Zola und der Naturalismus, dargestellt am Roman Thérèse Raquin, sowie der Abhandlung Le roman expérimental


Seminararbeit, 2003

21 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Naturalismus
2.1 Definitionen
2.2 Realismus und Naturalismus
2.3 Einflüsse auf Zolas naturalistische Konzeption

3. Thérèse Raquin
3.1 Inhaltsangabe des Romans
3.2 Zolas Stellungnahme zum Roman

4. Le roman expérimental
4.1 Der Einfluss Claude Bernards
4.2 Zolas Erweiterung des Experimentalromans
4.3 Kritik an Umsetzung beider Methoden

5. Schlusswort

6. Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur

1. Einleitung

Ah! Oui, les naturalistes, ces gens qui ont les mains sales, qui veulent que tout les romans soient écrits en argot et qui choisissent de parti-pris les sujets les plus dégoûtants, dans les basses classes et les mauvais lieux.[1] Anhand dieser Äußerung aus dem roman expérimental[2] ist gut erkennbar, welche Inhalte der Naturalismus hatte und welche Ziele er verfolgte. Demnach legte auch Zola, als Hauptvertreter des französischen Naturalismus, seine Romane danach aus. Der Naturalismus beruht auf dem Realismus, der versuchte die damalige zeitgenössische Gesellschaft literarisch darzustellen. Der Naturalismus ging einen Schritt weiter, indem er alles naturgetreu dokumentierte, Kritik am Bürgertum äußerte und das moralische und wirtschaftliche Elend der Zeit beschrieb.[3] Damit sollte die Gesellschaft gewarnt und Verbesserungsvorschläge erzielt werden.

Im Folgenden wird der Schwerpunkt jedoch weniger auf dem Naturalismus und seiner Entwicklung selbst liegen. Vielmehr soll die naturalistische Konzeption Zolas an Romanbeispielen herausgearbeitet und anhand verschiedener Beispiele verdeutlicht werden. Anschaulich wird dies am Vorwort zur 2. Auflage von Thérèse Raquin[4], am Roman selbst und an Zolas literaturtheoretischer Abhandlung Le roman expérimental.

Neben dem naturalistischen Aspekt existiert in beiden Werken ein wissenschaftlicher Aspekt. Angeregt wurde Zola durch den Physiologen Claude Bernard, der in seiner Schrift Introduction à l’étude de la médecine expérimentale die Experimentalmethode in der Medizin veranschaulichte. Zola nahm ihn zum Vorbild für seine Abhandlung, in der er die experimentelle Methode Bernards auf die Literatur übertrug. Bereits in Thérèse Raquin kommen wichtige Elemente des Experimentalromans zur Geltung, obwohl dieser später entstanden ist.

Die folgende Darstellung wird mit einer kurzen Definitionsklärung einiger Begriffe beginnen und dann auf den Naturalismus zu sprechen kommen. Anschließend wird der Roman Thérèse Raquin erläutert. Dem schließt sich die Darstellung des roman expérimental an, wobei auch Bezug auf Claude Bernards Schrift genommen wird. Schließlich wird eine kritische Gegenüberstellung beider Methoden die Gesamtdarstellung beenden.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Experimentaltheorie, die auf die Medizin bezogen ist, auch auf die Literatur übertragen werden kann. Ist eine solche Anwendung sinnvoll und kann sie überhaupt funktionieren?

2. Der Naturalismus

2.1 Definitionen

Vor der näheren Auseinandersetzung mit dem Begriff „Naturalismus“, muss dieser zunächst definiert werden, um ihn im Zusammenhang mit Zola verstehen zu können.

Der Naturalismus ist: 1. eine allgemeine und überzeitliche Stiltendenz in der Kunst, die versucht, die Wirklichkeit genau abzubilden, ohne subjektive Beimischung oder Stilisierung.

2. eine europäische literarische Richtung (1870-1900), in der die genaue Beschreibung der Natur, d.h. der sinnlich erfahrbaren Erscheinungen, zum ästhetischen Prinzip erhoben ist.[5]

Des Weiteren müssen noch Begriffe erklärt werden, die für den Naturalismus grundlegend sind und die im Verlauf dieser Darstellung genannt werden.

Determinismus: Philosophische Lehre, dass der menschliche Wille rein von äußeren Ursachen bestimmt und daher nicht frei sei. Es ist die kausale Vorbestimmtheit alles Geschehens bzw. Handelns.[6]

Positivismus: In der zweiten Hälfte des 19. Jh. orientierte sich die Literatur auch, wie am vorangegangenen philosophischen Positivismus, als solchen formuliert von A. Comte (1798-1857), stärker an Gegebenem, Tatsächlichem. Sie versuchte durch die Übernahme naturwissenschaftlicher Methoden mit den expandierenden Naturwissenschaften wissenschaftlich Schritt zu halten. Vorbild für den literarhistorischen Positivismus wurde die „Geschichte der englischen Literatur“ (1864) des französischen Historikers und Philosophen H. Taine, in der das literarische Geschehen unter den Gesichtspunkten von race, milieu und moment untersucht wurde.[7]

2.2 Realismus und Naturalismus

Die Literatur des 19. Jh. wird neben der Romantik insbesondere vom Realismus und Naturalismus geprägt. Aus dem Realismus, welcher einen großen Teil dieser Epoche einnimmt, entsteht später der Naturalismus. Deshalb soll im ersten Schritt der Realismus dargestellt werden, um dann Idee, Entwicklung und Inhalt des Naturalismus im zweiten Schritt erläutern und nachvollziehen zu können.

