Sozialräumliches Denken in der Sozialpädagogik Johann Hinrich Wicherns


Masterarbeit, 2008

44 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Sozialräumliches Denken in der Sozialpädagogik Johann Hinrich Wicherns

2. Biographisches Fundament
Wicherns Kindheit und Jugend (1808 – 1827)
2.1 Wicherns Elternhaus
2.2 Wicherns Schulzeit (1814-1823)
2.3 Ein tiefer Einschnitt: der Tod des Vaters
2.4 Wicherns Gymnasialzeit (1826 – 1827)
Wicherns Studienzeit (1828 – 1831)
2.5 Die Göttinger Jahre (1828 – 1829)
2.6 Die Berliner Studienzeit (1830 – 1831)

3. Wicherns zentraler Gedanke der Familienbildung
3.1 Von der Familienerziehung zur Familienbildung

4. Der Bürgerhof - ein Ort der Bildung und familiärer Eintracht
4.1 Der Bürgerhof - Lebensraum gesitteter Gesellen
4.2 Der Bürgerhof - ein Ort vorbildlicher Krankenpflege
4.3 Der Bürgerhof - ein Ort des Evangeliums
4.4 Der Bürgerhof - bauliche Konzeption
4.5 Der Bürgerhof - soziale Konzeption
4.6 Der Bürgerhof - die tatsächliche Umsetzung

5. Das Rauhe Haus
5.1 Das Leben im Rauhen Haus
5.2 Das Bild der Zöglinge beim Eintritt ins Rauhe Haus
5.3 Die Aufnahme in den Sozialraum Rauhes Haus - Vergebung und Neuanfang
5.4 Die Lern- und Lebensgemeinschaft des Rauhen Hauses
5.5 Das bauliche Setting des Rauhen Hauses

6. Zwei Konzepte - eine elementare Idee
6.1 Das ideale Gemeinwesen als ein Ort des Lernens, Wohnens und Arbeitens
6.2 Das ideale Gemeinwesen als selbst gestalteter Ort
6.3 Das ideale Gemeinwesen als Ort einer homogenen Gedankenkultur
6.4 Das ideale Gemeinwesen als sich selbst reproduzierendes System
6.5 Das ideale Gemeinwesen als „Gated Community“

7. Kritische Betrachtung
7.1 Werkimmanente Kritik: Stolpersteine
7.2 Wichern im Spiegel anderer zeitgenössischer sozialer Utopien

8. Abschließende Würdigung

9. Ausblick

Literaturverzeichnis

1. Sozialräumliches Denken in der Sozialpädagogik Johann Hinrich Wicherns

Der Theologe Johann Hinrich Wichern ist als Begründer der Inneren Mission und als Vater des Rauhen Hauses bekannt. Seine Sozialpädagogik und sein zentraler Gedanke der Familienbildung waren schon Inhalt einiger Publikationen. Dass seine Ausführungen jedoch auch sozialräumliche Gedanken beinhalten, wurde bisher von keinem Autor erkannt und explizit fokussiert.

Besonders in seiner Schrift zur möglichen Gründung eines Bürgerhofes nach dem Brand von Hamburg im Jahre 1842 und seine Schriften zur Begründung des Rauhen Hauses enthalten zentrale Aussagen zur baulichen und sozialen Umsetzung einer Umgebung, die ihre Bewohner zu einem gebildeten, christlichen und familienfreundlichen Leben inspirieren und dauerhaft ermutigen soll. Wicherns Denken fußt offensichtlich in der Position, dass die Lebensweise und die ethischen Maßstäbe der Bewohner eines Gemeinwesens maßgeblich durch sozialräumliche Konzeption und bauliche Umsetzung ihres Wohn- und Lebensraumes beeinflusst werden.

Es geht in dieser Master-Thesis also nicht um Wirkungsforschung (die ohnehin schwer möglich ist, da der von Wichern geplante Bürgerhof niemals gebaut wurde) - Inhalt dieser Arbeit ist vielmehr die Darstellung und kritische Diskussion der von Wichern geplanten Sozialräume „Bürgerhof“ und „Rauhes Haus“. Da man die Ausführungen Wicherns auf der Basis einer Darstellung seiner Biographie und eines Exkurses zu Wicherns Familienbildung deutlicher nachvollziehen kann, werden diese beiden Elemente am Anfang der Arbeit stehen. Die biographischen Ausführungen werden sich allerdings auf Wicherns Leben vor der Gründung des Rauhen Hauses im Jahre 1833 beziehen. Dargestellt werden die Lebenserfahrungen Wicherns, die für sein späteres Ideal einer Familie und eines Gemeinwesens von besonderer Bedeutung sind.

