Mit Kindern auf dem Weg in die Stille

Einsatz und Erprobung ausgewählter Übungen, um die Kinder für die Stille zu sensibilisieren und zur Förderung einer ruhigen und konzentrierten Lernatmosphäre


Examensarbeit, 2008

53 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. EINLEITUNG

2. THEORETISCHER HINTERGRUND
2.1 Zum Verständnis von Stille und Übungen zur Stille
2.1.1 Stille nach Elisabeth Kühnberger
2.1.2 Stille nach Maria Montessori
2.1.3 Stille nach Hubertus Halbfas
2.1.4 Die Bedeutung für heute
2.1.5 Abschließender Kommentar
2.2 Begründungen für Übungen zur Stille
2.2.1 Veränderte Lebensbedingungen
2.2.2 Funktionen des Gehirns
2.2.3 Zusammenfassender Kommentar

3. HAUPTTEIL
3.1 Zur Ausgangssituation der Lerngruppe
3. 2 Ziele und Chancen
3.3 Lehrerfunktionen
3.3.1 Unterrichten
3.3.2 Erziehen
3.3.3 Innovieren und Evaluieren
3.4 Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die Durchführung
3.4.1 Die Eltern
3.4.2 Die Lehrkraft
3.4.3 Die Schülerinnen und Schüler
3.4.4 Die räumliche Atmosphäre
3.4.5 Der gewählte Zeitpunkt und die Dauer
3.4.6 Die Materialien
3.4.7 Störungen
3.5 Der Aufbau der ausgewählten Übungen
3.5.1 Phase 1: Einladung
3.5.2 Phase 2: Bei mir ankommen – mich selbst entdecken
3.5.3 Phase 3: Mich der Stille öffnen
3.5.4 Phase 4: Mich mitteilen- Erfahrungen austauschen
3.5.5 Phase 5: Abschluss- nach außen gehen
3.6. Zu den Übungen selbst
3.6.1 Übung 1: Das Hören des eigenen Namens
3.6.2 Übung 2: Wir hören dem Klang nach
3.6.3 Übung 3: Wir lauschen
3.6.4 Übung 4: Eine Minute still
3.6.5 Übung 5: Wir lauschen der Musik
3.6.6 Übung 6: Denkpause
3.6.7 Übung 7: Wir schauen in die Mitte
3.6.8 Übung 8: Stein
3.6.9 Übung 9: Kerzenflamme
3.6.10 Übung 10: Mit dem inneren Auge sehen
3.6.11 Übung 11: Erholungsreise
3.6.12 Übung 12: Stiller Händedruck im Stillekreis
3.6.13 Abschließender Kommentar

4. EVALUATION
4.1 Reflexion der Schülerinnen und Schüler
4.2.1 Gesprächsrunde
4.2.2 Fragebogen
4.2 Eigene Reflexion
4.3 Ausblick

5. Literaturverzeichnis

6. Anhang

1. EINLEITUNG

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit geht es um den Einsatz und die Erprobung ausgewählter Übungen, um die Kinder für die Stille zu sensibilisieren und zur Förderung einer ruhigen und konzentrierten Lernatmosphäre.

Gerade in unserer heutigen Zeit, welche geprägt ist von Hektik, Unruhe, Lärm und Stress, ist es von Bedeutung ein Gegengewicht zur ständigen Reizüberflu­tung zu schaffen. Daher gewinnt die Stille heute mehr an Aktualität, weil sie Entlastung verspricht, womit Erwartungen an die Qualität des Lernens verbunden werden (vgl. GABRIELEL FAUST- SIEHL 1999, 11).

Verschiedene Übungen zur Stille eröffnen Möglichkeiten, den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit zum Innehalten und Besinnen zu bieten, da sie die Hektik des Schulalltages unterbrechen (vgl. a.a.O., 7). Darüber hinaus kann die Stille das gemeinsame Leben und Lernen in der Schule bereichern.

In der vorliegenden Arbeit werden Möglichkeiten dargelegt und erprobt, wie Kinder in der Grundschule positive Stilleerfahrungen machen können, so dass sie die Stille als etwas Wohltuendes und Schönes erleben.

