Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Darstellung der Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch anhand eines Handlungsfeldes
1.1 Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch
1.2 Hilfe zur Erziehung in der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
2. Vergleich der Lebensbewältigung nach Böhnisch und Lebensweltorientierung nach Thiersch
2.1 Lebensbewältigung nach Lothar Böhnisch
2.2 Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Lebensweltorientierung
3. Funktionen der Theorien Sozialer Arbeit: Verhältnis von sozialpädagogischer Forschung und Theoriebildung
3.1 Funktionen der Theorien Sozialer Arbeit
3.2 Verhältnis von sozialpädagogischer Forschung und Theoriebildung
4. Reflektion des Moduls
Literaturverzeichnis
1. Darstellung der Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch anhand eines Handlungsfeldes
In diesem Text wird zunächst erklärt was das Konzept der Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch, nachfolgend LWO genannt, ist und welche Aufgaben und Ziele es in dem Konzept gibt. Anschließend werden kurze Einblicke in den historischen Kontext gegeben. Es folgen die Dimensionen des Konzeptes und die Bewältigungsformen des Alltages. Danach werden die Struktur- und Handlungsmaxime beschrieben, die die „Grundhaltungen der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ konkretisiert (Grunwald/Thiersch 2018: 308).
Nach der Skizzierung des Konzeptes wird die Kinder- und Jugendhilfe als Handlungsfeld dargestellt, um danach zentrale Ideen des Ansatzes mit dem Handlungsfeld zu erläutern. Der Text endet mit einem Fazit.
1.1 Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch
Der Ansatz der LWO orientiert sich an der Lebenswelt der Adressat*innen, die im Mittelpunkt des Konzeptes stehen. Der Begriff der Lebenswelt wird dabei verstanden wie ein Individuum den Alltag und/oder die Umgebung erlebt und wahrnimmt. Die Soziale Arbeit erlangt dort ihre Bedeutung, wo Adressat*innen mit ihren im Alltag zu bewältigenden Problemen, Aufgaben und Anstrengungen Schwierigkeiten haben. Dabei hat die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit die Aufgabe unter Berücksichtigung der Konstellationen der individuellen Lebenswelt, Möglichkeiten aufzuzeigen, um die Kraftreserven zu stärken, die Schwächen zu überwinden, um mit den vorhandenen Ressourcen einen gelingenderen Alltag für die Adressat*innen zu ermöglichen, ohne dabei den Eigensinn der Adressat*innen außer Acht zu lassen. (vgl. Grunwald/Thiersch 2018).
Das Konzept der LWO hatte seine Anfänge Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre. Während der Nachkriegszeit wurde in vielen Strukturen zu einem Neuansatz gedrängt, da die bis dahin bestehende Soziale Arbeit nicht weiter hingenommen werden konnte. Thiersch lernte in der Zeit verschiedene Einrichtungen kennen und war von den Verhältnissen empört. Daraufhin wollte er die Soziale Arbeit neu etablieren. Dies funktionierte nur, wenn er die Theorien hätte „wissenschaftlich ausweisen und fundieren [können]“ (Thiersch 2020: 19). Seine darauf anfängliche alltagsorientierte Sozialpädagogik konkretisierte sich immer mehr, zu den Umrissen des LWO, die in der neuen offenen Jugendarbeit Anklang fand. Gleichzeitig wurde in dem Studiengang Erziehungswissenschaft der Studienschwerpunkt Sozialpädagogik neu etabliert. Mit der Zeit wurde das Konzept der LWO immer weiter erweitert und differenziert. Ende der 1980er Jahren konnte Thiersch, durch die Entwicklung der Struktur- und Handlungsmaxime, sein Konzept, in den achten Jugendbericht einbringen und somit auf der sozialpolitischen Bühne präsentieren. Damit gewann das Konzept immer mehr an Einfluss. (Thiersch 2020)
Im Vordergrund des Konzeptes steht die Alltäglichkeit. Diese kann als „Vorderbühne der Bewältigungsaufgaben aufgefasst [werden], die durch die Hinterbühne der Lebenslagen bestimmt ist“ (Thiersch 2020:48). Die Lebenslage, die den Alltag von der Hinterbühne aus mitprägt, kann sich als „Genderstrukturen, ethnische und materielle, politische, soziale und kulturelle Bedingungen und Ressourcen“ (Grunwald/Thiersch 2018: 304) verstehen lassen.
