Die Bedeutung normativer Geschlechterstereotype in der psychodynamischen Beratung adoleszenter Jungen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhalt

1. Einleitung

2. Theoriegeschichtliches

3. Entwicklung und Adoleszenz
3.1 Zur Entwicklungspsychologie
3.2 Krisen in der Adoleszenz
3.3 Bedeutung für die Praxis
3.4 Suizidalität in der Adoleszenz

4. Normative Geschlechterstereotype im Bezugsrahmen Adoleszenter
4.1 Schule
4.2 Familie
4.3 Freundschaften, Peers

5. Diskussion

6. Literatur

1. Einleitung

Die Adoleszenz wird in der Entwicklungspsychologie als Phase der Destabilisierung bezeichnet (vgl. Streeck-Fischer, 1994, S. 511). Jugendliche müssen die Veränderung ihres nun sexuellen Körpers in ihre Identität integrieren und sich außerhalb der Familie neu orientieren. Ein nicht unwesentlicher Faktor spielt dabei die Geschlechterstereotype, die in der Gesellschaft vorherrschen. Das „Doing Gender“, also die soziale Konstruktion von Geschlecht gilt selbstredend auch für Männer. Während jedoch die (vor allem empirische) Forschung ein klares Bild von der „Konstruktion von Weiblichkeit“ hat, mangelt es an Forschungsergebnissen zur Männlichkeit, was Baur zufolge überwiegend daran liege, dass Männer als „das Normale“ gelten und diese Normalität nicht näher definiert bzw. erforscht wird (King, 2005, S. 9; Baur, 2008, S. 7). In der Psychoanalyse mag dieses Missverhältnis anders ausfallen, da gerade die Gewordenheit der Normalität im Zentrum der Theorie steht und sich Freud überwiegend mit der Entwicklung von Männern auseinandergesetzt hat, was wiederum zur Folge hatte, dass die ihm zahlreich folgenden Analytikerinnen umso intensiver auch die Entwicklung der Frau und die Bedeutung von Weiblichkeit in den Blick nahmen.

Heutzutage sind sich überwiegend alle sozialwissenschaftlichen Theorien sind darüber einig, dass das biologische Geschlecht sozial überformt ist; die Natur des Mannes oder der Frau ist „Natur durch Gesellschaft“ (ebd., S. 9). Besonders bei jungen Männern herrscht ein sozialer Druck zum Entwickeln von Männlichkeit (Meuser, 2004). Diese Herstellung von Männlichkeit geschieht aktiv und orientiert sich an kollektiven Normen, was als Männlichkeit gilt (Goffman, 1994, zit. nach Budde, Faulstich-Wieland, 2005, S.38).

Die zentralen Bezugspunkte für Jugendliche, an denen, wie zu zeigen sein wird, die Geschlechterstereotype von Männlichkeit reproduziert werden, sind die Schule, die Familie und Freunde bzw. die Peergroup. Der Bedeutung dieser Bezugspunkte für die Beratung, sowie die Kontextualisierung im Rahmen der Adoleszenten Entwicklung und Krise soll diese Arbeit, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, herausstellen.

2. Theoriegeschichtliches

Freuds „phallische[r] Monismus“ (Quindeau, 2008, S. 94), der die Geschlechtsentwicklung nur aus der Perspektive des Jungen begreift und dabei Weiblichkeit vorwiegend als Mangel (des Penis) auszeichnet, wird heutzutage weitgehend zurückgewiesen (ebd.). Nach diesem Monismus waren in der Psychoanalyse überwiegend Theorien zur weiblichen Entwicklung von Bedeutung, solche zur männlichen Entwicklung waren kaum mehr ein eigenständiger Forschungsgegenstand. Dabei gehören erstere, feministische Theorien, inzwischen zum Mainstream innerhalb der Psychoanalyse (ebd.).

