Kindesmisshandlungen im sozialpädagogischen Kontext. Wie gehe ich als Sozialpädagogin mit Kindesmisshandlungen um?


Seminararbeit, 2023

31 Seiten


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Rahmenbedingungen Sozialpädagogik nach Gertrud Bäumer

3 Rahmenbedingungen Kindesmisshandlung
3.1 Kindesmisshandlung
3.2 Rechtliche Grundlagen nach dem SGB VIII
3.3 Typologien von Kindesmisshandlung
3.3.1 Körperliche/ Physische Misshandlung
3.3.2 Sexuelle Misshandlung
3.3.3 Seelische/ Psychische Misshandlung
3.3.4 Vernachlässigung
3.4 Symptome und Hinweise auf Kindesmisshandlung
3.4.1 Körperliche/ Physische Misshandlung
3.4.2 Sexuelle Misshandlung
3.4.3 Vernachlässigung
3.4.4 Seelische/ Psychische Misshandlung

4 Professionelle Verhaltensempfehlung bei Verdachtsfällen
4.1 Baustein: Wahrnehmung
4.2 Baustein: Wahrung
4.3 Baustein: Handlung

5 Fallbeispiel: Emmi

6 Limitationen

7 Resümee

Literatur- und Quellenverzeichnis

1 Einleitung

Nach § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, Achtung ihrer Würde, auf körperliche und seeli­sche Unversehrtheit, auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit und auf den Schutz des Staates. Dementsprechend trägt jeder einzelne Verantwortung dafür, dass die Kin­der in Familien misshandlungsfrei aufwachsen und sich bestmöglich entwickeln und entfalten können. Demzufolge sind beispielsweise körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen unzulässig. Den­noch kam es, laut der Statistik der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes, im Jahr 2021 insgesamt zu 3.599 Kindesmisshandlungsfällen. Dadurch wird deutlich, dass die Zahlen der Misshandlungsfällen im Vergleich zum Jahr 2020 leicht zurückgegangen sind. Insgesamt gab es 4.465 Opfer, von denen 55,9% männlich und 44,1% weiblich waren, mit einer Aufklärungsrate von 96,6%. Jedoch bezieht sich diese Aufklärungsrate nur auf gemeldete Fälle. Deswegen wird davon ausgegangen, dass es bei Kindesmisshandlungsfällen eine hohe Dunkelziffer geben muss, da die Kriminalität hauptsächlich im häuslichen Umfeld stattfindet und die Opfer oft nicht in der Lage sind, auf die Misshandlung aufmerksam zu machen (vgl. Polizeiliche Kriminalprävention, 2019).

Wodurch Kinder darauf angwiesen sind, dass Sozialpädagog*innen in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen angemessen reagieren und verantwortungsbewusst handeln, um sie vor weiterer Misshandlung und Vernachlässigung zu schützen. In Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen stellt Kindesmisshandlung ein komplexes, anspruchsvolles und schwieriges Aufgabenfeld dar. In der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten Sozialpädagog*innen regelmäßig mit Kindern, deren Erziehungsberechtigten und anderen Familienangehörigen zusammen und gehen mit ihnen auf diese Weise eine Erziehungs- und Bindungspartnerschaft ein. Demzufolge stellt der Umgang mit Kindesmisshandlungsverdachtsfällen hohe An­forderungen an die Sensibilität und Professionalität der Sozialpädagog*innen, da­mit die Anzeichen, Hinweise und Symptome auf eine Kindesmisshandlung frühzeitig erkannt und wahrgenommen werden.

In der vorliegenden Arbeit soll exemplarisch dargelegt werden, wie man Kindesmisshandlung erkennen und wahrnehmen kann, sowie wie Sozialpädagog*innen mit Verdachtsfällen umgehen müssen. Wodurch die Grundlage dieser Arbeit die Forschungsfrage: „Kindesmisshandlungen im sozialpädagogischem Kontext - Wie gehe ich als Sozialpädagogin (S) mit Kindesmisshandlungen um?“ ist.