Ausgehend davon wird die Förderung einer ruhigen und konzentrierten Lernatmosphäre erzielt. Dieses Ziel wurde durch die Aussage eines Kindes in der Lerngruppe geprägt, welcher in einer ruhigen und konzentrierten Arbeitsphase während des Unterrichts um sich schaute und fasziniert sagte:

„Ist das schön leise. So müsste es immer sein!“

Die vorliegende Arbeit ist wie folgt strukturiert:

Zunächst wird auf den theoretischen Hintergrund eingegangen. Hierbei erfolgt eine Klärung der Begriffe Stille und Übungen zur Stille, welche in der Literatur unterschiedlich aufgefasst werden. Die verschiedenen Auffassungen werden abgegrenzt, wobei die Relevanz für diese Arbeit geklärt wird.

Anschließend wird auf die heutige Bedeutung der Stille eingegangen und es werden Begründungen für Übungen zur Stille aufgeführt. Diese beziehen sich auf die veränderten Lebensbedingungen der Kinder sowie auf die Funktionen unseres Gehirns.

Im Hauptteil erfolgt zunächst die Beschreibung der Ausgangssituation der Lerngruppe. Daran anschließend werden die Ziele und Chancen sowie die Lehrerfunktionen im Rahmen dieser Arbeit verdeutlicht. Auf wichtige Voraussetzungen und Rahmenbedingungen bei der Durchführung der Übungen zur Stille wird im Folgenden eingegangen. Anschließend wird der Aufbau der Übungen erläutert und die ausgewählten Übungen werden vorgestellt.

Das vierte Kapitel dient der Evaluation, wobei die durchgeführten Übungen hinsichtlich der Zielvorstellungen überprüft werden. Hierbei erfolgt zunächst die Reflexion der Schülerinnen und Schüler. Die Ergebnisse einer Gesprächsrunde mit der Lerngruppe sowie die Auswertung eines Fragebogens werden darge­stellt. Daran schließt sich die eigene Reflexion der Arbeit, mit Überprüfung der angestrebten Ziele, an. Es wird auf die Auswertungsergebnisse und der Angemessenheit der Auswahl und Reihenfolge der Übungen eingegangen.

Im abschließenden Ausblick werden mögliche Konsequenzen für die Weiterarbeit dargelegt.

2. THEORETISCHER HINTERGRUND

2.1 Zum Verständnis von Stille und Übungen zur Stille

Der Begriff Stille ist hier nicht zu verstehen als jede Abwesenheit von Geräuschen und Lärm, sondern vielmehr wird mit Stille ein Schweigen, eine Konzentration und eine innere Haltung verstanden, in der man die Möglichkeit erlangen kann, sich zu sammeln und innere Ruhe zu genießen (vgl. MANFRED REICHGELD 1997, 11). Kindern sollen Stilleerfahrungen ermöglicht werden, so dass sie innerliche Ruhe erleben und eine Stille erfahren, die nicht aufgezwun­gen ist, sondern, die sie beispielsweise erfahren können, wenn im Raum das Ticken einer Uhr wahrgenommen wird (vgl. MONIKA SCHNEIDER/ RALPH SCHNEIDER 1994, 10). Durch das konzentrierte Hören und Sehen kann ein Zustand der Sammlung und Konzentration erreicht werden, da die Sinne geschärft und die Wahrnehmung sensibilisiert wird (vgl. ebd.).

Übungen zur Stille bzw. Stilleübungen, wie sie in der Literatur oft bezeichnet werden, sind eine Hilfe, ein Weg, um solche Stilleerfahrungen zu ermöglichen und somit einen Zustand der inneren Sammlung und Konzentration anzubahnen.

Viele Pädagogen beschäftigten sich in der Vergangenheit mit der Stille und ihrer Bedeutung für das schulische Lernen. In der Literatur gibt es zahlreiche verschiedene Auffassungen und Konzepte der Stille. Oft zitiert wird jedoch die Reformpädagogin Maria Montessori, da sich viele Pädagogen an ihrem Konzept orientieren.

„Maria Montessori wird auch deshalb so ausführlich zitiert, weil ihre Berichte und Darstellungen angesichts einer Schule, die häufig überwiegend von Unruhe und Hektik geprägt erscheint, faszinierend wirken: Stille als Begleitphänomen von Lernen und Unterricht erscheint ungewöhnlich und wirkt anziehend auf Lehrer und Schüler.“

(FAUST- SIEHL 1999, 10).