Die Alltäglichkeit wird dabei von verschiedenen Dimensionen geprägt. Die Dimensionen können dabei nicht genau abgegrenzt werden, da sie sich gegenseitig beeinflussen, ineinander eingreifen und sich überlappen (vgl. Thiersch 2020: 52). Die zentralen Dimensionen der Alltäglichkeit sind Zeit, Raum und soziale Beziehungen. Die Zeit selbst gliedert sich in verschiedene Dimensionen. In die objektive Dimension, in der die Zeit überall nach einer Uhr gemessenen wird und für jede Person gleich ist und in die subjektive Zeit, in der die erlebte Zeit durch Gefühle und Situationen beeinflusst wird.
Des Weiteren ist der erlebte Raum, der mit Erfahrung und Gefühlen besetzt ist, der Mittelpunkt in der Welt der Alltäglichkeit. Der tatsächliche Raum, der objektiv gemessen werden kann, steht aber in Verbindung mit dem erlebten Raum (vgl. Grunwald/Thiersch 2018: 305, Thiersch 2020: 55).
Die verschiedenen sozialen Beziehungen, die eine Person erreichen oder auch nicht erreichen kann, ist dabei als Ressource anzusehen, die zu einer Identitätsbildung verhelfen kann. Gleichzeitig können soziale Beziehungen unterstützend sowie auch entmutigend wirken. (Thiersch 2020: 56f)
Des Weiteren bestehen in der Alltäglichkeit Bewältigungsformen, die dazu dienen den Alltag zu strukturieren, Verlässlichkeit zu schaffen und unbefangen an Situationen und den dazu gehörigen Aufgaben zu gehen. Die Routinen schaffen dabei die Verlässlichkeit um Vertrauen in die Umwelt, sowie in die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erlangen (vgl. Thiersch 2020: 59). Zudem ist die Routine entscheidend für die Erfahrungen im Umgang der Dimensionen der Alltäglichkeit, da sie für die Strukturierung und der Bestimmung tätig ist (vgl. ebd: 59). Routinen können jedoch einschränkend wirken, wenn sie z.B. Ängste, vor Gruppen und/oder Personen, die anders sind, erzeugen und so Abgrenzungen schaffen.
Eine weitere Form der Bewältigung ist die der Pragmatik. Sie dient dazu, unbefangen an Situationen zu gehen und hilft den Menschen, Herausforderungen des Alltags zu bewältigen. Gleichzeitig kann die Pragmatik eine Form des Widerstands sein. Dabei lässt sie Menschen in bestimmten Situationen handlungsfähig bleiben, in denen sie sonst überwältigt oder gelähmt sein könnten (vgl. Thiersch 2020: 62). Unterdessen kann Pragmatik lähmend wirken, wenn Personen nur noch ein „Leben von Moment zu Moment“ (ebd: 63) leben und alles hinnehmen. Deswegen brauchen Adressat*innen, die in ihren Routinen und Pragmatismus gefangen sind, die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, um diese Probleme zu überwinden und somit in einen gelingenderen Alltag zu gelangen.
Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit definiert sich zudem in ihren Handlungs- und Strukturmaximen (Thiersch 2020). Diese stehen für ein professionelles Handeln und für eine Arbeitsorganisation in der förderliche Voraussetzungen „für die Arbeit an einem gelingenderen Alltag“ (ebd.: 119) gemacht werden. Die verschiedenen Maxime verweisen aufeinander, nehmen Bezug zueinander und ergänzen sich (vgl. ebd.: 119).
Zu den Maximen gehören die Alltagsnähe, Regionalisierung/Sozialräumlichkeit, Prävention, Integration/Inklusion und Partizipation. Im Laufe der Zeit wurden sie um Einmischung und strukturierte Offenheit ergänzt.
