Erving Goffmans 'Stigma' und 'Asyle'

Techniken der Bewältigung beschädigter Identität in totalen Institutionen


Hausarbeit, 2004

20 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Stigma – Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität
2.1 Definition Stigma
2.2 Soziale Identität und moralischer Werdegang
2.3 Persönliche Identität und Informationsmanagement
2.4 Ich-Identität und Verhaltenskodizes

3 Asyle – Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen
3.1 Totale Institutionen
3.2 Stigmatisierung und vorklinische Phase
3.3 Identitätsbeschädigungen in der klinischen Phase
3.4 Bewältigungstechniken einer beschädigten Identität in der psychiatrischen Anstalt
3.5 Sekundäre Anpassung im Central Hospital

4 Schlussbemerkungen

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Unter „Identität“ wird im Allgemeinen eine Übereinstimmung mit sich selbst verstanden. Der Soziologe und Psychologe Heiner Keupp versteht unter Identität einen subjektiven Konstruktionsprozess, „in dem Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen.“[1] Es geht darum, „sein Selbst als etwas zu erleben, das Kontinuität besitzt, (...) und dementsprechend handeln zu können.“[2] Dieses Selbstverständnis von Menschen im Hinblick auf die eigene Individualität, Lebenssituation und soziale Zugehörigkeit bildet sich im Prozess der Sozialisation. Sich identisch mit sich selbst zu fühlen liefert die Grundlage für psychische und physische Gesundheit. Die Identität einer Person kann jedoch gefährdet werden durch Diskontinuitäten wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Wohnortswechsel oder Trennung vom Partner, woraus Identitätskrisen entstehen können. In diesen Fällen ist der Mensch gezwungen, seine Identität neu zu arrangieren.

Eine der extremsten Identitätskrisen, die einen Identitätsverlust nicht ausschließen kann, erfährt ein Mensch, wenn er in eine psychiatrische Heilanstalt eingeliefert wird. Von solch einem Fallbeispiel handelt diese Arbeit. Es soll versucht werden eine Antwort auf die Frage zu geben, wie es den Insassen psychiatrischer Anstalten gelingen kann, eine Identität, oder zumindest Teile davon, zu bewahren.

Als Grundlage dienen zwei Werke des aus Kanada stammenden Soziologen Erving Goffman (1922 – 1982), dessen Analysen zum Problem der Identität neben den Untersuchungen von George H. Mead (1863 – 1931) und Erik H. Erikson (1902 – 1994) zu den wichtigsten in den Sozialwissenschaften zählen. Es handelt sich dabei um die Bücher „Stigma“[3] und „Asyle“[4], von denen das später veröffentlichte „Stigma“ hier den theoretischen und begrifflichen Ausgangspunkt für die anschließende Darstellung der Bewältigungsstrategien psychiatrischer Insassen in „Asyle“ bilden soll. Ein weiterer Unterschied besteht in der für den „Stigma“-Begriff notwendigen Konfrontation zwischen den sogenannten „Normalen“ und den „Stigmatisierten“, wobei das „Stigma“ in der sozialen Situation einer psychiatrischen Anstalt nur eine untergeordnete Rolle spielen kann.

Diese Arbeit liefert keine gegenwartsbezogenen Ergebnisse über die Verhältnisse in totalen Institutionen, zu denen die psychiatrische Anstalt gehört. Goffmans teilnehmende Beobachtung fand in den 50er-Jahren in den USA statt, und auch wenn der Klappentext von „Asyle“ auf eine weit reichende Diskussion um diese Arbeit und daraus folgender neuer praktischer Experimente hinweist[5], so ist doch auch hier das Auflagedatum (1973) zu berücksichtigen.

2 Stigma – Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität

Erving Goffmans „Stigma“ erschien 1963 im amerikanischen Original, zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung von „Asyle“. Offensichtlich hat Goffman einige der in „Asyle“ angeschnittenen Probleme und Begriffe in „Stigma“ weiter ausgearbeitet. Für unsere Fragestellung ist es daher sinnvoll, mit dem späteren Buch zu beginnen. Dabei interessieren besonders Goffmans verschiedene Identitätsentwürfe: soziale, persönliche und Ich-Identität. Anhand dieser drei Konzepte entwickelt Goffman die jeweilige Problematik von Stigmatisierung und die Reaktionsmöglichkeiten der Betroffenen. Zunächst soll jedoch der Begriff „Stigma“ definiert werden.

