Die deutsche „Bildungskatastrophe“ und die Reformen der 60er Jahre


Hausarbeit, 2007

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I.) Einleitung

II.) Motive der Schulreformen
II. 1. Picht und das ökonomische Motiv
II. 2. Dahrendorf und das Motiv der Chancengleichheit

III.) Bildungsexpansion
III. 1. Symptome, Ursachen und Wirkungen
III. 2. Reflektion

IV.) Bildungspolitische Reformen und Reformkonzepte
IV. 1. Institutionelle Reformbemühungen im parteipolitischen Kontext
IV. 2. Der „Strukturplan für das Bildungswesen“ des Deutschen Bildungsrates
2.1. Voraussetzungen
2.2. Der „Strukturplan“
IV.) 3. Bildungsplanung in der Krise

V.) Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

I.) Einleitung

Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland erfuhr in den 1960er Jahren tiefgreifende Veränderungen. In Reaktion auf eine massive Bildungsexpansion insbesondere der weiterführenden Sekundarschulen und Hochschulen, neue wirtschaftliche Herausforderungen und weiterhin ungelöste soziale Strukturprobleme wurde eine Diskussion in Gang gesetzt, die den Boden für umfangreiche Reformen und Reformansätze des Schulwesens bereitete. Die Kritik am deutschen Bildungssystem fand ihre Zuspitzung in dem von Georg Picht 1965 geprägten Schlagwort der „Deutschen Bildungskatastrophe“.

In der Phase des Wiederaufbaus nach dem zweiten Weltkrieg hatte man sich in Struktur und Inhalten zunächst am Schulsystem der Weimarer Republik orientiert, mit dem vorrangigen Ziel einer Revision der Veränderungen, die die nationalsozialistische Bildungspolitik vorgenommen hatte. Auch der 1959 verabschiedete „Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemein bildenden öffentlichen Schulwesens“ brach nicht mit dem überlieferten 3-gliedrigen Modell, und dennoch lieferte er wichtige Denkanstöße und Impulse für die folgende Reformdiskussion in den 60er Jahren[1].

Mit dieser Diskussion, ihren Ursachen und Folgen beschäftigt sich die vorliegende Arbeit. Zur Gliederung wird zunächst eine Unterscheidung zweier Hauptmotive der Reformen vorgenommen, die in der insgesamt unübersichtlichen Debatte freilich nicht immer klar zu trennen sind und sich zudem teilweise gegenseitig bedingen: Ein ökonomisches, auf die wirtschaftliche Prosperität und Wettbewerbsfähigkeit der BRD im globalen Rahmen zielendes Motiv, sowie das Motiv der Chancengleichheit zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb Deutschlands. In diesem Zusammenhang stehen die Veröffentlichungen zweier der führenden Protagonisten in der Reformdiskussion: In Bezug auf das ökonomische Motiv folgt die Argumentation hier in erster Linie Georg Picht, die Darstellung des Motivs der Chancengleichheit fußt weitgehend auf den Ideen Ralf Dahrendorfs, wobei auch diese Zuordnung von Autoren und Aspekten allein der Übersichtlichkeit dient. Den Hintergrund für die Reformdiskussion bildeten starke quantitative Veränderungen des Schulbesuchs, die anschließend in ihren Ursachen, Wirkungen und Folgeproblemen untersucht werden. Den tatsächlich in Reaktion auf die Kritik initiierten Strukturreformen ist ein weiteres Kapitel gewidmet. Hier werden neben den institutionellen Maßnahmen seit Mitte der 60er Jahre besonders das Reformkonzept des „Deutschen Bildungsrates“, dessen wissenschaftliche Voraussetzungen und die Probleme bei seiner Umsetzung hervorzuheben sein, bevor dann in einem abschließenden Fazit die Ergebnisse reflektiert und mit Blick auf die gegenwärtige Bildungsdiskussion interpretiert werden.

Insgesamt wurde der Schwerpunkt der Darstellung auf die zweite Hälfte der 60er Jahre gesetzt. Die schulpolitischen Diskussionen und Entwicklungen erhielten den Vorrang vor den hochschulpolitischen Veränderungen.