Für Freud geschieht die „scharfe Sonderung des Männlichen und Weiblichen Charakters“ erst in der Pubertät (Freud, 1905d, 120). Die Zeit der Adoleszenz ist in den psychosexuellen Entwicklungsphasen die Entwicklung der genitalen Sexualität. Die Genitalorganisation oder Genitale Stufe lässt sich zum einen als ausschließliche Bezeichnung der reifen genitalen Sexualität beschreiben, zum anderen als Übergeordneter Begriff für die durch die Latenzperiode getrennten Phasen von Phallizität und eigentlicher Genitalität. Letzteres trägt Freuds späteren Gedanken zur psychosexuellen Entwicklung Rechnung, insofern er die genitale Organisation für die phallische Phase anerkennt. Aus der Ödipalen Situation entsteht die Kastrationsangst und der Kastrationskomplex leitet schließlich die Latenz ein. In der Pubertät werden nun die Partialtriebe zusammengefasst.

„Die Annäherung des kindlichen Sexuallebens an das der Erwachsenen geht viel weiter und bezieht sich nicht nur auf das Zustandekommen einer Objektwahl. Wenn es auch nicht zu einer richtigen Zusammenfassung der Partialtriebe unter das Primat der Genitalien kommt, so gewinnt doch auf der Höhe des Entwicklungsganges der infantilen Sexualität das Interesse an den Genitalien und die Genitalbetätigung eine dominierende Bedeutung, die hinter der in der Reifezeit wenig zurücksteht. Der Hauptcharakter dieser “infantilen Genitalorganisation” ist zugleich ihr Unterschied von der endgültigen Genitalorganisation der Erwachsenen. Er liegt darin, daß für beide Geschlechter nur ein Genitale, das männliche, eine Rolle spielt. Es besteht also nicht ein Genitalprimat, sondern ein Primat des Phallus. [.] Auf der Stufe der prägenitalen sadistisch-analen Organisation ist von männlich und weiblich noch nicht zu reden, der Gegensatz von aktiv und passiv ist der herrschende. Auf der nun folgenden Stufe der infantilen Genitalorganisation gibt es zwar ein männlich, aber kein weiblich; der Gegensatz lautet hier: männliches Genitale oder kastriert. Erst mit der Vollendung der Entwicklung zur Zeit der Pubertät fällt die sexuelle Polarität mit männlich und weiblich zusammen. Das Männliche faßt das Subjekt, die Aktivität und den Besitz des Penis zusammen, das Weibliche setzt das Objekt und die Passivität fort. Die Vagina wird nun als Herberge des Penis geschätzt, sie tritt das Erbe des Mutterleibes an.“ (Freud, 1923, S. 294ff)

Während Freud für den Mann ein neues Sexualziel erkennt, die Entladung der Sexualprodukte, kann er dieses Ziel für die Frau nicht weiter benennen (Quindeau, 2008, S. 94ff). Seine ursprünglichen theoretischen Konzeptionen hat Freud jedoch mehrfach revidiert, ich beziehe mich daher in dieser Arbeit überwiegend auf Laufer und Laufer, die seine späteren Schriften zugrunde legen (siehe Kapitel 3.2).

Für Freud setzt Differenz von Männlichkeit und Weiblichkeit also erst in Pubertät ein. Er verweist auf Vermengung von männlichen und weiblichen Anteilen im Individuum, was sich in seinem Konzept der Bisexualität wiederfindet. Quindeau verweist auf bemerkenswerte Differenziertheit bei Freuds Geschlechterbegriff. Dieser löse Eindeutigkeiten auf, sei aber nicht stringent und müsse daher weiterentwickelt werden. Seit den siebziger Jahren wird in der psychoanalytischen Theorie Männlichkeit und Weiblichkeit anhand des Identitätsbegriffs behandelt, weniger am Modell der psychosexuellen Entwicklung. Identität wird dabei als Lebenslanger dialektischer Prozess verstanden.