Das Maxim der Alltagsnähe beinhaltet, dass sich die Soziale Arbeit bewusst ist, dass die Adressat*innen eine Doppelrolle haben. Sie sind zwar Adressat*innen der Sozialen Arbeit, aber gleichzeitig auch Menschen ihres Alltags. Daher muss sich die Fachkraft bewusst machen, dass es zu Widersprüchen zwischen den Erfahrungen der Adressat*innen sowie der professionellen und institutionellen Sicht geben kann. (Grunwald/Thiersch 2018: 308ff)
Ein weiteres Maxim ist die Regionalisierung oder Sozialräumlichkeit. Sie betrachtet die Eigensinnigkeit der individuellen Erfahrungsräume. Sie dient zur Zentralisierung von verschiedenen Angeboten in der entsprechenden Region/Stadtteil/Nachbarschaft/etc. und nutzt die vorhandenen Ressourcen dazu. (ebd.)
Bei der Prävention, die „ein Ziel aller Sozialen Arbeit“ (ebd: 308) ist, bestehen zwei verschiedene Arten der Prävention: die primäre und die sekundäre Prävention. Bei der primären Prävention geht es darum, erst keine Krisen entstehen zu lassen, da sie Menschen befähigt, Herausforderungen zu bewältigen, bevor sie zu großen Problemen werden. Demgegenüber steht die sekundäre Prävention, in der sich sichtbare Herausforderungen aufzeigen und es versucht wird, Menschen mit Hilfe aufzufangen. (ebd. 308f)
Des Weiteren geht es bei der Integration und Inklusion um das Recht auf eine individuelle Lebensgestaltung aller Menschen. Dabei ist es wichtig auf verschiede Ungleichheiten aufmerksam zu machen und sie zu differenzieren, da Ungleichheiten oft zu Diskriminierungen führen können. (ebd.: 309)
Hinsichtlich der Partizipation geht es vor allem um die Teilhabe der Adressat*innen und dass es anerkannt wird, dass sie weiterhin einen Willen zur Selbstständigkeit haben (ebd. 309).
Bei der strukturierten Offenheit, einem ergänzenden Maxim, soll das professionelle Handeln immer strukturiert und gleichzeitig offen für die Adressat*innen und deren Situationen sein (ebd.: 310).
Das letzte Maxim ist die Einmischung. Es besagt, dass die Soziale Arbeit ein gesellschaftliches Mandat hat und den Adressat*innen dabei ermutigt und befähigt die eigenen Interessen zu vertreten. (ebd.: 310)
Zusammenfassend bietet die Skizzierung des Konzeptes nach Hans Thiersch keine vollständige Darstellung. Es konnten nicht alle Ausschnitte des Konzepts mit eingebracht werden und vieles nur oberflächig betrachtet werden. Ungeachtet dessen wurde versucht auf die wichtigsten Aspekte einzugehen und zu erklären.
1.2 Hilfe zur Erziehung in der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
In Anbetracht des Konzeptes der LWO und der ursprünglichen Entwicklung für die Kinder- und Jugendhilfe, nachfolgend KuJH genannt, wird anhand verschiedener Aspekte versucht, die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit an dem Handlungsfeld zu erläutern (Grundwald/Thiersch 2018). Vorher wird das Handlungsfeld der KuJH vorgestellt, um anschließend die zentralen Ideen, mit Fokus auf die Maxime, erkennbar zu machen.
Durch die Vielfalt der Arbeits- und Tätigkeitsfelder der KuJH, mit einer jeweiligen unterschiedlichen Intensität der Intervention innerhalb der Felder, wird in diesem Text vorrangig die stationäre KuJH betrachtet und darauf Bezug genommen (Heiner 2010, Thole 2012). Dabei werden die Hilfen zur Erziehung durch eine Fremdunterbringung in ein Wohnheim im Vordergrund stehen. In den stationären Erziehungshilfen sind die Angebote lebensweltersetzend formuliert, dadurch sind die Adressat*innen in ihrer Lebensgestaltung fremdbestimmt. Dies kann dabei vorübergehend oder dauerhaft stattfinden (Heiner 2016: 77). Die bekannteste Art der Erziehungshilfen ist die der Heimerziehung, die auch im §34 SGB VIII gesetzlich geregelt ist. Auch die Vollzeitpflege (§33 SGB VIII) und die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§35 SGB VIII) sind Gebiete der stationären KuJH (vgl. .Farrenberg/Schulz 2021).
