Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definition und Vorstellung des „labeling approach“
3. „Labeling approach“ nach Howard S. Becker
4. Kritik und Würdigung des „labeling approach“
4.1 Kritiker zum labeling approach
4.2 Das Habituskonzept nach Bourdieu
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die vorliegende Hausarbeit im Rahmen des Seminars „Kriminologie - Von den Anfängen bis zur interdisziplinären Wissenschaft“ befasst sich mit der Theorie des „labeling approach“, die abweichendes Verhalten zu erklären versucht. In dieser Hausarbeit wird der labeling approach hinsichtlich der Fragestellung untersucht, ob sich abweichendes Verhalten tatsächlich durch diesen Ansatz erklären und/oder erfassen lässt.
Hierzu werden zunächst der Ansatz und seine Vertreter vorwiegend mithilfe von Siegfried Lamneks Werk „Theorien abweichenden Verhaltens“ (Lamnek, Siegfried (1996). Theorien abweichenden Verhaltens (6. Auflage). München: Wilhelm Fink Verlag GmbH & Co. KG) und Werner Rüthers „Abweichendes Verhalten und labeling approach“ (Rüther, Werner (1975). Abweichendes Verhalten und labeling approach. Köln u.a.: Carl Heymanns Verlag KG) erklärt bzw. vorgestellt, um einen Einblick zu schaffen. Zudem wird daraufhin besonders der Blick auf Howard Becker und sein Werk „Außenseiter“ (Becker, Howard S. (1971), übers, von Schultze, Norbert (1973). Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag GmbH) gerichtet.
Anschließend wird die Theorie anhand von Kritikern geprüft und Pierre Bour- dieus Habituskonzept hinzugezogen, das in seinem Werk „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu, Pierre (1987). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag) erläutert wird.
Die vorliegenden Literaturquellen werden hinsichtlich der Fragestellung vergleichend und ergänzend bearbeitet, um abschließend im Fazit eine Antwort auf die Fragestellung finden zu können.
2. Definition und Vorstellung des „labeling approach"
Um die Fragestellung beantworten zu können, ist es zunächst notwendig, die Grundgedanken des labeling approach nachzuzeichnen.
Der labeling approach, auch Etikettierungstheorie genannt, hat mehrere Vertreter mit mehr oder weniger verschiedenen Aussagen und sich in diesen weiterentwickelt. Diese sollen im Folgenden beschrieben werden. Hierbei wird auf die Vertreter eingegangen, die sowohl Siegfried Lamnek als auch Werner Rüther in ihren Werken als die wichtigsten vorstellen. Im Gegensatz zu anderen Theorien steht bei dieser die „explizite, statische und täterorientierte Ursachenforschung“ ((Lamnek, Siegfried (1996). Theorien abweichenden Verhaltens (6. Auflage). München: Wilhelm Fink Verlag GmbH & Co. KG, S. 102) im Vordergrund.
Lamnek beschreibt Frank Tannenbaum als Gründer des labeling approach im Jahr 1938 (vgl. Lamnek, 1996, S. 219). Er stellt fest, dass Tannenbaum der Theorie das „zentrale Element [...], das Zuschreiben der Abweichung durch soziale Reaktion auf Handeln“ (Lamnek, 1996, S. 220) bereits zugrunde legt. „The young delinquent becomes bad because he is defined as bad” (Rüther, Werner (1975). Abweichendes Verhalten und labeling approach. Köln u.a.: Carl Heymanns Verlag KG, S. 27, zit. nach: Tannenbaum, Frank (1951). Crime and Community. London et al.: o.V., S. 17f). Die Gesellschaft definiert also das Verhalten einer Person als schändlich, wodurch sie zum Abweichler wird, was wiederum abweichendes Verhalten nach sich zieht (vgl. Rüther 1975, S. 27).
Edwin Lemert nimmt diesen Ansatz dreizehn Jahre später (vgl. Lamnek, 1996, S. 219) wieder auf und entwickelt ihn weiter. Bei Lemert taucht zum ersten Mal die Differenzierung zwischen „primärer und sekundärer Devianz“ (Lamnek, 1996, S. 220) auf. Primäre Devianz ist das abweichende Verhalten der Person an sich (vgl. Rüther, 1975, S. 28), die sekundäre Devianz einer Person entwickelt sich aus der Zuschreibung - also dem labeling - einer „abweichenden Rolle [...], die sie dann selbst übernimmt und dementsprechend handelt“ (Rüther, 1975, S. 28).
Durch die Etikettierung der Person wird diese nach Lemert auch abweichend handeln und dies kann einen „Aufschaukelungsprozeß“ (Rüther, 1975, S. 28) zur Folge haben, den man sich wie einer Spirale mit sich verstärkenden Prozessen der Zuschreibung und Akzeptanz der abweichenden Rolle (vgl. Rüther, 1975, S. 28) vorstellen kann, bei dem am Ende die „stabilisierte sekundäre Abweichung“ steht. Rüther stellt fest, dass für diese bei Lemert also die „Labeling- Prozesse [...] als die entscheidenden Ursachen an unbedeutende primäre Ursachen angehängt [werden]“ (Rüther, 1975, S. 29).