3. Entwicklung und Adoleszenz

3.1 Zur Entwicklungspsychologie

In der Adoleszenz rückt die Problematik von Loslösung und Individuation in den Vordergrund und wird anders als Trennungen in bisherigen Entwicklungsphasen erlebt. Nach Streeck-Fischer lässt sich die Adoleszenz in frühe, mittlere und späte Adoleszenz aufteilen (1994, S. 509). Die Bewältigung des Ödipuskomplexes führt das Kind in die Latenz und lässt durch die erfolgte Identifizierung mit dem Vater ein Über-Ich mit differenzierten Normen, Werten und Pflichten entstehen. Dieses gerät in der frühen Adoleszenz, als „Phase der Abschirmung“ (ebd.) beschrieben, zunehmend ins wanken. Ihm wird dann eine kritischere, d.h. auch selbstkritische und das Selbst bestärkende Funktion zukommen und, neben den aus der Latenz übernommenen Forderungen, zunehmend Urheber von Ängsten sein. Distanzierung und Differenzierung führen zu einer „Depersonalisierung von Ich-Ideal und Überich“ (ebd. S. 511). Während dieser Zeit sind Schamgefühle zentral für die Organisation der Trennung von Innenwelt und Außenwelt, insbesondere bei durch den körperlichen Reifungsprozess. Für die Objektbeziehung werden Phantasien über das andere Geschlecht gleichsam mit Vorstellungen und Entdeckungen des eigenen Körpers bedeutsam. Letztere werden vor den Eltern verborgen, was ein Ende der „Welt geteilter Bedeutungen“ bedeutet (Emde, 1991 zit. nach Streeck-Fischer, 1994, S. 510). Der Schamaffekt entsteht durch die Objektivierung des Selbst und sei Schlüsseleffekt zur Bildung einer personalen Identität“ (Streeck-Fischer, 1994, S. 512). Die bisherige Übereinstimmung mit den Eltern misslingt. Damit geht jedoch auch das Gefühl von Fremdheit des eigenen Körpers einher. Wie Laufer und Laufer (1989, S. 110) es beschreiben, sind nun die infantilen Konfliktlösestrategien nicht mehr brauchbar und der Adoleszente muss neue Strategien entwickeln. „Die bis jetzt vorherrschende, relativ spannungsfreie Übereinkunft mit den Eltern [.] das Arrangement zwischen den bis dahin entwickelten Selbst- und Objektrepräsentanzen werden brüchig. Die Zeit der Differenzierung mit der Überprüfung und Infragestellung unpassend gewordener Selbst- und Objektbilder hat begonnen.“ (Streeck-Fischer, 1994, S. 512)

Zur Überbrückung dieser neuen und schwierigen Situation stabilisiert sich der Jugendliche durch eine narzisstische Selbstkonfigurationen in der mittleren Adoleszenz. Bei diesem bleibt jedoch, in Abgrenzung zum pathologischen Narzissmus, das erreichte Niveau der Objektbeziehungen erhalten (vgl. ebd., S. 516). Dieser gesteigerte Narzissmus drückt sich in Selbstüberschätzung, mangelnde Realitätsprüfung und Egozentrismus aus und dient der „Verschiebung der Besetzung weg von den elterlichen Objekten, auf das Idealselbst, das Selbst oder als Abwehr der an die elterlichen Bilder haftenden Libido“ (vgl. Streeck-Fischer, 1994, S. 515). Diese Phase wird in der Spätadoleszenz nun von realistischeren Selbst- und Objektbildern abgelöst, in der er die Trennung von seinen Eltern akzeptieren lernt, mit dem Wunsch, Übereinstimmung und Harmonie wiederherzustellen (ebd. S. 524).

3.2 Krisen in der Adoleszenz

In der Psychologie hielt sich lange die Annahme, dass Krisen in Pubertät Teil eines normalen Entwicklungsverlaufs sind. Pinquart (2003), zeigt jedoch anhand mehrerer Studien dass schwerere Krisen (Beziehungskrisen oder Suizidalität) nur bei einer Minderheit der Adoleszenter vorkommt. Leichtere Krisen, hier als „Problemverhalten“ beschrieben (als Beispiel Alkoholkonsum) können positiv zur Entwicklung beitragen, wenngleich sie ein Risikofaktor bleiben. Die Aufgabe des Beraters wäre hier also vor allem Prävention und Förderung der Kompetenzen zur Bewältigung der Entwicklungsaufgaben. Die Entwicklung in der Adoleszenz kann nur aufgezeigt werden, wenn man diese von Pathologien (Neurosen, Perversionen und Psychosen) im Erwachsenenalter abgrenzt (Laufer & Laufer, 1989, S. 19).