Im Anschluss werden die sozialräumliche Planung des Bürgerhofes und des Rauhen Hauses dargestellt. In einem folgenden Abschnitt wird das Gemeinsame beider Konzepte gesucht und in den fünf Dimensionen eines idealen Gemeinwesens zusammengeführt. Im vorletzten Kapitel dieser Arbeit werden die ausgeführten Gedanken Wicherns kritisch diskutiert und die sozialpädagogische Effektivität sowie die möglichen Stolpersteine in Wicherns Argumentation in den Blick genommen. Anschließend wird Wicherns Vorstellungen den Entwürfen sozialistischer Utopisten des 18./19. Jahrhunderts gegenüber gestellt. Diese kritische Betrachtung soll allerdings keineswegs die Tatsache verstellen, dass Wichern ein sozialpädagogisch, sozialräumlich denkender Pionier des 19. Jahrhunderts ist, der zu einer Gruppe von Visionären zu zählen ist, die mit vielen Gedanken ihrer Zeit weit voraus eilen. Es wäre töricht, Wichern mit gegenwärtigen pädagogischen Maßstäben zu erfassen. Vielmehr gilt es, ihn als Denker seiner Zeit zu sehen, der zahlreiche neue sozialpädagogische Ideen hervorgebracht hat, die es im letzten Kapitel dieser Arbeit zu würdigen gilt.

Mir persönlich geht es darum, aufzuzeigen, dass das sozialräumliche Paradigma keine wissenschaftliche Neuentwicklung der Gegenwart ist, sondern vielmehr in den Gedanken Johann Hinrich Wicherns und in den Gedanken verschiedener sozialistischer Utopisten des 18. und 19. Jahrhunderts sein historisches Fundament hat.

„Doch nun genug! - Vernehmen Sie jetzt aus anderem, befreundetem Munde, wie viel der Liebe uns schon im Stillen geworden, ein unabweisbar Zeugnis, daß der Gott mit uns ist, von dem die rettende Liebe stammt“[1]

Wicherns Kindheit und Jugend (1808 – 1827)

2.1 Wicherns Elternhaus

Johann Hinrich Wichern wird am 21. April 1808 in Hamburg geboren. Sein Vater ist zuerst Küfer, wird aber dann durch eine Krankheit dazu gezwungen, den Beruf des Schreibers auszuüben. In einer einzigartigen darauf folgenden Karriere arbeitet er sich zum Notar und Übersetzer hoch und erreicht damit für sich und seine Familie einen bescheidenen Wohlstand, der seinem Sohn Johann Hinrich den Besuch der höheren Schule ermöglicht.[2] Der Ehrgeiz des Vaters hinterlässt auch seine Spuren im Charakter Wicherns: Die Tatsache, dass es dieser mithilfe seiner sprachlichen Begabung, seiner Zielstrebigkeit und eiserner Disziplin so weit gebracht hat, hält sich sein Sohn lebenslang als Vorbild vor Augen.[3] Wicherns Mutter entstammt einem verarmten holländischen Adelsgeschlecht und hat nach Aussage Wicherns „von frühester Jugend hart arbeiten müssen“ - ihr verdankt er nach seiner eigenen Einschätzung den „Sinn für Pünktlichkeit und Ordnung“[4]. „Noch im hohen Alter hat seine Mutter im Rauhen Haus unermüdlich Gemüse geputzt und Kartoffeln geschält.“[5]

Außer Johann Hinrich hat die Familie noch sechs weitere Kinder. Die Eltern sind bemüht, allen die nötige Sorge und Bildung angedeihen zu lassen und ihnen eine gute Grundlage für ihr späteres selbständiges Leben zu liefern. Doch die Förderung ist auch stets mit Erwartungen verbunden. Die Wicherns verbindet ein „überaus starker Leistungsgedanke“[6]. In seiner Familie lernt Wichern auch, wie wichtig es ist, zusammenzuhalten und sich gegenseitig zu unterstützen - dieser Gedanke wird ihn sein gesamtes Leben als ein hohes Ideal begleiten. Beim Konzept des Bürgerhofes, das später dargestellt wird, findet sich genau dieses Bild der sich gegenseitig unterstützenden und fördernden vorbildlichen Familie und auch bei der Konzeption des Rauhen Hauses ist es Wichern ein zentrales Anliegen, Analogien zu diesem Familientypus herzustellen, der ihm selbst zu seiner Persönlichkeit und seiner moralischen und christlichen Gesinnung verholfen hat.