Die Fremdunterbringung ersetzt zunächst die Lebenswelt der Adressat*innen. Sie wird nicht vollkommen neugestaltet, sondern es wird weiterhin versucht Adressat*innen größtmöglich in ihrer individuellen Lebenswelt zu belassen. Mit den Dimensionen Raum, Zeit und soziale Beziehung kann dies veranschaulicht werden. Beispielsweise durch eine Veränderung des Wohnortes, da die Adressat*innen für eine gewisse Zeit in einer Fremdunterbringung untergebracht werden, entsteht eine räumliche Distanz zu den Eltern und unter Umständen auch zu ihrem individuellen Umfeld. Dies kann je nach Region unterschiedlich sein und ist ein Kritikpunkt in der Regionalisierung, da es immer noch wohnortferne Fremdunterbringungen gibt, die die Adressat*innen vollkommen aus ihren Alltag nehmen. Im Idealfall wird versucht den individuellen Bedürfnissen der Adressat*innen gerecht zu werden. Dadurch bleiben sie beispielsweise weiterhin in ihren Schulen, um weiterhin den Kontakt zu ihren Schulkameraden oder Peer-Groups halten zu können. Soziale Beziehungen der Adressat*innen sind ein wichtiger Bestandpunkt, da die sozialen Bezüge eine starke Ressource für die Adressat*innen sein können und in schwierigen Situationen Unterstützung bieten. Auch der Kontakt zu den Herkunftsfamilien behalten die meisten Adressat*innen bei. Während bei der Dimension der Zeit vor allem die organisatorische Zeit im Vordergrund steht, also wie lange die jeweilige Adressat*innen in der Wohngruppe bleiben, hat jede*r Adressat*in ein individuelle Zeitgefühl. Gleichzeitig ist die zeitliche Dimension bei der Herkunftsfamilie wichtig, da zum Aufnahmezeitpunkt den Fachkräften wenig über die Familiengeschichte bekannt ist und erst durch die Alltagsarbeit mehr darüber bekannt wird. (Moch 2016, Thiersch 2020)
Schon bei den Dimensionen der Alltäglichkeit, finden sich Überschneidungen mit den Handlungs- und Strukturmaxime wieder. So spielt der Raum in der Regionalisierung eine große Rolle, da er sowohl der tatsächliche Raum ist, sowie auch der mit Erfahrungen und Gefühlen besetzter Raum sein kann. Daher ist es sinnvoll, die Unterbringung naheliegend zu der Lebenswelt der Adressat*innen zu ermöglichen, damit sie weiterhin Teil ihrer Lebenswelt sein können und weiterhin ihre vorhandenen sozialen Beziehungen nutzen können. (Grunwald/Thiersch 2018, Moch 2016)
Das Maxim der Alltagsnähe spiegelt sich auch in den Dimensionen wieder. So sollte den Fachkräften bewusst sein, dass die Adressat*innen, auch noch Menschen ihres Alltags sind und den neuen Lebensort auch anfangs oft mit Skepsis und Ablehnung konfrontiert sehen. Gleichzeitig kann und soll der Alltag in den Wohngruppen nicht sein wie in den Herkunftsfamilien. Dennoch wird Unterstützung bei den besonderen Schwierigkeiten der Alltagsroutinen, wie Aufstehen und Nachtruhe, sowie der Einführung und Einhaltung von Essenszeiten (vgl. Moch 2016) angeboten. (Grunwald/Thiersch 2018, Moch 2016)
Bei der Prävention wird zunächst die sekundäre Prävention vorausgenommen um den Adressat*innen bei den akuten Herausforderungen zu unterstützen. Währenddessen wird die primäre Prävention mit gestärkt, damit sie mit eigenen Ressourcen spätere Herausforderungen bewältigen können. (Grunwald/Thiersch 2018, Moch 2016)