Die Stille verspricht Entlastung und eine Steigerung der Qualität des Lernens (vgl. ebd. f.). Daher gewinnen Überlegungen zur Stille und verschiedene Übungen dazu heute wieder mehr an Aktualität (vgl. a.a.O., 21f.). Da es zahl-reiche unterschiedliche Konzepte zur Stille gibt, wird im Folgenden ein kleiner Überblick verschaffen und es werden drei prägende und bedeutsame Konzeptionen der Stille vorgestellt.

2.1.1 Stille nach Elisabeth Kühnberger

Bereits 1984 brachte ELISABETH KÜHNBERGER ihre Erfahrungen mit der Stille und Stilleübungen in die aktuelle Diskussion der Grundschulpädagogik ein (vgl. a.a.O., 22). Als Wirkung der Stilleübung beschreibt sie eine Beruhigung und Entspannung der Atmosphäre innerhalb der Klasse, so dass den Kindern ein konzentriertes Arbeiten im Unterricht möglich ist, wobei die Stille als angenehm und wohltuend empfunden wird (vgl. ebd.). KÜHNBERGER „[…] setzt Stilleübungen in der Kombination mit vorausgehenden gebundenen Bewegungsspielen zum Abbau der motorischen Unruhe ein.“ (ebd.). Sie schafft regelmäßige Phasen der Stille mit dem Ziel „[…] die Kinder ihrer Klasse zu Selbstdisziplin, Konzentration, Rücksichtnahme, Regelbetrachtung und zum Lernen anzuleiten.“ (ebd.), wobei sich die Kinder in der Stille vor allem auf Geräusche, also auf andere Bewusstseinsinhalte konzentrieren. Nach und nach wird die Stille so in den Unterricht integriert, dass sie als Voraussetzung und Begleiterscheinung von z. B. Entspannungsübungen und Konzentrations­aufgaben wird (vgl. a.a.O., 23).

Abschließend lässt sich sagen, dass KÜHNBERGER die Stille als Teil der Klassendisziplin ansieht.

2.1.2 Stille nach Maria Montessori

MARIA MONTESSORI geht von einer tiefen inneren Bereitschaft des Kindes zur Stille aus und betont, dass Kinder die Stille lieben und sie sich wünschen (vgl. a.a.O., 24). Daher sind Kinder in der Lage die Übungen mit einer diszipli­nierten Selbstbeherrschung durchzuführen, wobei sie anschließend mit einem intensiven Gefühl des Glücks und der Freude belohnt werden (vgl. ebd.).

Durch Wiederholungen der Übungen wird die Fähigkeit zur Stille und Selbst­kontrolle verfeinert (vgl. ebd.). Nach MONTESSORI erleben die Kinder in der Stille „[…] ihr inneres Wesen und darin bisher verborgene Fähigkeiten.“ (ebd.), welche durch die Stille gefördert und entwickelt werden. Der Mensch und die Menschwerdung stehen hierbei im Zentrum, da eine innere Verwandlung ange­strebt wird (vgl. DIETLINDE GRANZER 2000, 164f.). Eine bekannte Übung zur Stille ist z. B, das Hören des eigenen Namens, verbunden mit motorischer

Schulung. So ruft MONTESSORI die Kinder leise bei ihrem Namen in der Stille zu sich (vgl. FAUST- SIEHL 1999, 24). Die Kinder sind während der Übungen hoch konzentriert und verfügen über eine enorme Willensanstrengung, so dass

äußere Störungen sie nicht ablenken. Dies „[…] ähnelt der Versenkung in Aufgaben und Tätigkeiten, die Maria Montessori als >>Polarisation der Aufmerksamkeit<< bezeichnet.“ (a.a.O., 25). Die Kinder führen eine selbst- gewählte Tätigkeit immer wieder aus, bis sie innerlich zu einem Abschluss gekommen sind (vgl. ebd.).

Unter Stille versteht MONTESSORI die Folge einer gelungenen Stilleübung sowie von Konzentration, wobei sie den Begriff Stilleübungen synonym für Schweigelektion verwendet (vgl. GRANZER 2000, 158ff.). Die Übungen haben eine feste Struktur und zählen zu den Sinnesübungen, welche ein fundierter Teil der ästhetischen Bildung darstellen (vgl. a.a.O., 161).