Der Aufbau dieser Arbeit gliedert sich in verschiedene Kapitel und Unterkapitel. Innerhalb der ersten Kapitel bezieht sich die Arbeit auf die Gliederung der Arbeit und die Einleitung. Das zweite Kapitel beleuchtet die Rahmenbedingungen von Sozialpädagogik nach Getrud Bäumer, indem die Definition und die Aufgaben und Ziele von Sozialpädagogik beschrieben werden. Gertrud Bäumer wird dabei angewandt, da sie eine staatliche Fixierung der Sozialpädagogik wollte, damit das Schicksal und die Zukunft der Kinder nicht alleine in der Hand der Familie beziehungsweise Erziehungsberechtigten liegt. Das dritte Kapitel setzt sich mit den theoretischen Grundlagen von Kindesmisshandlung auseinander, damit die Inhalte der Arbeit besser verstanden und nachvollzogen werden können. Demzufolge werden die Definitionen, Rechtlichen Grundlagen und Typologien von Kindesmisshandlung beschrieben. Anschließend werden die Symptome und Hinweise auf Kindesmisshandlung dargelegt. Das vierte Kapitel beinhaltet die Verhaltensempfehlung bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, welche im fünften Kapiel am Fallbeispiel Emmi angewandt werden. Dabei ist zu beachten, dass ich, Sarah Sucher, im Fallbesipiel Emmi die Sozialpädagogin (S) darstelle. Ebenfalls, dass das benannte Kind aus Datenschutz- und Sicherheitsgründen in Emmi umbenannt wurde. Zum Schluss erfolgt ein Resümee, welches eine Zusammenfassung und eine Präsentation der Ergebnisse zur Forschungsfrage beinhaltet.

2 Rahmenbedingungen Sozialpädagogik nach Gertrud Bäumer

Die Frauenrechtlerin und Pädagogin Getrud Bäumer definierte anhand ihrer wis­senschaftstheoretischen Auffassungen den Begriff Sozialpädagogik folgenderma­ßen:

„,Er bezeichnet nicht ein Prinzip, dem die gesamte Pädagogik, sowohl ihre Theorie wie ihre Methoden, wie ihre Anstalten und Werke- also vor allem die Schule - un­terstellt ist, sondern einen Ausschnitt: alles was Erziehung, aber nicht Schule und nicht Familie ist. Sozialpädagogik bedeutet hier den Inbegriff der gesellschaftlichen und staatlichen Erziehungsfürsorge, sofern sie außerhalb der Schule liegt‘ (Bäu­mer 1929a,3).“ (Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, S. 247)

Für Getrud Bäumer ist die Sozialpädagogik eine „gesellschaftliche und staatliche Erziehungsfürsorge“ (Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, S. 247). Wodurch eine Erziehung erbracht wird, welche außerhalb der Schule und der Familie statt­findet. Die Sozialpädagogik greift nach Bäumer ein, wenn der Erziehungsauftrag in beiden „Erziehungsträgern“ (Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, S. 247), Schule und Familie, nicht gewährleitet werden kann. An dem Punkt, wenn der Er­ziehungsauftrag von Seiten der Familie und Schule nicht sichergestellt wird, sieht Gertrud Bäumer die Notwendigkeit des Staates ergänzend einzugreifen. Dadurch übernimmt der Staat die Obervormundschaft der Kinder, bei Ausfall der Leistungen der Familie, beispielsweise in der Waisenfürsorge für Kinder ohne Eltern und in der Vormundschaft für Kinder mit fehlendem Elternteil. Auch bei Kindernot über­nimmt der Staat die Obervormundschaft, hierbei unterscheidet Bäumer zwischen verschiedenen Unzulänglichkeiten, beispielsweise Unzulänglichkeiten „aus der wirtschaftlichen Not, aus der sittlichen Minderwertigkeit der Familie [und] aus der körperlichen und seelischen Beschaffenheit des Kindes“ (Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, S. 249). Dadurch hat die Obervormundschaft „eine doppelte Aufgabe: Überwachung der väterlichen Gewalt und Eingreifen, wenn sie miss­braucht wird [und die] Schutzherrschaft über all diejenigen, die überhaupt keiner väterlichen Gewalt unterstehen“ (Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, S. 250). Infolgedessen wird der Vater mit dem Schutz- und Erziehungsauftrag vom Staat beauftragt. Wodurch die stattliche Fürsorge die Kinder, vor den individuellen Not­lagen, der Verwahrlosung, der Ausnutzung, der Verelendung, sowie vor dem Miss­brauch, schützt. Außerdem hat der Staat das Recht die elterliche Verfügungsge­walt, die Elternrechte und -pflichten zu entziehen oder zu beschränken, wenn eine Vernachlässigung oder eine Kindeswohlgefährdung festgestellt werden kann. Der Staat übernimmt hierbei die gesetzlich geregelten Funktionen für die weitere Er­ziehung der Kinder und übt die Pflichten und Aufgaben der Eltern aus. Das bedeu­tet, dass nach Bäumer die familiäre Funktion sozialpädagogisch eingeordnet wird. „Die staatliche Fürsorgeerziehung (Sozialpädagogik) ist für Bäumer ideell und grundsätzlich mit der Obervormundschaft des Staates verbunden“ (Engelke, Borr­mann, & Spatscheck, 2018, S. 250).