Die Integration/Inklusion kann dabei mit der Partizipation nebeneinanderstehen. Mittels dem Recht auf eine individuelle Lebensgestaltung, können die Adressat*innen durch eine aktive Beteiligung, sowie bei der Mitgestaltung der Hilfen und der Umsetzung, eigene Entscheidungen beschließen und ihr Leben selbst- und mitgestalten. Gleichzeitig ist die Gestaltung des Alltags in der Wohngruppe eine Herausforderung für alle Beteiligten, da die gesetzlichen und administrativen Rahmenbedingungen, sowie räumliche Bedingungen vieles vorgeben, dass nicht zu ändern ist. (Grunwald/Thiersch 2018, Moch 2016)
Die gesetzlichen und administrativen Rahmenbedingungen setzten voraus, dass Willkür und Intransparenz, innerhalb der strukturellen Offenheit, verhindert werden und dass das professionelle Handeln strukturiert bleibt. Unterdessen ist sie in diesen Strukturen offen für das individuelle Handeln der Adressat*innen. Dies kann sich durch z.B. durch die Partizipation aufzeigen. Auch das Maxim der Einmischung legt nahe, dass die Adressat*innen durch die aktive Beteiligung in den Wohngruppen ermutigt und befähigt werden die eigenen Interessen zu vertreten und dafür einzustehen. (Grunwald/Thiersch 2018, Moch 2016)
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Rahmenbedingungen der stationären Unterbringung die Lebenswelt der Adressat*innen stark eingrenzen. Zugleich wird versucht den bekannten und vertrauten Alltag so weit wie möglich bestehen zu lassen und ihnen gewisse Freiräume zu lassen oder zu schaffen. Dabei können sich die Adressat*innen miteinbringen, um ihr Leben selbst mitzugestalten. Diese Teilhabe im Unterstützungsprozess kann nur hergestellt werden, wenn die Fachkräfte der Sozialen Arbeit auf Augenhöhe mit der Adressat*innen arbeiten.
2. Vergleich der Lebensbewältigung nach Böhnisch und Lebensweltorientierung nach Thiersch
Im Folgendem wird das Konzept der Lebensbewältigung nach Lothar Böhnisch vorgestellt. Danach werden das Theorie-Praxis-Modell und die kritische Lebenskonstellation im Zusammenhang der Lebensbewältigung dargestellt. Es folgen die Aufgaben und Ziele des Konzeptes und ein kleiner Einblick in die Entstehung. Anschließend werden die personal-psychodynamischen, die relational-intermediären und die sozialstruktureIlen und sozialpolitischen Ebenen der Lebensbewältigung mit den in Zusammenhang stehenden Bewältigungslagen näher betrachtet.
Nach der Skizzierung der Lebensbewältigung werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch diskutiert. Der Text endet mit einem Fazit.
2.1 Lebensbewältigung nach Lothar Böhnisch
Das Konzept der Lebensbewältigung ist nach Böhnisch/Schröer (2013) eine Theorie mittlerer Reichweite (vgl. ebd.: 57ff) und versteht sich als ein Theorie-Praxis-Modell. In dem Modell stehen Menschen in kritischen Lebenskonstellationen im Vordergrund, die in der Sozialen Arbeit den Großteil der Adressat*innen bilden (Böhnisch 2019). Dabei kann das Konzept unterschiedlichste Theorien, über die Theorien der Sozialen Arbeit und darüber hinaus, zusammenfassen, sie zueinander in Bezug nehmen und sie für sich selbst nutzbar machen (vgl. Stecklina/Wienforth 2020: 17ff). Es erklärt das Verhalten von Menschen in kritischen Lebenskonstellationen und macht „die gewonnenen Erkenntnisse diagnostisch brauchbar und leitet daraus konkrete Handlungsaufforderungen an die Soziale Arbeit ab“ (Böhnisch 2019: 11). Böhnisch (2019) versteht selbst unter Lebensbewältigung „das Streben nach psychosozialen Handlungsfähigkeiten in kritischen Lebenskonstellationen“ (ebd.: 20). Dabei können die Menschen, die in einer kritischen Lebenskonstellation stehen, mit ihren eigenen Ressourcen die Probleme nicht mehr oder nicht ausreichend lösen. Gegenwertig wird die psychosoziale Handlungsfähigkeit beeinträchtigt.