Zusammenfassend lässt sich anmerken, dass MARIA MONTESSORIS Stille­übungen „[…] im Rahmen ihrer pädagogischen Gesamtkonzeption zu sehen“ (FAUST- SIEHL 1999, 25) sind, wobei der Mensch und die Menschwerdung im Zentrum stehen (vgl. GRANZER 2000, 164). Ausgehend von einer tiefen inneren Bereitschaft der Kinder, haben MONTESSORIS Übungen das Ziel, „[…] gemeinsam zur Stille und zur Ruhe zu kommen, indem die Wahrnehmung sensibilisiert und die Bewegung bewußt kontrolliert wird.“ (a.a.O., 162).

2.1.3 Stille nach Hubertus Halbfas

Der Theologe, Religions- und Schulpädagoge HUBERTUS HALBFAS schließt sich den Ausführungen MONTESSORIS an und erklärt Stille als den Weg zur eigenen inneren Mitte und zu Gott (vgl. FAUST- SIEHL 1999, 26).

Die Stille führt zu Gott hin und ist „[…] als Beitrag zu einer >>Kultur << des Lebens und Lernens in einer kinderfreundlichen Schule zu verstehen.“ (ebd.). Nach HALBFAS führt die Stille zu innerer Einkehr und eröffnet somit den Weg zu Gott, was er mit einem „Sprung in den Brunnen“ vergleicht (vgl. a.a.O., 27).

„Abkehr von den äußerlichen Attraktionen, Hinwendung zur unbekannten, erschreckenden eigenen Tiefe, Erfahrung der >>inneren Zeit<< und der >>inneren Räume<<. Die Stille liegt dabei in der Tiefe, und sie führt in die Tiefe. Vom Brunnengrund bringt derjenige, der den Sprung gewagt hat, die Stille mit.“ (a.a.O., 27f.).

HALBFAS nimmt bewusst den Begriff Stilleübung auf und macht deutlich, dass durch die Übungen nicht eine Leistung angestrebt wird, sondern vielmehr menschliche Reife und innerliche Veränderung (vgl. a.a.O., 28). Auch er schließt Sinnesübungen mit ein, durch die den Kindern neue Erfahrungen ge- boten werden. Die benötigten Gegenstände sind meist Naturobjekte und

vermeiden die äußerliche Attraktivität (vgl. ebd.).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass HALBFAS’ Verständnis von Stille

und Stilleübungen sich an dem Konzept von MARIA MONTESSORI orientieren und auch als Teil einer Gesamtkonzeption gesehen werden muss. HALBFAS sieht das schulische Leben und Lernen als Ganzes und nennt als Ziel der Stille den Weg zu sich selbst und somit auch zu Gott (vgl. a.a.O. 29).

2.1.4 Die Bedeutung für heute

Nach FAUST- SIEHL hat die Stille für Lehrer und Kinder heute in der Schule zwei wichtige Funktionen. Zum Einen gleicht sie die Unruhe, den Lärm und den Stress der heutigen Lebenswelt aus, indem sie einen Gegenpol der Ruhe und der Eigentätigkeit setzt. Dies beschreibt FAUST- SIEHL als ausgleichende Funktion (vgl. ebd.). Durch die Stille werden Situationen der Sammlung und Besinnung ermöglicht, was als wohltuend empfunden wird (vgl. a.a.O., 32). Des Weiteren ist Stille „[…] ein eigenes, aktives inneres Erleben.“ (a.a.O., 33), was gerade in unserer heutigen Zeit von großer Bedeutung ist.

Zum Anderen stellt FAUST- SIEHL eine bildende und persönlichkeitsfördernde Funktion der Stille dar, weil neue Wege zu sich selbst und somit zu innerer Veränderung eröffnet werden (vgl. a.a.O, 29). Die Aufmerksamkeit ist bei den Übungen nach innen gerichtet. Stilleerfahrungen eröffnen neue Seh- und Wahrnehmungsmöglichkeiten, gerade auch aufgrund des Austausches untereinander nach den Übungen (ebd. f.).

Es wird allerdings davor gewarnt, dass Stille nicht als Disziplinierungstechnik missbraucht werden darf (vgl. a.a.O., 30). Es geht nicht darum, dass die Kinder

das Reden und den Lärm einstellen, sondern vielmehr um Wege nach innen, welche durch eine Disziplinierungstechnik nicht erreicht werden können, vor allem auch bedingt durch die gründliche Vorbereitung der Lehrkraft auf die Übungen. Ferner wäre eine Erziehung der Kinder zum Schweigen und zum Gehorsam aufgrund den Lebensbedingungen und der heutigen Gesellschaft nicht angemessen (vgl. ebd.).