Kai Erikson und John Kitsuse haben ungefähr zeitgleich mit Howard Becker, der im nächsten Kapitel dieser Arbeit gesondert behandelt wird, ebenfalls Aussagen über den labeling approach publik gemacht (vgl. Rüther, 1975, S. 32). Erikson führte als einer der ersten die Unterscheidung zwischen „offiziellen und informellen Sanktionen als Reaktionen auf Verhalten“ ein, also auf der einen Seite die (meist staatlichen) eingerichteten Organe zur Sanktionierung (vgl. Lamnek, 1996, S. 228) und auf der anderen die „unmittelbaren Interaktionspartner“ (Lamnek, 1996, S. 228). Nach Erikson finden „zunächst im informellen, mikrosozialen Bereich die Etikettierungsprozesse“ (Lamnek, 1996, S. 228) statt, „um dann auf den makrosozialen, offiziellen Reaktionsbereich überzuspringen“ (Lamnek, 1996, S. 228).
Kitsuse beschreibt ebenfalls einen Etikettierungsprozess in der Form, dass Verhalten und Personen als abweichend etikettiert werden und daher auch so behandeltwerden (vgl. Lamnek, 1996, S. 229).
Fritz Sack dagegen hat die Theorie des labeling approach radikalisiert, weshalb seine Ausführungen als „radikaler Ansatz“ (Lamnek, 1996, S. 229) bekannt sind. Der zentrale Punkt, der Sack von den anderen vorgestellten Vertretern unterscheidet, ist die „Ablehnung aller anderen Ursachenforschung“ (Lamnek, 1996, S. 229), als die der sekundären Devianz. Nach Sack entsteht abweichendes Verhalten also rein durch die Etikettierung einer Person als abweichend (vgl. Lamnek, 1996, S. 229).
Sack ist außerdem der Ansicht, dass Normen nicht eindeutig definierbar sind und es viele Modifikationen dieser gibt (vgl. Rüther, 1975, S. 46f.). Zudem handelt fastjeder Mensch mal gesetzeswidrig, daher ist es erst durch die Etikettierung möglich, zwischen abweichenden und normkonformen Personen zu unterscheiden (vgl. Rüther, 1975, S. 47). Hierbei spielt der Zufall (vgl. Rüther, 1975, S. 47) und auch der „Machtaspekt“ (Lamnek, 1996, S. 231) eine entscheidende Rolle. Sack folgert, dass die Theorie des labeling approach „in eine übergeordnete, gesamtgesellschaftliche Theorie eingebettet werden“ muss (Lamnek, 1996, S. 231) und dass die Sozialstruktur der zentrale Faktor für die Streuung von abweichendem Verhalten (vgl. Rüther, 1975, S. 49) darstellt.
3. „Labeling approach" nach Howard S. Becker
In seinem Werk „Außenseiter“ (Becker, Howard S. (1971), übers, von Schultze, Norbert (1973). Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag GmbH) hat Howard Becker seine Ausführungen über abweichendes Verhalten festgehalten. Lamnek beschreibt seine Gedanken zum labeling approach als die „Grundlegung“ (Lamnek, 1996, S. 224) diesen, weshalb in dieser Arbeit ein Schwerpunkt bei Becker gesetzt wird.
Becker definiert abweichendes Verhalten als von der Gesellschaft konstruiert. Hierbei grenzt er von der Annahme ab, dass eine Person durch die sozialen Umstände abweichendes Verhalten zeigt (Becker, 1971, S. 8). Er stellt fest, dass „gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, daß sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert“ (Becker, 1971, S. 8).
Nach Becker ist abweichendes Verhalten zudem „nicht einfach eine Qualität“ (Becker, 1971, S. 12), sondern „vielmehr das Produkt eines Prozesses, der die Reaktion anderer Menschen mit einschließt“ (Becker, 1971, S. 12). Regelverletzendes Verhalten ist lediglich der Verstoß gegen Regeln, abweichendes Verhalten ist also erst dann so zu bezeichnen, wenn andere Menschen es als ein solchesansehen(Becker, 1971, S. 13).
Nach Rüther gibt Becker also zwei Dimensionen vor: Zum einen die „Normsetzung [als das,] was als regelverletzend und abweichend zu gelten hat“ (Rüther, 1975, S. 30) und zum anderen die „selektierende Normanwendung“ (Rüther, 1975, S. 30), bei der der Verstoß gegen die Regeln auch für abweichend erklärt wird (vgl. Rüther, 1975, S. 30).
Becker stellt mithilfe dieser Dimensionen eine Tabelle auf, um „Kategorien zur Unterscheidung verschiedener Arten abweichenden Verhaltens zu bilden“ (Becker, 1971, S. 17). Lamnek beschreibt die „vier Möglichkeiten der Etikettierung“ (Lamnek, 1996, S. 225) wie folgt: Erstens gibt es ein Verhalten, dass „nicht gegen die Regel [verstößt] und [...] auch nicht als abweichend empfunden [wird]“ (Lamnek, 1996, S. 225), zweitens, dass „ein Verhalten gegen die Regel [verstößt] und [...] als abweichend empfunden [wird]“ (Lamnek, 1996, S. 225), drittens, dass „ein Verhalten gegen die Regel [verstößt], [...] aber nicht als abweichend empfunden [wird]“ (Lamnek, 1996, S. 225) und schließlich als vierte Möglichkeit „ein Verhalten [,das] nicht gegen die Regel [verstößt], [...] aber als abweichend empfunden [wird]“ (Lamnek, 1996, S. 225).