Das Ziel der Lebensbewältigung ist die „(Wieder-)Gewinnung von Handlungsfähigkeit“ (Stecklina/Wienforth 2020: 18), dabei gibt es nach Böhnisch drei verschiedene Arten der Handlungsfähigkeit, wovon zwei zu erreichen sind. Die Adressat*innen sollen dabei von der regressiven Handlungsfähigkeit, die „über antisoziales und/oder selbstdestruktives Verhalten“ (Böhnisch/Schröer 2018: 21) hervorsticht, zu der einfacher Handlungsfähigkeit, in der es für Personen möglich ist ihren Alltag zu organisieren und sozial verträglich zu sein (vgl. Böhnisch 2019), bis hin zu der erweiterten Handlungsfähigkeit, die es ermöglicht Unterstützungszusammenhänge und soziale Netzwerke aktiv wahrzunehmen (vgl. Böhnisch 2018: 112), gelangen. Dabei wird es schon als Erfolg gewertet, wenn Adressat*innen die einfache Handlungsfähigkeit erreichen.
Seinen Beginn hatte das Konzept in der Mitte der 1980er-Jahre mit einer Veröffentlichung von Lothar Böhnisch und Werner Schefold. In dem Fachdiskurs wollten sie für die Sozialpädagogik das damals neue Coping-Konzept anwendbar machen (vgl. Böhnisch 2019). Mit der Zeit hat Böhnisch (2019) das Konzept mit seinen Arbeiten „zu einem mehrdimensionalen Paradigma weiterentwickelt“ (ebd.: 9). Mit Karl Lenz und Wolfgang Schröer wurde das Konzept auch für die Sozialisationstheorie tauglich. Schröer hat das Konzept weiterentwickelt und dazu in den Diskursen der Sozialen Arbeit Bezug genommen. (Böhnisch 2019)
Das Konzept ist dabei in drei Ebenen unterteilt und dient dazu die „Hintergrundbedingungen psychosozialer Arbeit zu diskutieren“ (Böhnisch 2019: 11). Die drei Ebenen sind die personal-psychodynamische, relational-intermediäre und die sozialstrukturelle und sozialpolitische Ebene der Lebensbewältigung (vgl. Böhnisch/Schröer 2018). Die Ebenen können sich nur in der Theorie voneinander abgrenzen und sind in der Realität miteinander verbunden.
Die personal-psychodynamischen Ebenen des Bewältigungsverhaltens sind durch das eigene Verlangen nach Handlungsfähigkeit geordnet, bei der die Individuen „nach einem stabilen Selbstwert, entsprechender sozialer Anerkennung und der Erfahrung von Selbstwirksamkeit“ (Böhnisch/Schröer 2018: 320) streben. Wenn das Streben nach Handlungsfähigkeit dabei nicht den gesellschaftlichen Normen zusagt und die Hilflosigkeit nicht thematisiert werden kann, kommt es zu einer Abspaltung. Dabei gibt es verschiedene Kompensationen. Die Kompensationen, die zu einem antisozialen und (selbst-)destruktiven Handeln führen, sind die Gründe für die Soziale Arbeit, um zu interagieren und helfen. Dabei neigen Männer und Frauen zu unterschiedlichen Kompensationen.
Das Bewältigungsverhalten wird dabei von den Bewältigungskulturen in ihren sozialen Beziehungen und Räumen beeinflusst. Dabei entscheidet sich wie und ob kritische Lebenskonstellationen angesprochen werden können. In diesen Milieukontexten kann sich, in der relational-intermediäre Ebene, die Handlungsfähigkeit zu einem erweiterten Bewältigungsverhalten in offenen Milieus bilden oder zu regressiven Bewältigungsverhalten in geschlossenen Milieus (vgl. Böhnisch/Schröer 2013). Dabei stellt das Konzept der Bewältigungskultur einen Zugang dar, der wiederholte Situationskontexte „betrachtet und die darin sichtbaren kulturellen Aufladungen beschreibt“ (Böhnisch/Schröer 2013: 321). Die Milieus, in denen ein Individuum beeinflusst werden kann, können „beispielsweise in der Familie, in Peergroups und Freundeskreisen sowie Arbeitskolleg*innen [sein]“ (Stecklina/Wienforth 2020: 23).