2.1.5 Abschließender Kommentar

Im Rahmen dieser Arbeit werde ich mich an die Auffassung der Stille von FAUST- SIEHL halten, welche sich an den Ausführungen von MONTESSORI und HALBFAS orientiert. Gerade auch aufgrund der veränderten Lebensbedin-­

gungen der Kinder sehe ich die Notwendigkeit einer ausgleichenden Funktion der Stille, um einen Gegenpol der Ruhe und Eigentätigkeit zu schaffen.

Im weiteren Verlauf wird der Begriff Stilleübung bewusst nicht verwendet, da er von vielen Pädagogen anders aufgefasst wird und somit Fehldeutungen aus­geschlossen werden sollen. Es wird der Ausdruck Übung bzw. Übungen zur Stille benutzt, womit Übungen bezeichnet werden, die Wege in die Stille eröffnen und den Auffassungen von MONTESSORI, HALBFAS und FAUST- SIEHL zusagen und somit auch Sinnesübungen mit einbeziehen.

2.2 Begründungen für Übungen zur Stille

2.2.1 Veränderte Lebensbedingungen

Kinder wachsen heute unter veränderten Lebensbedingungen auf, in der sie vermehrt Hektik, Stress und Unruhe erleben. In unserer Gesellschaft haben sich in den letzten Jahrzehnten gravierende Veränderungen in fast allen Le­bensbereichen ereignet, die sich auch auf die Kindheit auswirken (vgl. FAUST- SIEHL 1999, 13). Diese Auswirkungen geben zwar auch neue Chancen, doch sie beeinflussen die Entwicklungen der Kinder zugleich negativ (vgl. ebd.).

Durch die Wandlung der Siedlungs- und Wohnungsstrukturen, die räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten sowie den zunehmenden Verkehr und die damit verbundenen Gefahren, wachsen Kinder heute in einem veränderten Le­bensumfeld auf und haben weniger Möglichkeiten frei draußen zu spielen (vgl. a.a.O., S.15). „Die Umwelt ist so verändert, dass für viele Kinder ein

unbeaufsichtigtes Spielen draußen kaum noch möglich ist.“ (CHRISTINE MANN 2001, 24). Andererseits wird Kindern in den Wohnungen kaum noch

Raum gegeben für ihre natürliche Lebendigkeit, so dass ihnen einzelne Inseln, außerhalb des Wohnraumes, zugewiesen werden, wie z.B. Spielplätze und Sportvereine, welche jedoch oft langweilig und in ihren Möglichkeiten begrenzt sind (vgl. WALTER BÄRSCH 1988, 7).

Darüber hinaus nimmt die Geburtenrate ab und damit auch die Kinderzahl in einem Wohnbereich, so dass heute spielende Großgruppen von Kindern immer seltener werden (vgl. FAUST- SIEHL 1999, 16). Daher spielen Kinder heute, allein oder zu zweit, meist in den häuslichen Räumen oder auch in anderen Freizeiteinrichtungen ihres Lebensraumes (vgl. ebd.). WILHELM TOPSCH verdeutlicht, dass der Aspekt des Rückgangs der Geburtenrate in der Bundesre­publik Deutschland „[…] von einer zunehmenden Pluralität der

Lebensformen und Familienkonstellationen begleitet und überlagert“ (WILHELM TOPSCH 2004, 34) wird. Immer weniger treffen sich Kinder

spontan in der Öffentlichkeit und verbringen insgesamt weniger Zeit miteinander (vgl. a.a.O., 36). „Der Gesamtraum bleibt unerobert, er bildet keine sinnlich erfahrbare Einheit, die sich Kinder unmittelbar und in eigener Verfügung erschließen können.“ (FAUST- SIEHL 1999, 16). Immer weniger finden Kinder heute natürliche Spielfelder, wodurch ein für sie wichtiger Erfahrungsraum verloren geht, „[…] in dem sie durch Beobachtung, Versuch und Irrtum die Natur erfahren und ihre grundlegenden Gesetze kennenlernen können.“ (GABRIELA HOPPE 1995, 24).

Neben einem veränderten Raumerleben in unserer Gesellschaft sind veränderte Familienstrukturen und die Institutionalisierung der Freizeit zu beob-achten. Dadurch erleben Kinder heute vermehrt Zeitorganisation und Hektik (vgl. FAUST- SIEHL 1999., 17f.). Der Spielraum für Ungebundenheit und zeitenthobene Spontaneität verringert sich und es muss sich zum Spielen, Sport etc. verabredet werden (vgl. a.a.O., S. 19).