Infolgedessen greift die Sozialpädagogik ein, wenn sich entwicklungsbedingte so­ziale Missstände bei den Kindern etablieren, welche durch negative, wirtschaftliche und soziale Veränderungen hervorkommen. Wodurch die Sozialpädagogik signifi­kante gesellschaftliche Aufgaben übernimmt. Grundlage der Sozialpädagogik nach Bäumer ist die Aufmerksamkeit und die Sicht auf die Kinder, welche durch jegliche Veränderungen manipuliert und beeinflusst werden können. Wodurch auch die Kinderarbeit mithilfe von Kinderschutz- und Arbeitsschutzgesetzen ver­hindert werden muss, damit das Recht auf Kindheit und Jugend wiederhergestellt und durch soziale Fürsorge unterstützt wird (vgl. Engelke, Borrmann, & Spatscheck, 2018, S. 250).

Daran ist erkennbar, dass Bäumers Definition über Sozialpädagogik für ein gewan­deltes Verständnis von Sozialpädagogik steht, indem es sich um eine wesentliche pädagogische Institution handelt, „nämlich die heutige Kinder- und Jugendhilfe, die damals noch als Fürsorgeerziehung beziehungsweise Erziehungsfürsorge be­zeichnet wurde“ (Eßer, 2018, S. 277).

3 Rahmenbedingungen Kindesmisshandlung

In den folgenden Unterkapiteln werden die theoretischen Grundlagen erläutert, die für ein besseres Verständnis der Inhalte der Arbeit notwendig sind. Zu Beginn wird ein Überblick über den Begriff der Kindesmisshandlung, Rechtlichen Grund­lagen nach dem SGB VIII und den Typologien von Kindesmisshandlung und de­ren Symptome und Hinweise aufgezeigt.

3.1 Kindesmisshandlung

Kindesmisshandlung ist ein vielschichtiger und umfangreicher Begriff und lässt sich nicht anhand einer allgemeingültigen Definition erklären. Demnach werden verschiedene Autoren herangezogen, um die Tiefe und die Bandbreite des Be­griffs darzustellen und zu verdeutlichen.

Ute Thyen (2009, S. 312) definiert Kindesmisshandlung als eine „nicht zufällige (bewusste oder unbewusste), gewaltsame körperliche und/oder seelische Schädigung von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene, die in Familien oder Institutionen (z.B. Kindergärten, Schulen, Heimen) geschieht, die zu seelischen und körperlichen Verletzungen, chronischen Gesundheitsstörungen und Entwicklungsverzögerungen oder sogar zum Tode führt und die somit das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt oder bedroht.“