In der Neuordnung der Pubertät, psychoanalytisch gesprochen der Ordnung der Partialtriebe unter die Genitalität, können Entwicklungshemmungen auftreten, wie bereits Freud 1905 beschreibt (vgl. Freud, 1905d S. 109). Laufer und Laufer ergänzen Freuds Bemerkungen und beschreiben die Adoleszenz als einen Prozess, indem das (Erinnerungs-)Material früherer Entwicklungsphasen reorganisiert und integriert werden muss. Präadoleszente Wünsche und Phantasien werden im Zuge der Pubertät, je nach ihrer Auflösungen zur sexuellen Normalität oder sexuellen Pathologie (vgl. Laufer und Laufer, S. 21).

„Mit der Bewältigung des ödipalen Konflikts sind zwar die wichtigsten sexuellen Identifizierungen fixiert und das Körperbild in seinen Grundzügen festgelegt worden, aber erst während der Adoleszenz verschmelzen der Inhalt der sexuellen Wünsche und die ödipalen Identifizierungen zu einer nicht mehr umkehrbaren sexuellen Identität. In der Adoleszenz werden die ödipalen Wünsche im Bewußtsein des Besitzes eines zur Reife gelangten Genitalapparates überprüft, und es kommt zu einem Kompromiß zwischen dem Erwünschten und dem Zulässigen. Diese Kompromißlösung bestimmt innerhalb der Variationen des Normalen die sexuelle Identität des Menschen.“ (ebd., S. 21)

Mit der Auflösung des Ödipuskomplexes und dem internalisierten Über-Ich, können die Bedürfnisse gegenüber der Mutter als primären Liebesobjekt nicht mehr erfüllt werden. In diesem Zusammenhang entsteht die zentrale Masturbationsphantasie; „[...] jene Phantasie, in der die verschiedenen regressiven Formen der Befriedigung und die wichtigsten sexuellen Identifizierungen enthalten sind.“ (ebd., S. 23). Diese ist den Autoren zufolge universell. Ihr unbewusster Inhalt äußert sich beispielsweise in Tagträumen die von Masturbation in begleitet sind. In der Adoleszenz verändert sich der Inhalt dieser Masturbationsphantasie nicht, sie wird jedoch im Rahmen der geschlechtlichen Reife erlebt, was Formen der Abwehr benötigt. Die Integration zentraler Masturbationsphantasie macht das Agieren der Jugendlichen in der Adoleszenz, sowie die begleitenden Krisen deutlich. Diese sind für Laufer und Laufer die pathologische „Lösung der Frage, wie sich der Inhalt der zentralen Masturbationsphantasie in den neuen Kontext der Genitalität einbringen läßt.“ (ebd., S. 24) In der späten Adoleszenz bildet sich ein Kompromiss zwischen den Wünschen der zentralen Masturbationsphantasie und den Anforderungen des Über-Ich. Als normales Entwicklungsproblem lassen sich Laufer und Laufer zufolge diese Kompromisse auffassen, wenn die Genitalität maßgebliche Quelle der Befriedigung ist. Es besteht also jederzeit eine Wahlmöglichkeit, regressive Wünsche auszuleben. Das ermöglicht qua Probehandlung ein Gefühl von Aktivität und Kontrolle und ist somit bedeutsam für die Persönlichkeitsentwicklung, seine sexuelle Rolle aktiv oder passiv gestalten zu können, was wiederum mit Differenzierungen von Männlichkeit und Weiblichkeit einhergeht (vgl. ebd., S. 27).

[...]

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Die Bedeutung normativer Geschlechterstereotype in der psychodynamischen Beratung adoleszenter Jungen
Hochschule
International Psychoanalytic University
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
22
Katalognummer
V1324378
ISBN (Buch)
9783346809759
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschlechterstereotype, Gender, Adoleszenz, Psychotherapie, Männlichkeit, Weiblichkeit, Entwicklungspsychologie, Schule, Familie, Peergroup, Suizidalität bei Jugendlichen, Heteronormativität, KJP, Pubertät
Arbeit zitieren
Benjamin Dittrich (Autor:in), 2017, Die Bedeutung normativer Geschlechterstereotype in der psychodynamischen Beratung adoleszenter Jungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1324378

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