2.2 Wicherns Schulzeit (1814-1823)

Wicherns Vater kümmert sich darum, dass sein Sohn eine solide Schul-bildung erhält. 1814 wird er in eine Privatschule der „besseren Stände“ eingeschult. Der Schulleiter ist ein junger Theologe, der seinen Unterricht nach den Prinzipien der Pädagogik Pestalozzis durchführt und dem die Entwicklung jedes einzelnen Schülers am Herzen liegt.[7] Ein unerwarteter Vorfall beendet Wicherns Zeit an der Privatschule: „Der Herr Lehrer hat plötzlich, obwohl ich gar nichts besonders Böses getan habe, ganz furchtbar auf mich eingeschlagen!“[8] Wicherns Vater reagiert sofort und meldet den 10-jährigen 1818 in der Bürgerschule, dem Johanneum, an – die kommende Zeit wird für Johann Hinrich „qualvoll: zwar loben die Zeugnisse seinen Fleiß und daß der immer verschlossener werdende junge Schüler ordentlich mitkomme, aber die Mathematik-Schwächen“[9] stellen eine große Hürde dar. Wichern erfährt die schulische Ausbildung als ein sehr hohes Gut, das ihm sein Vater ermöglicht. Bildung ist für ihn sozusagen das größte Geschenk, das eine Familie ihrem Nachwuchs machen kann. Vielleicht führt diese Einstellung dazu, dass er den Bürgerhof und das Rauhe Haus als Lerngemeinschaften konzipiert, in denen Familienbildung, auf die ich später gesondert eingehe, die dominante Zielsetzung ist.

2.3 Ein tiefer Einschnitt: der Tod des Vaters

Der unerwartete Tod des Vaters ist für Wichern ein harter Schicksalsschlag.[10] Er schreibt später im Gedenken an ihn: „Mein Vater war der einzige, der mich ganz verstand, mit allen meinen Gebrechen und auch mit allem, was in mir zum Licht emporstrebte [...] Es gehörte zu den Erquickungen nach des Tages Last und Hitze, den Vater am Kontor abzuholen, mit ihm eingehend sich über alles auszutauschen, die Arbeit, die den Abend fortgesetzt wurde, durch eine Stunde gemeinsamen Klavierspiels zu unterbrechen, bis die Mutter ans Bett gemahnte.“[11] Diese Geborgenheit, die Wichern bei seinem Vater erleben durfte, wird ihm auch später bei der Konzeption des Rauhen Hauses vor seinem inneren Auge sein, wenn er in Form der Brüder jedem Wohnhaus eine „Vaterfigur“ zuordnet. Und auch bei seiner Vision vom Bürgerhof spielt der Vater eine große Rolle, der die Zeit jenseits seines Arbeitslebens bei seiner Frau und seinen Kindern verbringt, um diesen Vorbild zu sein und ihnen seine christlichen und bürgerlichen Werte zu vermitteln.

Nun beginnt eine schwere Zeit für die Familie Wichern: Um ihre Familie durchzubringen, baut sich Wicherns Mutter einen kleinen Laden auf. Auch Johann Hinrich, ihr Ältester, trägt umfassend zum Unterhalt der Familie bei, indem er Klavierunterricht und Hausunterricht bei den gehobenen Familien der Stadt erteilt.[12] Schließlich muss Wichern seine Schulausbildung aus finanziellen Gründen vorzeitig beenden und wird Erziehungsgehilfe an einer christlichen Privatschule - diese Aufgabe versieht er zwei Jahre lang (1824 - 1825). Hier erkennt er den Wert ehrlicher Arbeit und die Wichtigkeit, dass jeder Mensch für sein tägliches Brot sorgen kann. Bei der Konzeption des Bürgerhofes und des Rauhen Hauses ist es ihm später wichtig, dass Kinder schon von klein auf für einen Teil ihres Unterhalts selbst sorgen können und früh das Fertigen von Kleidung und das Anpflanzen von Lebensmitteln erlernen.