Im Sinne von Anette Engfer (2015, S. 4) sind Kindesmisshandlungen „gewaltsame psychische oder physische Beeinträchtigungen von Kindern durch Eltern oder Er­ziehungsberechtigte. Diese Beeinträchtigungen können durch elterliche Handlun­gen (wie bei körperlicher Misshandlung, sexuellem Missbrauch) oder Unterlassun­gen (wie bei emotionaler und physischer Vernachlässigung) zustande kommen.“ Auf die Definition von Engfer bezogen, erwähnt Franz Moggi (2009, S. 866), dass grundsätzlich eine Differenzierung, zwischen engen und weiten Misshandlungsbe­griffen, vorgenommen werden muss. Unter enge Misshandlungsbegriffe werden Handlungen und Vernachlässigungen beschrieben, bei denen Kinder körperlich verletzt oder getötet werden. Wenn keine physischen Beeinträchtigungen oder An­zeichen vorliegen, werden Vermutungen über den Grad der Intensität der schädi­genden Verhaltensweisen oder auch über die soziokulturelle Normabweichung der Handlungen und Unterlassungen verwendet. Weite Misshandlungsbegriffe schlie­ßen Handlungen und Unterlassungen ein, welche nicht unbedingt zu kindlichen psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen führen, „die in geringerem Maße als Normabweichung gelten, häufiger vorkommen und auch heute noch von vielen Eltern praktiziert werden“ (Engfer, 2015, S. 4). Grundsätzlich ist nach Moggi (2009, S. 868) Kindesmisshandlung durch die Art der Handlung und/oder Unter­lassung definitorisch bestimmt. Demzufolge wird deutlich, dass Engfer und Moggi zwischen Handlungen und Unterlassungen unterscheiden.

3.2 Rechtliche Grundlagen nach dem SGB VIII

Für Sozialpädagog*innen, die in sozialen Einrichtungen arbeiten und Aufgaben für die öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen erfüllen, gilt das Kinder- und Jugendhilferecht nach dem Achtem Sozialgesetzbuch (SGB VIII).

Im § 1 SGB VIII ist das kindliche „Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschafts­fähigen Persönlichkeit“ gesetzlich verankert. Die Kinder- und Jugendhilfe verwirk­licht dieses Ziel in erster Linie dadurch, dass die Sozialpädagog*innen die elterli­che Erziehungsverantwortung stärken, unterstützen und ergänzen (§ 1 Abs. 3).

In Bezug auf Kindesmisshandlung heißt es in § 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII, dass die „Jugendhilfe [...] Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen“ sol­len. Damit diese sozialpädagogische Aufgabe durch die Kinder- und Jugendhilfe sichergestellt werden kann, hat der Gesetzgeber im § 8a SGB VIII den Schutzauf­trag bei Kindeswohlgefährdung definitorisch bestimmt. Dieser Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung gilt sowohl für die Jugendämter als Vertreter der öffentli­chen Kinder- und Jugendhilfe als auch für die Sozialpädagog*innen in den Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, welche Leistungen nach dem SGB VIII erbringen. Demzufolge konkretisiert der § 8a SGB VIII den allgemeinen staatlichen Schutz­auftrag als Aufgabe der Jugendämter, verdeutlicht die Beteiligung der freien Träger an dieser Aufgabe und beschreibt die Verantwortlichkeit der beteiligten Sozialpädagog*innen in der Kinder- und Jugendhilfe. Innerhalb des § 8a Abs. 1 SGB VIII werden die Aufgaben und Arbeitsweisen des Jugendamtes beschrieben.

Der Schutzauftrag des § 8a Abs. 1 SGB VIII wird dringlich, sobald dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls bekannt werden. Unter signifikanten Hinweisen sind ernst zu nehmende konkrete Hinweise oder Annahmen zu verstehen, die nicht nur entfernt auf mögliche Gefahren hinweisen, sondern auch ein gewisses Gewicht haben. Dabei spielt es keine Rolle, wie die Hinweise entdeckt werden.

Außerdem hat der Gesetzgeber mit dem am 2021 eingeführten Kinder- und Ju­gendstärkungsgesetz (KJSG), das Kinder- und Jugendhilfegesetz novelliert. Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz präzisiert den aktiven Schutzauftrag bei Kin­deswohlgefährdung und bezieht verstärkt auch die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe mit ein (vgl. Walhalla Fachredaktion, 2021, S. 7).