2.1 Definition Stigma

Unter „Stigma“ versteht Erving Goffman „die Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist.“[6] Seine Bedeutung lässt sich in drei Typen unterteilen. Sie kann erstens abstoßende Körpermerkmale bezeichnen, zweitens individuelle Charakterfehler wie Homosexualität, Arbeitslosigkeit oder Selbstmordabsichten, und drittens phylogenetische Merkmale wie Rasse, Religion oder Nationalität. Ein „Stigma“-Träger ist also ein Individuum, das leicht hätte integriert werden können, jedoch unerwünschte Merkmale besitzt, weshalb sich andere von ihm abwenden. Diese definitionsmächtige Gruppe der Mehrheit, die einen anderen Menschen als einen „Stigmatisierten“ bezeichnen, und diesen von ihren Aktivitäten ausschließen kann, nennt Goffman die „Normalen“[7]. Eine bestimmte Eigenschaft allein führt allerdings nicht automatisch zu einer Stigmatisierung. So wird ein Schwarzer in Texas vielleicht ein Stigmatisierter sein, in Westafrika hingegen zu den Normalen zählen. Das Problem des Stigmas lässt sich also nicht verstehen, wenn man es ohne das Konzept der „sozialen Identität“ betrachtet.

2.2 Soziale Identität und moralischer Werdegang

Ein Individuum kann dann Träger eines Stigmas werden, wenn es in der Gesellschaft in der es lebt gegen die gültigen Werte und Normen, beziehungsweise gegen die allgemeinen Erwartungen verstößt. Die Herausbildung solcher Moralvorstellungen wird begünstigt durch das Entstehen bestimmter Personenkategorien innerhalb einer Gesellschaft. Mit Hilfe dieser Kategorien kann der soziale Umgang mit anderen ritualisiert werden, was besonders in der Begegnung mit Fremden wichtig ist, da nur so ihr wahrscheinliches Verhalten antizipiert werden kann. Der Anblick eines Fremden gibt uns Auskunft über seinen soziokulturellen Lebenszusammenhang und damit über seine sozialen Rollen. Er gibt uns also Auskunft über seine „soziale Identität“, das heißt, wir stellen an den so identifizierten Fremden bestimmte Rollenerwartungen, die ihm wiederum bestimmte Verhaltensmuster abverlangen.

Dieser erste Eindruck kann natürlich täuschen und wird daher von Goffman als „virtuale soziale Identität“ bezeichnet. Die Kategorie zu der das Individuum tatsächlich gerechnet werden kann heißt dementsprechend „aktuale soziale Identität“[8]. Besteht zwischen diesen beiden Identitäten eine bekannte oder offensichtliche Diskrepanz, so beschädigt sie die soziale Identität des Individuums und „hat den Effekt, dieses Individuum von der Gesellschaft und von sich selbst zu trennen, so dass es dasteht als eine diskreditierte Person angesichts einer sie nicht akzeptierenden Welt.“[9]

Besitzt ein Individuum eine besonders unerwünschte Eigenschaft, die ihn von anderen in seiner Personenkategorie deutlich unterscheidet, dann wird dieses Attribut zum Stigma, sein Träger wird zu einer befleckten, beeinträchtigten Person herabgesetzt.

Für das spätere Verständnis ist es wichtig, zwischen „Diskreditierten“ Stigma-Trägern, also Personen, deren Stigma offensichtlich oder allgemein bekannt ist, und „Diskreditierbaren“, deren Stigma anderen möglicherweise noch unbekannt ist, zu unterscheiden[10].

Bei dem Stigmatisierten wird die Wahrnehmung mangelnder Akzeptanz zu Schamgefühlen und einer Spaltung zwischen Ich-Ideal und Ich, also einer Identitätsverwirrung, führen, weil er den gleichen Sozialisationsprozess durchgemacht hat wie seine Mitmenschen und daher seine unerwünschte Eigenschaft selbst als negativ empfinden kann.