2.4 Wicherns Gymnasialzeit (1826 – 1827)

Als sich Wichern 1826 am akademischen Gymnasium der Hansestadt immatrikuliert, erfährt er selbstlose Unterstützung: Wohlhabende Kreise Hamburgs helfen ihm und seiner Familie mit Geld- und Sachspenden. Die Gönner gehören zu den überzeugten Christen der Stadt, denen wohltätige und fürsorgende Armenpflege besonders wichtig ist.[13] Der Gedanke, dass wohlhabende Menschen eines Gemeinwesens Benachteiligte unterstützen und fördern sollten, damit auch diese eine Chance in ihrem Leben haben und Bildung erlangen, lässt Wichern nicht mehr los. Er spiegelt sich auch in der bürgerhofinternen solidarischen Orientierung wider. Außerdem appelliert Wichern bei all seinen Projekten an den Geist der Nächstenliebe wohlhabender Kreise der Stadt Hamburg und ganz Deutschlands und es gelingt ihm so, immense Spendengelder und sonstige Unterstützungen zu aktivieren.

Wicherns Studienzeit (1828 – 1831)

2.5 Die Göttinger Jahre (1828 – 1829)

Durch die Gaben wohlhabender Gönner wird Wichern nach gut bestandenem Abitur auch sein Studium der Theologie in Göttingen ermöglicht. Im ersten Jahr verfügt er durch großzügig bemessene Spenden über ein Jahresbudget von 1000 Mark - „eine ausreichende Summe, wenn man bedenkt, dass zu der Zeit ein Paar Schuhe schon für 12 Mark zu kaufen und ein einfach möbilisiertes Zimmer mit Frühstück schon für 12 bis 15 Mark zu mieten waren.“[14] Wichern legt bereits während seines ersten Semesters einen ungeheuren Eifer an den Tag: „Nur am Sonntagnachmittag gewährt er sich Freizeit. Sonntags morgens liest er die lateinischen Kirchenväter, da ihm die Universitätsgottesdienste nicht zusagen.“[15] Neben seinen Studien gibt Wichern Privatunterricht, unter anderem im Haus des Barons von Leukam, des Schwiegervaters des österreichischen Staatskanzlers Metternich.

2.6 Die Berliner Studienzeit (1830 – 1831)

1830 verlässt Wichern Göttingen, um sein Studium in Berlin fortzusetzen. Auf der Hinreise macht er Halt in Halle, wo August Hermann Francke (1663 - 1727) „ein weltbekanntes Liebeswerk geschaffen [hatte], das eine weit gefächerte Waisenhausarbeit, aber auch medizinische Versorgung, Welt- und Schriftenmission sowie Bibelverbreitung gleichermaßen zum Ziel hatte.“[16] Wichern berichtet seiner Mutter in einem Brief: „Das ganze ungeheure Werk des frommen Hermann Francke, der es gegründet hat, macht für den, der weiß, was er an dem Halleschen Waisenhaus sieht, einen ebenso stärkenden wie erhebenden Eindruck.“[17] Eventuell ist diese Begegnung mit Franckes diakonischem Wirken der Auslöser für Wicherns Wunsch, selbst eine solche Einrichtung bzw. ein ganzes Gemeinwesen im Geiste christlicher Nächstenliebe zu konzipieren.

Zum Wintersemester 1830/31 kehrt Wichern nach Hamburg zurück, um dort sein Examen vorzubereiten, das er 1832 abschließt. Da keine Pfarrstelle in Aussicht ist, arbeitet Wichern nach dem Examen als Hauslehrer. Zusätzlich übernimmt er die Aufgabe eines Oberlehrers in der Sonntagsschule des Pastors Rautenberg. Ergänzt wird die Arbeit in der Sonntagsschule durch einen Besuchsverein. Das sind ehrenamtliche Helfer, die arme Familien zu Hause aufsuchen. „Wichern trifft hier auf total verwahrloste Menschen. Am meisten leiden naturgemäß die Kinder unter den Zuständen.“[18] Der Theologe wird sich der begrenzten Wirkkraft des Besuchsvereins bewusst. Er empfindet diesen Ansatz als zu punktuell und oberflächlich. „Um den Kindern wirklich eine Zukunft zu eröffnen, müssen sie aus den bedrückenden Lebensumständen herausgeholt werden. Wichern denkt immer mehr an die Gründung eines Rettungshauses.“[19]

