330).

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Ende der Leseprobe aus 89 Seiten

Details

Titel
Betriebliches Gesundheitsmanagement und der demografische Wandel
Hochschule
Deutsche Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement GmbH  (DHfPG / BSA-Akademie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2022
Seiten
89
Katalognummer
V1321427
ISBN (Buch)
9783346803351
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gesundheitsmanagement, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Demografischer Wandel, Prävention, Gesundheit, Public Health, Beschäftigungsfähigkeit, Arbeitsfähigkeit, Arbeitsschutz, Leistungsfähigkeit im Alter, Betriebliche Gesundheitsförderung, psychische Gesundheit, BGM
Arbeit zitieren
Lisann Schüttler (Autor:in), 2022, Betriebliches Gesundheitsmanagement und der demografische Wandel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1321427

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