3.3 Typologien von Kindesmisshandlung

3.3.1 Körperliche/ Physische Misshandlung

Nach Kindler (2006b, S. 5.2) können unter körperliche Kindesmisshandlung „alle Handlungen von Eltern oder anderen Bezugspersonen verstanden wer-den, die durch Anwendung von körperlichem Zugang bzw. Gewalt für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen physischen oder psychischen Beeinträchti­gungen des Kindes und seiner Entwicklung führen oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen bergen.“

Daran anknüpfend wird nach dem Kinderschutz-Zentrum (2009, S. 38) unter kör­perlicher Misshandlung jegliche Formen „bewusster oder unbewusster Handlun­gen, die zu nicht zufälligen körperlichen Schmerzen, Verletzungen oder gar zum Tod führen“ (Kinderschutz-Zentrum, 2009, S. 38) definitorisch bestimmt. Demzu­folge sind körperliche Verletzungen, die nicht aus einem Unfall resultieren oder bei der die Beschreibung der Verletzungsursache nicht mit dem Verletzungsverlauf übereinstimmt, körperliche Missbrauchsformen. Überdies, wenn körperliche Ver­letzungen von einer Betreuungsperson des betroffenen Kindes mit Absicht nicht verhindert wurden und beim begründeten Verdacht, beim Eingeständnis oder wenn die Kenntnis vorliegt, dass die Verletzung von einem Erziehungsberechtig­ten oder einer dem Kind nahestehenden Person verursacht wurde, körperliche Misshandlungsformen.

Innerhalb der körperlichen Misshandlung kann es zu verschiedenen Formen kom­men, beispielsweise Schläge, Prügeln, Festhalten, Verbrühen, Verbrennen, hun­gern oder dursten lassen, Unterkühlen, Beißen, Würgen bis zum gewaltsamen An­griff mit Riemen, Peitschen, Stöcken, Küchengeräten und Waffen (vgl. Kinder­schutz-Zentrum, 2009, S. 38). Dabei ist zu beachten, dass die körperlichen Miss­handlungsformen mit psychischen Belastungen, wie beispielsweise „Angst, Scham, Demütigung, Erniedrigung und Entwürdigung“ (Kinderschutz-Zentrum, 2009, S. 38) im Zusammenhang stehen, wodurch nachweislich die Persönlich­keitsentwicklung beeinflusst wird.

In Zusammenhang mit körperlicher Misshandlung wird die Frage von intergenera­tioneller Transmission oder Gewaltzyklen diskutiert. Es ist seit langem bekannt, dass Sorgeberechtigten, die in der Kindheit oder Jugend Misshandlung erfahren haben, einem hohen Risiko ausgesetzt sind, Misshandlungen bei der Erziehung ihrer eigenen Kinder wieder anzuwenden. Ob dies tatsächlich geschieht, hängt von vielen Faktoren ab. Die Weitergabe persönlicher negativer kindlicher Misshand­lungserfahrungen an die nächste Generation kann durch verschiedene Theorien erklärt werden, wie beispielsweise die Lerntheorie, Bindungstheorie, psychodyna­mische Modelle und/oder genetische Veranlagung.

3.3.2 Sexuelle Misshandlung

Sexuelle Misshandlungen werden definitorisch in der Fachliteratur als sexuelle Handlungen beschrieben, welche „an oder vor einem Kind [...] entweder gegen dessen Willen vorgenommen wird oder [...] das Kind [...] aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zu-stim­men kann“ (Weissenrieder, 2012, S. 81). In Anlehnung an Garbe (2015, S. 43) kann unter sexuellem Missbrauch eine Handlung verstanden werden, welche mit oder ohne Körperkontakt zwischen Sorgeberechtigten und Kindern, in Form einer Abhängigkeitsbeziehung, durchgeführt wird. Anhand der Definitionen wird deut­lich, dass Kinder in verschiedene Formen von sexueller Aktivität oder Ausbeutung, bei der das Kind aufgrund von Abhängigkeit, Angst, Unwissenheit oder Unreife nicht einwilligen kann, einbezogen werden können. Dazu gehört auch Kindern se­xuellen Darstellungen auszusetzen, die nicht ihrer Entwicklung entsprechen, sowie Kinderpornografie. Leichtere Formen sexueller Übergriffe, die ohne Körperkontakt stattfinden, umfassen anzügliche Bemerkungen, Exhibitionismus, das Zusehen, wie Kinder gegen ihren Willen angezogen oder gebadet werden und das Zeigen von pornografischem Material. Zu mittelschwer eingestufte Missbrauchshandlun­gen zählen Versuche, die Brüste und Genitalien eines Kindes zu berühren, sowie sexualisiertes Küssen. Das Vorzeigen oder Berühren der Genitalien wird als inten­siver sexueller Missbrauch bezeichnet. Außerdem wenn die Sorgeberechtigten in Gegenwart des Kindes masturbieren oder wenn das Kind gezwungen wird, in Ge­genwart des Sorgeberechtigten zu masturbieren. Die intensivste Form des Miss­brauchs ist die tatsächliche oder versuchte anale, vaginale oder verbale Vergewal­tigung eines Kindes (Kinderschutz-Zentrum, 2009, S.40).