Es gibt vielfältige Reaktionsmöglichkeiten einer stigmatisierten Person auf ihre Situation. Der Versuch einer direkten Korrektur ist einer davon. Beispiele hierfür sind Schönheitsoperationen bei körperlichen Deformationen oder psychotherapeutische Behandlungen bei unerwünschten Charakterzügen. Indirekte Korrekturversuche finden sich bei Rollstuhlfahrern auf der Tanzfläche oder blinden Skiläufern. Das stigmatisierte Individuum bleibt allerdings gerade in der Konfrontation mit Normalen unsicher, weil es sich hier seiner Inferiorität bewusst ist. Hinzu kommt eine gewisse Handlungsunsicherheit auf beiden Seiten, wobei die stigmatisierte Person voraussichtlich mehr Erfahrung im Umgang mit der Situation mitbringen wird. Im sozialen Umfeld eines Stigmatisierten können sich „Weise“[11] befinden, die die Situation akzeptieren. Andererseits werden enge Beziehungen zu dem Stigmatisierten von den Normalen oft abgebrochen aus Angst, das Stigma könne sich auf sie ausbreiten.

Dieses Beispiel zeigt bereits, dass Personen mit einem bestimmten Stigma ähnliche Lernerfahrungen machen wie ihre Leidensgenossen, was wiederum zu einer ähnlichen Veränderung der Selbstauffassung führt. Es handelt sich hierbei um einen Sozialisationsprozess, den Goffman einen „moralischen Werdegang“[12] nennt. Die erste Phase dieses Prozesses besteht in der Internalisierung der Wertmaßstäbe der Normalen, worauf die zweite Phase folgt, in der eine Person lernt, selbst Träger eines Stigmas zu sein und die entsprechenden Konsequenzen an sich erfährt. Wann und wie diese Phasen auf das Leben des Stigmatisierten treffen, bestimmt seinen zukünftigen moralischen Werdegang ebenso wie die möglichen Verhaltensmuster mit denen der Stigmatisierte auf seine Situation reagieren kann. Herausgegriffen werden soll hier ein Beispiel, das für die spätere Betrachtung psychiatrischer Insassen und ihres moralischen Werdegangs die größte Relevanz besitzt. Es handelt sich um eine Stigmatisierung, die erst spät im Leben eintritt. Insbesondere wenn beim Stigma-Träger der Eindruck entsteht, er wäre schon immer diskreditierbar gewesen, wird dies eine radikale Reorganisation seiner Sicht der Vergangenheit zur Folge haben. „Ein solches Individuum hat über die Normalen und die Stigmatisierten gründlich gelernt, lange bevor es sich als unzulänglich sehen musste. Voraussichtlich wird sein besonderes Problem seine Neuidentifizierung sein, und mit besonderer Wahrscheinlichkeit wird es eine Missbilligung seiner selbst entwickeln.“[13]

Gerät eine Person schließlich aufgrund ihres Stigmas in eine geschlossene Anstalt wie es Gefängnisse und Psychiatrien sind, erfährt sie, zu welcher Personenkategorie sie von nun an gezählt wird. Die Identifizierung mit diesen offenkundigen Stigma-Trägern kann ihr schwerfallen, zumal sie sich wahrscheinlich weiterhin als normal zu definieren versucht. Je stärker der Stigmatisierte sich jedoch mit seinesgleichen identifiziert, desto eher wird er erfahren, dass es sich auch bei ihnen um normale Menschen handelt. Diese Lernerfahrung kann reorganisierende Wirkung haben und eine große Erleichterung für den Stigmatisierten beinhalten.

[...]


[1] Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen, Hamburg 1999, S. 7

[2] Hillmann, Karl-Heinz (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1994, S. 350

[3] Goffman, Erving: Stigma, Frankfurt a. M. 1975

[4] Goffman, Erving: Asyle, Frankfurt a. M. 1973

[5] Goffman, Erving: Asyle, S. 2

[6] Goffman, Erving: Stigma, S. 7

[7] Ebenda, S. 13

[8] Ebenda, S. 10

[9] Ebenda, S. 30

[10] Ebenda, S. 12

[11] Ebenda, S. 40

[12] Ebenda, S. 45

[13] Ebenda, S. 48

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Erving Goffmans 'Stigma' und 'Asyle'
Untertitel
Techniken der Bewältigung beschädigter Identität in totalen Institutionen
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Studien zum Problem von Identität und Individualität
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
20
Katalognummer
V133827
ISBN (eBook)
9783640406661
ISBN (Buch)
9783640406920
Dateigröße
430 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erving, Goffmans, Stigma, Asyle, Techniken, Bewältigung, Identität, Institutionen
Arbeit zitieren
Diplom Sozialwissenschaftler Tammo Grabbert (Autor:in), 2004, Erving Goffmans 'Stigma' und 'Asyle', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133827

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