Um 1830 entwickelte sich der Realismus in Frankreich. Diese Zeit war von restaurativen Tendenzen in Politik und Gesellschaft geprägt, d.h. man bemühte sich die feudalen Zustände wiederherzustellen, die vor der Revolution von 1789 bestanden. Des Weiteren erfasste die Industrialisierungswelle auch Frankreich und der Blick fiel jetzt erstmals auf Arbeiter und Kaufleute, die im Gegensatz zum Adel und zum Klerus standen, da sie die Arbeiterschaft der Gesellschaft bildeten. Die Literatur befasste sich alsbald mit dieser sozialen Klasse, die die breite Masse der Bevölkerung darstellte.[8] Außerdem spielte Auguste Comte eine bedeutende Rolle. In seiner Abhandlung La sociologie (1830-42, Cours de philosophie positive) geht er davon aus, dass die Menschen die positive Stufe erreicht haben. Das Wort positiv steht für das tatsächlich Gegebene. Hypothesen, die nicht nachprüfbar sind, sowie der Subjektivismus, als irreale Gefühlswelt der Romantiker, werden abgelehnt. Nur die nachprüfbare Welt alleine zählte. Die Autoren des Realismus (z.B. Balzac, Flaubert) versuchten also das Naheliegende, die Gesellschaft ihrer Zeit literarisch darzustellen.[9]

Die Romanautoren des Naturalismus (ca. 1870-1900) entwickelten die Darstellungsweise der realistischen Autoren weiter. Diese sollte dem Genauigkeitsideals des experimentierenden Naturforschers entsprechen. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit lag nun in der naturgetreuen Dokumentierung von Vorkommnissen. Der Naturalismus beschäftigte sich in der Literatur vorzugsweise mit dem moralischen und wirtschaftlichen Elend in Kleinbürgertum und Proletariat. Er behandelte die Situation der Ausgestoßenen in den Großstädten und nahm Bezug auf Armut, Krankheit, Verbrechen usw.. Der Naturalismus kritisiert besonders das Bürgertum und dessen doppelte Moral und Gleichgültigkeit gegenüber Problemen der entstehenden Industriegesellschaft. Der Naturalismus zielt auf soziales Mitgefühl des Lesers ab und liefert zum Teil auch Vorschläge zur Verbesserung der bestehenden Zustände.[10]

Hauptvertreter des europäischen Naturalismus wurde der Franzose Emile Zola (1840-1902).

2.3 Einflüsse auf Zolas naturalistische Konzeption

Erste Grundlagen für eine literarische Theorie des Naturalismus lieferten die Brüder Edmond und Jules de Goncourt (1822-1896 und 1830-1870). In ihrem Roman „Germinie Lacerteux“ (1864) beschreiben sie die Geschichte eines Dienstmädchens, das heimlich ein uneheliches Kind zur Welt bringt, dann ihre Hauptbezugsperson verliert und schließlich der Trunksucht und Prostitution verfällt.[11] Bei den Brüdern de Goncourt ist bereits der wissenschaftliche Charakter im Roman festzustellen, denn einerseits werden die damaligen Lebensverhältnisse deutlich und andererseits wird der körperliche und psychische Verfall des unglücklichen Dienstmädchens durch Trunkenheit, Diebstahl und bis hin zum Tod dargestellt und analysiert. Die Brüder de Goncourt wollten die Gesellschaft ihrer Zeit darstellen, um einen Einblick in die verschiedenen sozialen Schichten der französischen Gesellschaft zu ermöglichen.[12]

Zolas Naturtheorie basiert sowohl auf der literarischen Theorie der de Goncourts als auch auf der Erkenntnis der Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Dazu zählen der Positivismus Auguste Comtes und die Evolutionstheorie Darwins. Einen entscheidenden Einfluss auf Zola hatte der Physiologe Claude Bernard (1813-1878), der 1865 seine Introduction à l’étude de la médecine expérimentale veröffentlichte und den Zola für seinen roman expérimental zum Vorbild erklärte.[13] Aber auch die Milieutheorie des Geschichtsphilosophen Hyppolite Taines (1828-1893), der in seiner Histoire de la littérature anglaise (1863), den Menschen als ein von Milieu und Rasse bzw. Erbanlagen und sozialen Verhältnissen determiniertes Wesen darstellte, war grundlegend. Zuletzt spielte auch die Konzeption des Dr. Prosper Lucas bezüglich der Vererbungslehre eine wichtige Rolle in Zolas Roman. In seinem Traktat Traité philosophique et physiologique de l’Hérédité (1847-1850) erklärte er, dass das Erbgut jedes Menschen determiniert ist.[14] Diese verschiedenen Konzeptionen wurden erstmals in Zolas Roman Thérèse Raquin verarbeitet.