Als weiteren wichtigen Faktor der veränderten Lebensbedingungen sind der hohe Konsum in allen Bereichen sowie die vielfältigen Medieneinflüsse zu nen­nen (vgl. BÄRSCH,1988, 7). Das umfangreiche Spielzeugangebot sowie vor allem sämtliche elektronische Unterhaltungsangebote wie z.B. Fernsehen, Computer etc. gehören längst in die Alltagswelt der Kinder (vgl. ebd.). Infolge­dessen verarmt die Eigentätigkeit der Kinder und ein Verlust von Produktivität und Kreativität ist erkennbar (vgl. a.a.O., 9). „Vorgefertigte Spielzeuge und

Spielzeugwelten, deren Einzelelemente nur noch gesammelt und aufgebaut, aber nicht mehr selbst entworfen und ausgestaltet werden können, schränken

die Eigentätigkeit des Kindes ein.“ (TOPSCH 2004, 37). So bleiben viele Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten ungenutzt, welche sich im natürlichen und selbst gestalteten Spiel ergeben würden (vgl. ebd.).

Durch die Medien erleben Kinder heute Erfahrungen meist nur noch aus zweiter Hand, was Auswirkungen auf die Aneignung der Wirklichkeit hat (vgl. ebd.). FAUST- SIEHL stellt dar, dass vermutlich die Erfahrungen aus zweiter Hand das eigene Erleben der Kinder besetzen und ihre Fantasien und Wahrnehmun­gen überflutet werden mit übernommenen, standardisierten Bildwelten (vgl. FAUST- SIEHL 1999, 21). Die Eigentätigkeit sowie eine direkte Erfahrung mit der Welt werden immer seltener (vgl. ebd.).

„Für viele Bereiche ist das Fernsehen zum Mittler zwischen Kind und Realität geworden. Dies bringt eine Verminderung von Eigenerfahrungen mit sich – zum Teil auch dort, wo Realerfahrungen möglich sind.“ ( TOPSCH 2004, 37).

Aufgrund dieser gesellschaftlichen Entwicklung, welche durch einen Moderni­sierungsschub geprägt ist, und den Alltag und das Zusammenleben verändert hat, ergeben sich Konsequenzen für die schulische Arbeit (vgl. FÖLLING- ALBERS 1997, 14f.). Immer häufiger erleben Lehrkräfte heute unruhige, unkonzentrierte und leicht ablenkbare Kinder. Auch Hyperaktivität und Teilleis­tungsstörungen zeigen sich vermehrt (vgl. HELMUT KÖCKENBERGER/ GUDRUN GAISER 1996, 9ff.) TOPSCH geht u.a. auf die dominierende ikoni­sche Aneignung und demzufolge eine wenig geförderte verbal- argumentative Zugangsweise beim Fernsehen ein, welche jedoch für viele Lerninhalte im Unterricht von großer Bedeutung sind (vgl. TOPSCH 2004, 38).

MARIA FÖLLING- ALBERS macht deutlich, dass die Schule ein Gegengewicht zur Reizüberflutung sowie zur emotionalen und sozialen Vernachlässigung der Kinder schaffen muss (vgl. ebd.). Eine Möglichkeit hierzu können Übungen zur Stille sein, die die Hektik des Alltags unterbrechen und Gelegenheit zum Innehalten und zur Besinnung bieten (vgl. FAUST- SIEHL 1999, 7). Darüber hinaus werden den Kindern direkte Erfahrungen geboten, so dass ein Erleben aus zweiter Hand entfällt und neue Seh- und Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnet werden (vgl. a.a.O., 32f.).

2.2.2 Funktionen des Gehirns

Das Wissen über die Funktionen des Gehirns, speziell der Aufgaben der bei­den Gehirnhälften, ist für Lehrkräfte wichtig, weil Lernen, Lernstörungen

und Verhalten vom Gehirn gesteuert werden (vgl. CHRISTINA BUCHNER 1996, 24). Unser Gehirn besteht aus zwei Hälften, welche unterschiedliche Funktionen erfüllen und unabhängig voneinander arbeiten können (vgl.