3. Wicherns zentraler Gedanke der Familienbildung

In seiner Ansprache bei der Gründungsversammlung des Rauhen Hauses im Jahr 1833 stellt Wichern dezidiert die Missstände dar, die er bei seinen Besuchen in den Familien der Hamburger Unterschicht vorgefunden hat: Dort sind die meisten Paare unverheiratet, viele Väter suchen ihr Glück in den Bordellen und Spielhallen der Stadt, vergessen dabei das Wohlergehen ihrer Familien und verspielen deren Vermögen, was diese in die „schamlose und verschuldete Armut“[20] treibt. Die Familienväter widmen ihre Zeit jenseits der Erwerbsarbeit nicht ihren Kindern oder ihren Ehefrauen, sondern sehen die Quelle ihrer Freude und ihres Vergnügens außerhalb des Familien-kreises. Außerdem beklagt Wichern, dass Glaube und Religion in diesen Familien keine Rolle spielen und dass die meisten Kinder nicht zur Schule gehen; wenn sie allerdings das Glück haben, eine schulische Ausbildung zu erhalten, gibt es aus der Sicht des Theologen einen zu großen Gegensatz zwischen dem, was in der Schule gelehrt und dem, was zu Hause vorgelebt wird. Wichern möchte der „mit allem diesem erzeugten und immer kräftiger wirkenden Vereinzelungssucht, Eigensucht und Eigenliebe, mit einem Wort dem Aufhören der Gemeinschaft in der Liebe“[21] entgegenwirken.

Beide von Wichern konzipierten und in dieser Arbeit betrachteten sozial-räumlichen Konzepte, der Bürgerhof und das Rettungshaus, sollen Lebens-räume sein, in denen die Bewohner von frühester Kindheit an darauf hin gebildet werden, dass sie nur ein Lebensideal kennen: die christliche Familie, in der Vater und Mutter den Bund der Ehe geschlossen haben, die beide in der Erziehung und tugendhaften Aufzucht der Kinder ihren Lebens-mittelpunkt sehen, in der der Familienvater kein Interesse hat an Bordellen, Spielhallen, schlüpfrigen Theatern oder kommunistischem Gedankengut und in der das vorgelebt wird, was die Kinder in der (vorbildlichen) Schule lernen. Wicherns Bildungsziel ist also die bereits zitierte familiale „Gemeinschaft der Liebe“.

3.1 Von der Familienerziehung zur Familienbildung

Timm Kunstreich erläutert, dass Wicherns Erziehungsziel nicht sei, „die Armut abzuschaffen, sondern den Armen ein gottesfürchtiges Leben zu ermöglichen“. Er wolle in erster Linie gegen die hinter der unsittlichen Lebensweise vieler armer Familien liegende „Unchristlichkeit und Gottesferne“[22] vorgehen. Hans-Jürgen Benedict spricht bei der Betrachtung des Rauhen Hauses von Wicherns Familienerziehung: „Im Familienprinzip des Rettungshauses geht es um den sozialen Raum Familie, der durch Selbstregulation überhaupt erst Individualität ermöglicht.“[23] Ernst Köhler präzisiert diesen Gedanken noch etwas: „im Rauhen Haus werden artifizielle Familien, familienartige Kleingruppen aufgebaut, Familien aus der Retorte gleichsam.“[24]

Im vorausgegangenen Kapitel bin ich bereits auf die Beschaffenheit einer idealen Familie aus der Sicht Wicherns eingegangen. Die Aussagen von Kunstreich, Benedict und Köhler können nun helfen, Wicherns Erziehungskonzept etwas genauer zu fokussieren: Es soll Kindern und Jugendlichen ermöglichen, in familienanalogen Strukturen ein gottes-fürchtiges und sittliches Leben zu erlernen, das nachhaltig dazu führt, dass junge Menschen das Rauhe Haus verlassen, die als Erwachsene gerade das von Wichern angestrebte Familienleben praktizieren und auf diese Weise die Gesellschaft sittlich erneuern.

Da ich in meine Arbeit auch den Bürgerhof mit einbeziehe, in dem nicht nur Kinder und Jugendliche auf ein tugendhaftes Familienleben hin erzogen werden, sondern in dem alle Bewohner lebenslang durch Veranstaltungen und Vorträge auf ein solches Familienideal hin gebildet werden, spreche ich in den folgenden Kapiteln nicht von Familienerziehung, sondern von (lebenslanger) Familienbildung.

[...]