Folglich ist die sexuelle Misshandlung unter Ausnutzung einer Macht- und Autori­tätsposition eine grenzüberschreitende sexuelle Handlung eines Erwachsenen an einem Kind. Überdies ist die sexuelle Misshandlung an einem Kind eine planvolle, geregelte und andauernde Handlungsweise mit systematischer Vorbereitung, wel­ches sich in der Intensität kontinuierlich steigert. Dies wird daran erkennbar, dass der Erwachsene die Macht- und Autoritätsposition innerhalb eines Abhängigkeits­verhältnisses ausnutzt, beispielsweise durch die Ausübung von emotionalem Druck, die Bestechung mit Geschenken, den Missbrauch der Loyalität des Kindes oder durch die physische Gewaltandrohung (vgl. Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, 2016, S. 13). Dementsprechend ist sexualisierte Gewalt jegliche Ver­haltensweisen, welche „die sexuelle Selbstbestimmung, die Entwicklung und Ent­faltung der individuellen Sexualität oder die sexuelle Intimsphäre verletzt“ (Techni­ker Krankenkasse, 2013, S. 11). Beim Begriff ,sexualisiert‘ ist es fundamental, dass eine Abgrenzung zur gewaltvollen Form der Sexualität erfolgt, dadurch, dass „se­xuelle Handlungen instrumentalisiert werden, um bei den Kindern Gewalt, Macht und Kontrolle auszuüben“ (Techniker Krankenkasse, 2013, S. 11).

Psychische Folgen des sexuellen Missbrauchs sind z. B. Ängste, Phobien, De­pressionen, posttraumatische Belastungsstörung, Essstörungen, Verhaltensauf­fälligkeiten, destruktives und selbstverletzendes Verhalten, Kriminalität, Rauchen, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Suizidversuche, sexuell unangemessenes Ver­halten, wie Exhibitionismus und sexuelle Schwierigkeiten. Es besteht ein erworbe­nes Risiko der Reviktimisierung nach Gewaltexposition (vgl. Catani, 2017). Revik- timisierung bezieht sich auf die Tendenz von misshandlungstraumatisierten Opfer, im späteren Leben erneut traumatische Erfahrungen ausgesetzt zu sein (vgl. Stangl, 2023).

Ergänzend muss benannt werden, dass sexuelle Misshandlung ein gesellschaftli­ches Problem darstellt, „das in allen Lebenszusammenhängen, in allen Alters­gruppen, jenseits von Nationalität, Geschlecht und sozialem Status“ (Techniker Krankenkasse, 2013, S. 11) existieren kann.

3.3.3 Seelische/ Psychische Misshandlung

Nach dem Kinderschutz-Zentrum (2009, S. 45) sind seelische Misshandlungen „chronische qualitativ und quantitativ ungeeignete und unzureichende, altersinadä­quate“ Handlungsweisen und Beziehungsqualitäten von Erwachsenen zu Kindern. Kindler (2006c, S. 4.1) charakterisiert umfassend seelische Kindesmisshandlung als „wiederholte Verhaltensmuster der Betreuungsperson oder Muster extremer Vorfälle, die Kindern zu verstehen geben, sie seien wertlos, voller Fehler, ungeliebt, ungewollt, sehr in Gefahr oder nur dazu nütze, die Bedürfnisse eines anderen Menschen zu erfüllen“. Anknüpfend an diese Definitionen beschreibt Deegener, dass unter seelischer Kindesmisshandlung „die ausgeprägte Beeinträchtigung und Schädigung der Entwicklung von Kindern“ (Deegener, 2009, S. 346) verstanden wird.