GABRIELE L. RICO 2004, 15). Ferner werden identische Informationen von den Gehirnhälften auf unterschiedliche Weise verarbeitet (vgl. a.a.O., 66). Während die eine Gehirnhälfte unter dem Aspekt der Verbundenheit von Ereignissen und Dingen denkt, unterteilt die andere Gehirnhälfte die Informationen und stellt Sequenzen sowie logische Reihen her (vgl. a.a.O., 15). So steuert die linke Gehirnhälfte das begriffliche Denken und ist für unsere rationale und logische Darstellung der Wirklichkeit zuständig (vgl. a.a.O., 16). In Bezug auf das schulische Lernen bedeutet dies, dass die linke Gehirnhälfte

arbeitet, wenn Kinder z.B. in den Fächern Mathematik und Deutsch unterrichtet werden (vgl. BUCHNER 1996, 26). Unsere linke Gehirnhälfte arbeitet linear und ist zuständig für die Bereiche der Logik, der Abstraktion und der Analytik (vgl. ebd.).

Die rechte Gehirnhälfte dagegen steuert das bildliche Denken und arbeitet ganzheitlich (vgl. RICO 2004, 70). Ihr werden z.B. die Bereiche Musik, Rhyth­mus, Kinästhetik, Raumgefühl und die menschlichen Sinne zugeordnet (vgl. BUCHNER 1996, 26).

Darüber hinaus werden auch Anspannung und Entspannung im Gehirn geregelt (vgl. KÖCKENBERGER/ GAISER 1996, 12), wobei Zustände der Anspannung von unserer linken Gehirnhälfte und Zustände der Entspannung von unserer rechten Gehirnhälfte gelenkt werden (vgl. BUCHNER 1996, 26). Betrachtet man nun das Lernen in der Schule, so wird deutlich, dass bei den Kindern meist nur die linke Gehirnhälfte beansprucht und zum Teil überstrapaziert wird, während die Bereiche der rechten Gehirnhälfte oft vernachlässigt werden (vgl. ebd.). „Die rechte Gehirnhälfte ist bisher immer Stiefkind gewesen, in der Erziehung, in der Schule, in unserem Leben insgesamt.“ (RICO 2004, 18). Als Folge der Überbeanspruchung der linken Gehirnhälfte und somit des Dauerzustands der Anspannung lassen sich, nach BUCHNER, unter-schiedliche Lernstörungen sowie Hyperaktivität bei Kindern beobachten (vgl. BUCHNER 1996, 27).

GABRIELE L. RICO verdeutlicht die Wichtigkeit des Zusammenspiels beider Gehirnhälften anhand des natürlichen Schreibens, was sich jedoch auch auf

andere schulische Lernbereiche übertragen lässt. Ihre These ist, dass man we­sentlich ungezwungener, natürlicher und müheloser schreiben kann, wenn man lernt, „[…] das natürliche rhythmische Zusammenspiel der beiden Gehirnhälften nicht zu blockieren, sondern ungehindert geschehen zu lassen.“ (RICO 2004, 10). Zwischen unseren Gehirnhälften sollte demzufolge möglichst ein in­tensives und kreatives Wechselspiel stattfinden (vgl. a.a.O., 15). So können bestmögliche Lernergebnisse erzielt werden (vgl. a.a.O, 64). CHRISTINA BUCHNER hält Lehrkräfte dazu an, die rechte Gehirnhälfte der Kinder anzure­gen und somit einen Ausgleich zwischen Anspannung und Entspannung zu schaffen, was eine Hilfe für das weitere Lernen darstellt (vgl. BUCHNER 1996, 27). An dieser Stelle sei angemerkt, dass die charakteristische Denkstruktur unserer rechten Gehirnhälfte uns zu originellen Ideen, Einsichten und

Entdeckungen verhilft (vgl. RICO 2004, 17). Übungen zur Stille bieten die Möglichkeit einen Ausgleich zu schaffen, zwischen An- und Entspannung, da

sie die rechte Gehirnhälfte anregen und somit das Wechselspiel beider Gehirnhälften fördern (vgl. BUCHNER 1996, 27).