[1] Wichern, Johann Hinrich: Die öffentliche Begründung des Rauhen Hauses, In: Meinhold, Peter

(Hg.): Johann Hinrich Wichern. Sämtliche Werke. Band IV / Teil 1: Schriften zur Sozialpädagogik, Berlin 1958, S. 114

[2] Vgl. Klein, Michael: Feuer der Nächstenliebe: Johann Hinrich Wichern. Der Gründer der Inneren Mission in Texten und Bildern, Neukirchen-Vluyn 1998, S. 11

[3] Vgl. Steinacker, Hans: Johann Hinrich Wichern. Ein Menschenfischer aus Passion, Neuhausen- Stuttgart 1998, S. 11

[4] Ebd., S. 11

[5] Ebd., S. 11

[6] Klein, Michael: Feuer der Nächstenliebe: Johann Hinrich Wichern. Der Gründer der Inneren Mission in Texten und Bildern, Neukirchen-Vluyn 1998, S. 11

[7] Vgl. Steinacker, Hans: Johann Hinrich Wichern. Ein Menschenfischer aus Passion, Neuhausen- Stuttgart 1998, S. 11-12

[8] Zit. n. ebd., S. 12

[9] Zit. n. ebd., S. 14

[10] Vgl. Klein, Michael: Feuer der Nächstenliebe: Johann Hinrich Wichern. Der Gründer der Inneren Mission in Texten und Bildern, Neukirchen-Vluyn 1998, S. 11

[11] Zit. n. Steinacker, Hans: Johann Hinrich Wichern. Ein Menschenfischer aus Passion, Neuhausen- Stuttgart 1998, S. 14 - 15

[12] Vgl. Klein, Michael: Feuer der Nächstenliebe: Johann Hinrich Wichern. Der Gründer der Inneren Mission in Texten und Bildern, Neukirchen-Vluyn 1998, S. 11

[13] Vgl. Vgl. Klein, Michael: Feuer der Nächstenliebe: Johann Hinrich Wichern. Der Gründer der Inneren Mission in Texten und Bildern, Neukirchen-Vluyn 1998, S. 13

[14] Steinacker, Hans: Johann Hinrich Wichern. Ein Menschenfischer aus Passion, Neuhausen-Stuttgart 1998, S. 22

[15] Klein, Michael: Feuer der Nächstenliebe: Johann Hinrich Wichern. Der Gründer der Inneren

Mission in Texten und Bildern, Neukirchen-Vluyn 1998, S. 24

[16] Steinacker, Hans: Johann Hinrich Wichern. Ein Menschenfischer aus Passion, Neuhausen-Stuttgart

1998, S. 23 - 24

[17] Zit. n. ebd., S. 24

[18] Ebd., S. 31

[19] Klein, Michael: Feuer der Nächstenliebe: Johann Hinrich Wichern. Der Gründer der Inneren Mission in Texten und Bildern, Neukirchen-Vluyn 1998, S. 33

[20] Wichern, Johann Hinrich: Die öffentliche Begründung des Rauhen Hauses. Wicherns Ansprache auf der Gründungsversammlung des Rauhen Hauses vom 12. September 1833 in Hamburg. In: Meinhold, Peter (Hg.): Johann Hinrich Wichern. Sämtliche Werke. Band IV / Teil 1: Schriften zur Sozialpädagogik, Berlin 1958, S. 102

[21] Ebd., S. 102

[22] Kunstreich, Timm: Grundkurs Soziale Arbeit I, Hamburg 1991, S. 39

[23] Benedict, Hans-Jürgen: Wicherns Familienerziehung - ein Mittel gegen die Zerstörung des Lebensweltlichen?. Eine Erinnerung mit aktuellen Ausblicken, In: Herrmann, Volker / Gohde, Jürgen / Schmidt, Heinz (Hrsg.): Johann Hinrich Wichern - Erbe und Auftrag. Stand und Perspektiven der Forschung, Heidelberg 2007, S. 254

[24] Köhler, Ernst: Arme und Irre. Die liberale Fürsorgepolitik des Bürgertums, Berlin 1977, S. 119

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Sozialräumliches Denken in der Sozialpädagogik Johann Hinrich Wicherns
Hochschule
Hochschule RheinMain  (Fachbereich Sozialwesen)
Veranstaltung
Master Sozialraumentwicklung
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
44
Katalognummer
V133767
ISBN (eBook)
9783640404056
ISBN (Buch)
9783640404452
Dateigröße
579 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialräumliches, Denken, Sozialpädagogik, Johann, Hinrich, Wicherns
Arbeit zitieren
Master of Arts, Diplom-Diakoniewissenschaftler, Diplom-Religionspädagoge, Diplom-Sozialpädagoge Marco Schäfer (Autor:in), 2008, Sozialräumliches Denken in der Sozialpädagogik Johann Hinrich Wicherns, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133767

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