Demzufolge liegt seelische Misshandlung vor, wenn die Kinder durch die Sorge­berechtigten eine Ablehnungshaltung, Terrorisierungen, Korruptionen, Verweige­rung emotionaler Responsivität oder Isolierungen erfahren. Unter der Ablehnungs­haltung am Kind wird die Ausübung dauerhafter Kritik am Kind, die Herabsetzung, die Beschämung, Demütigung und Kritisierung des Kindes, sowie die ostentative Bevorzugung anderer Geschwister verstanden. Zudem wird dem Kind vermittelt, „es sei wertlos, mit Fehlern behaftet, ungeliebt, ungewollt, gefährdet oder nur dazu nütze, die Bedürfnisse anderer Menschen zu erfüllen“ (Kindler, 2006c, S. 4.1). Ter­rorisierungen hingegen ist mit der kontinuierlichen Einschüchterung und Ängsti- gung des Kindes durch Äußerungen und Drohungen gekennzeichnet. Kindliche Ausnutzung und Korruption ist beispielsweise, wenn Kinder zu selbstzerstöreri­schen oder strafbaren Verhaltensweisen angeregt oder gezwungen werden, be­ziehungsweise wenn diese Verhaltensweisen durch die Sorgeberechtigten nicht unterbunden oder widerstandslos zugelassen werden. Als Verweigerung emotio­naler Responsivität kann die Nichtbeantwortung der kindlichen Signale und Be­dürfnisse nach emotionaler Zuwendung verstanden werden (vgl. Kindler, 2006c, S. 4.1). Ein weiterer Aspekt seelischer Misshandlung ist die Isolierung, indem das Kind von altersentsprechenden sozialen Kontakten und der Umwelt abgeschnitten und eingesperrt wird. Ergänzend kann das Gefühl von Einsamkeit und Verlassen­heit von Seiten der Sorgeberechtigten an die Kinder übertragen werden.

3.3.4 Vernachlässigung

Angenähert an den durch den § 1666 BGB geschaffenen rechtlichen Rahmen, versteht Kindler (2006, S. 3.1) Kindesvernachlässigung als:

„andauerndes oder wiederholtes Unterlassen fürsorglichen Handelns bzw. Unter­lassen der Beauftragung geeigneter Dritter mit einem solchen Handeln durch El­tern oder andere Sorgeberechtigte, das für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen Beeinträchtigungen der physischen und / oder psychischen Ent­wicklung des Kindes führt oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen be­inhaltet“ (Kindler, 2006, S. 3.1).

Dadurch wird deutlich, dass die für das Kindeswohl verantwortlichen Eltern oder andere Sorgeberechtigten akzeptieren, dass es zu einer Nichterfüllung der kindli­chen Grundbedürfnisse kommt, sowie dass die Kinder ein vermeidbares Leid er­fahren. Anknüpfend an Kindler (2006, S. 3.1) definiert das Kinderschutz-Zentrum, dass „Kindesvernachlässigung [...] eine situative oder andauernde Unterlassung fürsorglichen Handelns“ (Kinderschutz-Zentrum, 2009, S. 43), welche jedoch zur Sicherung der psychischen und physischen kindlichen Versorgung signifikant ist.

Ergänzend kann zwischen aktiver und passiver, sowie zwischen bewusster und unbewusster Vernachlässigung unterschieden werden. Eine Differenzierung der beiden Formen ist meist nicht einfach, jedoch signifikant für die Entscheidung des passenden Hilfsmittels, der Handlungsstrategien zur Abwendung der Vernachläs­sigung und für die Unterbreitung von Hilfeangeboten. Passive Vernachlässigung kann aufgrund von Unachtsamkeit, unzureichender Kenntnis über Gefahren- und Risikosituationen, mangelnder Einsicht oder unzureichender persönlicher Fähig­keiten resultieren. Aktive Vernachlässigung hingegen ist das Resultat von fehlen­der Bereitschaft oder wissentlicher Verweigerung von Handlungen zur Befriedi­gung kindlicher Lebensbedürfnisse seitens der Sorgeverantwortlichen.