2.2.3 Zusammenfassender Kommentar

Aufgrund der veränderten Lebensbedingungen und mit dem Wissen über die Funktionen unseres Gehirns wird deutlich, welchen Beitrag Übungen zur Stille heute in der Schule leisten können. Zum Einen unterbrechen sie die Hektik des Alltags und schaffen zugleich ein Gegengewicht zur ständigen Reizüberflutung von z.B. Fernsehen, Werbung und Konsum (vgl. S. 9). Die Übungen bieten Gelegenheiten zum Innehalten und zum Besinnen, wobei Kinder direkte Erfahrungen mit der Welt machen können (vgl. ebd.). Dadurch werden den Kindern neue Seh- und Wahrnehmungsmöglichkeiten geboten (vgl. ebd.).

Zum Anderen können Übungen zur Stille eine Möglichkeit sein, die rechte Gehirnhälfte anzuregen, welche heute beim schulischen Lernen oft vernachlässigt wird. In der Erfahrung der Stille wird somit ein Ausgleich geschaffen zwischen An- und Entspannung und gleichzeitig wird ein Wechselspiel zwischen beiden Gehirnhälften gefördert, was für das Lernen von großer Bedeutung ist (vgl. S.10f.). Diese zusammengefassten Begründungen für Übungen zur Stille machen die Möglichkeiten und Chancen im Rahmen des schulischen Lernens deutlich.

3. HAUPTTEIL

3.1 Zur Ausgangssituation der Lerngruppe

Meine Lerngruppe ist die Klasse 2 der katholischen xxx Grundschule in xxx. Die Klasse besteht aus 21 Kindern, davon 17 Mädchen und 4 Jungen. Ich erteile hier meinen eigenverantwortlichen Unterricht im Fach katholische Religionslehre und erhalte meinen Ausbildungsunterricht im Fach Deutsch.

Den Schülerinnen und Schülern sind bereits Rituale zum Stillwerden bekannt, welche in akustischer als auch in visueller Form bestehen, wie z.B. eine Trian­gel, ein Piktogramm oder auch meditative Musik. Diese Rituale werden von den Kindern akzeptiert und verfolgt. Dennoch kommt es des Öfteren vor, dass sich Unruhe, eine erhöhte Lautstärke und dementsprechend eine Abnahme von konzentriertem Arbeiten bemerkbar machen. Dies ist auch im Fach katholische Religionslehre zu beobachten, ein Fach, welches sich gerade durch eine ruhige Atmosphäre kennzeichnen sollte und mehr als andere Unterrichtsfächer auf die Stille angewiesen ist (vgl. HUBERTUS HALBFAS 1997, 180).

Während Hinführungs- und Erarbeitungsphasen im Unterricht gibt es immer wieder Unterbrechungen aufgrund der Unruhe der Kinder. Es beschweren sich einige Kinder über die Lautstärke und sie sind betrübt, da sie nicht mit dem Unterricht weitermachen können. Sie ermahnen die unruhigen und störenden Kinder und bitten darum, die Triangel schlagen zu dürfen. Ähnliches ergibt sich während Arbeitsphasen in Einzelarbeit. Die Kinder geben an, sich nicht konzentrieren zu können, da es zu laut ist.

So ist es ein Anliegen der Schülerinnen und Schüler selbst, dass während des Unterrichts bzw. in Arbeitsphasen eine angenehme Lernatmosphäre vorherrscht, so dass ein konzentriertes Arbeiten ermöglicht wird.

Ausgehend von den veränderten Lebensbedingungen (vgl. S.7ff.) ist zu erwähnen, dass die Schülerinnen und Schüler meiner Lerngruppe Hektik und Stress in ihrem Alltag erleben und diesen zwar als völlig normal, aber auch

teilweise als lästig, empfinden. So sind sie in verschiedenen Vereinen und haben unterschiedliche Termine, die eingehalten werden müssen. Zum Spielen

müssen sie sich verabreden und nutzen die ihnen zugewiesenen Inseln. Auch ein erhöhter Konsum von Fernsehen, Computerspielen etc. wird von den Kindern erwähn

[...]

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Details

Titel
Mit Kindern auf dem Weg in die Stille
Untertitel
Einsatz und Erprobung ausgewählter Übungen, um die Kinder für die Stille zu sensibilisieren und zur Förderung einer ruhigen und konzentrierten Lernatmosphäre
Note
3,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
53
Katalognummer
V133307
ISBN (eBook)
9783640397679
ISBN (Buch)
9783640397150
Dateigröße
592 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stille, Stilleübungen, Grundchule
Arbeit zitieren
Jennifer Defitowski (Autor:in), 2008, Mit Kindern auf dem Weg in die Stille , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133307

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