Vor diesem Hintergrund entwickelte Zola die sogenannte „naturalistische Ästhetik“, welche Kunst als literarisches Experiment mit naturwissenschaftlichen Methoden definiert, das durch genaueste Beobachtungen und Beschreibung die Zusammenhänge des menschlichen Daseins beweisen soll.[15] Die „naturalistische Ästhetik“ wurde seit 1870 erarbeitet und 1880 unter dem Titel Le roman expérimental veröffentlicht. Verwirklicht wurde diese Konzeption in Zolas zwanzigbändigem Roman-Zyklus Les Rougon-Macquart (1871-1893), der Naturgeschichte einer Familie über fünf Generationen hinweg, in der die Zusammenhänge zwischen kranker Erbmasse und Milieu, Charakter und Schicksal herausgearbeitet worden sind[16]:

En devenant femme, Adélaïde était restée la grande fille étrange qui passait à quinze ans pour une sauvage; non pas qu’elle fût folle,[…] mais il y avait en elle un manque d’équilibre entre le sang et les nerfs, une sorte de détraquement du cerveau et du cœur, qui la faisait vivre dehors de la vie ordinaire,[…].[…] Elle semblait vouloir s’afficher, chercher méchamment à ce que tout, chez elle, allât de mal en pis, lorsqu’elle obéissait avec une grande naïveté aux seules poussées de son tempérament[17].

Die beherrschenden Themen in dem Romanzyklus sind durch die industrielle Revolution hervorgerufene, radikal veränderte politische, ökonomische und soziale Verhältnisse. Der Naturalismus erhielt demnach nicht allein ästhetischen, sondern vielmehr sozialökonomischen Charakter.[18]

[...]


[1] Bafaro, Georges, Le roman réaliste et naturaliste, Paris 1995, S. 58.

[2] Zola, Emile, Le roman expérimental, 5. Auflage, Paris 1880, S. 1-53.

[3] Vgl. Schweikle, Günther und Irmgard (Hrsg.), „Naturalismus“, in: Metzlers Literaturlexikon – Begriffe und Definitionen, 2. überarb. Auflage, Stuttgart 1990, S. 320.

[4] Zola, Emile, Thérèse Raquin, hrsg. v. Robert Abirached, 2. Auflage, Paris 2001.

[5] Schweikle, „Naturalismus“, S. 320.

[6] Wahrig, Gerhard; Krämer Hildegard; Zimmermann, Harald (Hrsg.) , „Determinismus“, in: Brockhaus Wahrig Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, Stuttgart 1981, S. 205.

[7] Vgl. Schweikle, Günther und Irmgard (Hrsg.), „Positivismus“, in: Metzlers Literaturlexikon – Begriffe und Definitionen, 2. überarb. Auflage, Stuttgart 1990, S. 360.

[8] Vgl. Klingner, Edwin, Kleine Geschichte der französischen Literatur, Düsseldorf 1990, S. 33.

[9] Ebda.

[10] Vgl. Schweikle, „Naturalismus“, S. 320.

[11] Klingner, Kleine Geschichte, S. 40.

[12] Vgl. Martino, Pierre, Le Naturalisme français (1870-1895), Paris 1969, S. 22-23.

[13] Vgl. Martino, Le Naturalisme, S. 36.

[14] Vgl. Daus, Ronald, Zola und der französische Naturalismus, 1. Auflage, Stuttgart 1976, S. 39-41.

[15] Schweikle, „Naturalismus“, S. 321.

[16] Ebda.

[17] Zola, Emile, La Fortune des Rougon, édition le livre de poche, Paris 1985, S. 59.

[18] Vgl. Neuschäfer, Hans-Jörg, Populärromane im 19. Jahrhundert – Von Dumas bis Zola, München 1976, S. 165.

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Details

Titel
Zola und der Naturalismus, dargestellt am Roman Thérèse Raquin, sowie der Abhandlung Le roman expérimental
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Romanisches Seminar)
Veranstaltung
Proseminar: Emile Zola: Les Rougon-Macquart
Note
2,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
21
Katalognummer
V13371
ISBN (eBook)
9783638190442
ISBN (Buch)
9783640865253
Dateigröße
569 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zola, Naturalismus, Roman, Thérèse, Raquin, Abhandlung, Proseminar, Emile, Zola, Rougon-Macquart
Arbeit zitieren
Anne Sophie Günzel (Autor:in), 2003, Zola und der Naturalismus, dargestellt am Roman Thérèse Raquin, sowie der Abhandlung Le roman expérimental, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13371

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