Ausgehend von den kindlichen Grundbedürfnissen, welche nicht oder unzu­reichend befriedigt werden, unterscheidet man zwischen verschiedenen Vernach­lässigungsformen. Wodurch innerhalb der bestehenden Vernachlässigung unter­schiedliche Adjektive verwendet werden, um Vernachlässigung zu kategorisieren. Beispielsweise wird eine Differenzierung zwischen körperlicher, erzieherischer oder emotionaler Vernachlässigung verwendet, um kindliche Vernachlässigungs­erfahrungen näher zu beschreiben. Allerdings hat sich eine einheitliche Strukturie­rung zur Klassifizierung der verschiedenen Unterformen der Vernachlässigung noch nicht herausgebildet. Es gibt jedoch erhebliche Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Systemen. Körperliche Vernachlässigung wird oft als Unterkatego­rie angesehen, zusammen mit der kognitiven und erzieherischen Vernachlässi­gung, sowie der emotionalen Vernachlässigung (vgl. Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, 2016, S.12). Zur körperlichen Vernachlässigung gehört die mangelnde Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme, körperliche Hygiene, Beklei­dung oder Unterkunft. Von kognitiver und erzieherischer Vernachlässigung spricht man, beispielsweise bei einer unzureichenden Förderung der kognitiven Fähigkei­ten, einer mangelnden Konversation, fehlenden erzieherischen Einflussnahme auf einen unregelmäßigen Schulbesuch, Delinquenz oder Suchtmittelgebrauch des Kindes, mangelhaften Beachtung von Erziehungs- oder Förderbedarfe, sowie bei einem Mangel an Sprach- oder Spielerfahrungen. Ebenfalls gehört die unzu­reichende Beaufsichtigung des Kindes zu der erzieherischen Vernachlässigung. Diese beinhaltet beispielsweise das Alleinlassen des Kindes in einem für das Kin­desalter nicht entsprechenden Zeitspanne (Biesel & Urban-Stahl , 2018, S. 104). Die emotionale Vernachlässigung umfasst die unzuverlässige Reaktion auf Sig­nale des Kindes oder mangelnde emotionale Zuwendung, beispielsweise durch Liebesentzug oder der Mangel an Wärme in der Beziehung zum Kind (Kindler, 2006, S. 3.2).

3.4 Symptome und Hinweise auf Kindesmisshandlung

Für die verschiedenen Kindesmisshandlungs- und Vernachlässigungsformen be­stehen kaum spezifische und offensichtliche Hinweise und Symptome. Denn es kann auch für Verhaltensauffälligkeiten, Leistungsschwankungen und sogar Ver­letzungen unterschiedliche Ursachen geben. Jedoch zeigt die Erfahrung, „Je mehr Symptome zutreffen, desto mehr verdichtet sich der Verdacht auf [...] Kindesmiss­handlung oder -vernachlässigung“ (Polizeiliche Kriminalprävention des Länder und des Bundes, 2019, S. 17).

Bedeutsam bei der Betrachtung der Auffälligkeiten auf Kindesmisshandlung und - vernachlässigung ist, dass dies Hinweise und keine Beweise sind, wodurch die Sozialpädagog*innen am Anfang einer genaueren Untersuchung der kindlichen Situation stehen und nicht am Ende (vgl. Polizeiliche Kriminalprävention des Länder und des Bundes, 2019, S. 17). Dennoch sind diese Anzeichen und Hinweise Signale, dass es einem Kind nicht gut geht und es Hilfe und Unterstützung benötigt. Zudem sind Kinder in diesen Situationen darauf angewiesen, dass Sozialpädagog*innen in sozialen Einrichtungen angemessen reagieren und verantwortungsbewusst handeln, um sie vor weiterer Misshandlung und Vernachlässigung zu schützen.

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Details

Titel
Kindesmisshandlungen im sozialpädagogischen Kontext. Wie gehe ich als Sozialpädagogin mit Kindesmisshandlungen um?
Autor
Jahr
2023
Seiten
31
Katalognummer
V1321547
ISBN (Buch)
9783346802576
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kindesmisshandlungen, kontext, sozialpädagogin
Arbeit zitieren
Sarah Sucher (Autor:in), 2023, Kindesmisshandlungen im sozialpädagogischen Kontext. Wie gehe ich als Sozialpädagogin mit Kindesmisshandlungen um?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1321547

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