Als Faktoren für die Entwicklung abweichenden Verhaltens stellt Becker den Begriff der „Laufbahn“ (Becker, 1971, S. 21) auf und formuliert die „LaufbahnBedingungen [...] sowohl [als] objektive Fakten der Sozialstruktur wie auch Änderungen der Einstellungen, Motivationen und Wünsche des Individuums“ (Becker, 1971, S. 21).
Nach Becker wird jemand also von der Gesellschaft als abweichend etikettiert und entsprechend behandelt (also beispielsweise ausgeschlossen). Das kann zur Folge haben, dass eine sich selbst erfüllende Prophezeiung geschaffen wird (vgl. Becker, 1971, S. 30). Lamnek macht darauf aufmerksam, dass diese aber nicht aufgrund der Bezeichnung als abweichend entsteht, sondern durch „die Einschränkung der konformen Verhaltensweisen (evtl, sogar Denkmöglichkeiten) die dem Betroffenen keine andere Wahl läßt, als sich abweichend zu verhalten, sich damit abzufmden und letztendlich eine entsprechende abweichende Identitätzu entwickeln“ (Lamnek, 1996, S. 227).
Seine Thesen begründet Becker auf der Forschung von abweichendem Verhalten bei Marihuana-Konsumenten und Tanzmusikern, die er explizit in seinem bereits darauf verwiesenen Werk „Außenseiter“ (Becker, 1971, S. 36 - 108) vorstellt.
In Abgrenzung zu anderen Vertretern lässt sich sagen, dass er zu den ,, „gemäßigten“ labeling-Theoretikern“ (Lamnek, 1996, S. 103) gezählt wird, da er andere Perspektiven nicht ausschließt, wie beispielsweise Fritz Sack das tut (vgl. Lamnek, 1996, S. 103). Zudem ist bei Becker deutlich unterstrichen, dass die „Normsetzung von politischer und wirtschaftlicher Macht abhängt“ (Lamnek, 1996, S. 102).
4. Kritik und Würdigung des „labeling approach“
4.1 Kritiker zum labeling approach
Die Frage, inwiefern der labeling approach abweichendes Verhalten erklären kann, verlangt nach Kritikpunkten, also Vor- und Nachteilen, des Ansatzes. Lamnek schreibt dem labeling approach „breitere Erkenntnismöglichkeiten, weil zwischen primärer und sekundärer Devianz unterschieden wird“ (Lamnek, 1996, S. 257) zu. Zudem sieht er „Erklärungspotential“ (Lamnek, 1996, S. 260), da durch neue Blickwinkel die Aufmerksamkeit auf „soziologisch bedeutsame Phänomene“ (Lamnek, 1996, S. 260) geleitet wird.
Ein Kritikpunkt, der sowohl bei Lamnek (Lamnek, 1996, S. 260), als auch bei Rüther (vgl. Rüther, 1975, S. 39f.) auftaucht, ist der Aspekt der Einseitigkeit. Der labeling approach legt Kritikern zufolge eine grundsätzliche Ablehnung von Kontrollorganen vor (vgl. Rüther, 1975, S. 39), was sich „wegen der Ideologiegefahr [als] sehr bedenklich“ (Rüther, 1975, S. 40) erweist. Daher begründet sich der Ansatz zu sehr auf Emotionen und schafft eher ein „sentimentali- siertes Bild vom Abweichenden als vom Opfer“ (Rüther, 1975, S. 40), was nach Rüther allerdings nicht Beckers Auffassung entspricht, da dieser sich davon differenziert, „diese Identifikation mit den »underdogs« in romantisierende Sentimentalität abgleiten zu lassen“ (Rüther, 1975, S. 40).
Zudem zeigt sich das Problem der Einseitigkeit nach Rüther darin, dass der Ansatz „nur den prozessualen Ablauf der Umweltreaktionen berücksichtigft] und die sozialstrukturellen Bedingungskonstellationen für die anfängliche >primary deviation< unberücksichtigt l[ässt]“ (Rüther, 1975, S. 38). Nach Rüther spricht sich auch Mankoff dafür aus, dass die Gründe für die primäre Devianz stärker untersucht werden müssen, statt sich nur auf den Etikettierungsprozess zu fokussieren (vgl. Rüther, 1975, S. 39).
Es wird hierzu zudem angemerkt, dass die Theorie des labeling approach die „objektiv feststellbaren Normen und Regeln“ (Rüther, 1975, S. 36) als Erklärung für das abweichende Verhalten außen vor lässt, da „das Bestehen von interaktionsinternen Verhaltensregeln [nicht bedeute[t]], daß diese nicht auch von umfassendenNormierungen abhängig sein können“ (Rüther, 1975, S. 37).
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