In der sozialstruktureIlen und sozialpolitischen Ebene der gesellschaftlichen Entgrenzung von Bewältigungskonstellationen geht es um die Lebens- und Bewältigungslagen. In beiden Konzepten besteht das Ziel sozial riskante Lebensverhältnisse und ungleiche Lebenschancen zu verbessern (vgl. Böhnisch/Schröer 2013: 40). Innerhalb der Lebenslage agiert vor allem die Sozialpolitik sozialstrukturell. Die Sozialpolitik verschafft sich dabei über verschiedenen Sozialberichterstattungen Zugänge zu den Lebenslagen der Menschen. Es geht dabei um die Lebensverhältnisse und die im Zusammenhang stehende ökonomisch-sozialen Ressourcen. Die Lebenslage kann dabei die Gestaltungen der biografisch unterschiedlichen sozialen Spielräume, wie z.B. Einkommen, Wohnverhältnisse und Kontakte oder die gesellschaftliche Entwicklung thematisieren (vgl. Böhnisch 2019: 96ff, Böhnisch/Schröer 2013). Für die Soziale Arbeit ist das Konzept der Bewältigungslage der sozialpädagogische Zugang zu den Lebenslagen, da sie grundsätzlich personenbezogen agiert und eher die sozialen und kulturellen Räume beeinflussen kann. Die Soziale Arbeit nutzt dabei die Lebenslage als Brücke und als Hintergrundwissen, um die Grenzen der sozialpädagogischen Intervention zu formulieren. Dabei nutzt die Soziale Arbeit die Mittel Sprache, Beziehung, Zeit und Raum als Zugang zu den Lebenslagen (Böhnisch 2013: 45). Des Weiteren hat die Bewältigungslage vier Dimensionen: Abhängigkeit, Ausdruck, Aneignung und Anerkennung, die eng miteinander verbunden sind (Böhnisch/Schröer 2013). Sie heben „die Strukturen des persönlichen Lebens hervor“ (Böhnisch/Schröer 2018: 322) und sind mit der Lebenslage eng verflochten.
Innerhalb der vier Dimensionen geht es um die Chancen und um die Verwehrungen der jeweiligen Dimensionen. So geht es bei dem Ausdruck darum, dass Individuen einen Abspaltungsdruck erzeugen, wenn sie ihre Hilflosigkeit nicht über die Sprache ausdrücken können. Dabei haben Frauen eher einen nach innen gerichteten und Männer eine nach außen gerichteten Abspaltungsdruck. Frauen beziehen meist das Problem auf sich selbst und müssen daher lernen anders über ihre Probleme zu sprechen, während Männer meistens versuchen ihre Hilflosigkeit nach außen, durch Stummheit und Sprachlosigkeit, abzuspalten (vgl. Böhnisch & Schröer; 2013: 50f). Wenn soziale Probleme hingegen anerkannt sind und nicht den Einzelnen angelastet werden, können die kritischen Lebenskonstellationen thematisiert und damit ausgedrückt werden. Dadurch haben Menschen die Chance sich sozial zu integrieren. Somit steht die Dimension im direkten Bezug zu der Dimension der Anerkennung. Gleichzeitig sind die Bewältigungskulturen bedeutend, da dort die Frage aufkommt, ob das Individuum genügend Anerkennung von den Bezugspersonen erhält und in welchen Formen und Möglichkeiten dies passiert. Zudem muss auf die Zwangs- und Gewaltverhältnissen achtgegeben werden, da in diesen Verhältnissen oft Abhängigkeitsverhältnisse entstehen. Um aus der Abhängigkeit zu kommen, zielt die Strategie des Empowerments auf die Selbstständigkeit der Individuen. Dabei entstehen Chancen selbstbestimmt handeln zu können.
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