II.) Motive der Schulreformen

II. 1. Picht und das ökonomische Motiv

Die Auswirkungen des deutschen „Wirtschaftswunders“ der 1950er Jahre hielten zu Beginn der 60er noch an. Doch trotz der positiven Effekte der herrschenden Vollbeschäftigung zeichnete es sich etwa zeitgleich mit der Schließung der Grenze nach Ostdeutschland ab, dass die Verknappung von qualifizierten Arbeitskräften und ein langsam sinkendes Wirtschaftswachstum Interventionen notwendig machen würden. Dass derartige Interventionen bildungspolitischer Natur sein könnten, zeigten bildungsökonomische Überlegungen aus den USA und England, die einen Zusammenhang zwischen der Investition in „Humankapital“ und dem Wirtschaftswachstum sahen. Für die BRD war die Übernahme solcher Ideen im Hinblick auf den Anschluss an die leistungsstarken westlichen Industrienationen einerseits, im Hinblick auf die ideologisch aufgeladene und weltpolitisch bedingte Konkurrenz mit den Ostblockländern andererseits von vitalem Interesse[2]. In diesem Zuge ist die These Georg Pichts zu verstehen: “Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand“[3]. Die politische und wirtschaftliche Führungsschicht, die das Wirtschaftswunder ermöglicht habe, sei in dem damals modernen Schulsystem vor dem ersten Weltkrieg groß geworden, welches seit dem 19. Jh. Deutschland den Aufstieg in den Kreis der großen Kulturnationen eröffnet habe. Internationale Schulstatistiken zeigten, dass dieses Kapital verbraucht sei, Deutschland in der europäischen Rangliste zurückstehe[4].

Picht, selbst Philosoph, Theologe und Pädagoge, u.a. Heidegger-Schüler und seit 1965 Professor für Religionsphilosophie an er theologischen Fakultät in Heidelberg[5], war zuvor als Mitglied des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ an der Abfassung des „Rahmenplans“ beteiligt gewesen. 1964 veröffentlichte er seine Artikelserie „Die Deutsche Bildungskatastrophe“ in der Zeitschrift „Christ und Welt“. Dabei nimmt er insbesondere die „Bedarfsfeststellung 1961 bis 1970“ der Kultusministerkonferenz zum Anlass für seine heftige Kritik am deutschen Bildungssystem. Der dort errechnete bevorstehende Zuwachs an Schülern[6] und der Fehlbestand an Lehrern für diese Schüler[7] sind für ihn der Hauptgrund, von einem „Bildungsnotstand“ zu sprechen. Da 1970 44 Prozent der Lehrer in den Ruhestand eintreten würden ergebe sich, „dass im Zeitraum von von zehn Jahren rund 300.000 neue Lehrer aller Schularten gewonnen werden müssen“[8] ; wenn eine ausreichende Versorgung der Schulen sichergestellt sein solle „müssten sämtliche Hochschulabsolventen Lehrer werden“[9]. Zur Finanzierung müsse der Jahresetat für Schulausgaben im selben Zeitraum von 5,7 auf 9,2 Milliarden DM erhöht werden, der nötige Ausbau von Schulen und Hochschulen mache einmalige Investitionen von 50 Milliarden erforderlich[10].

Ein großer Mangel an Abiturienten verhindere die Deckung des Bedarfs unserer Gesellschaft an qualifizierten Nachwuchskräften und mache Rückstände im internationalen Vergleich absehbar (Vgl. Anhang Tab. 1). Die Gründe dafür sieht Picht in dem Versagen der Länder wie auch des Bundes und in Konstruktionsmängeln des Verwaltungssystems, deren föderative Verfasstheit eine angemessene Reaktion auf die gegenwärtigen Probleme nicht zulasse[11]. Er entwirft darum ein „Notstandsprogramm“, das sich in vier Hauptforderungen zusammenfassen lässt:

1 Zur Modernisierung des ländlichen Schulwesens mit seinem starken Bildungsgefälle und den brach liegenden Begabungsreserven sollten Mittelpunktschulen errichtet werden[12] (siehe auch Kap. II. 2.).
2 Es müssten Maßnahmen zur Verdopplung der Abiturientenzahl in zehn Jahren ergriffen werden, u.a. durch veränderte Übergangsbedingungen und erhöhte Durchlässigkeit des Bildungswesen. Verstärkt solle damit über Aufbauzüge des „zweiten Bildungsweges“ zum Abitur geführt werden[13].
3 Die nötigen Lehrer müssten ausgebildet werden, wobei die geänderten Anforderungen in ihrem Beruf bereits die bevorstehende Studienreform der Universitäten am Horizont sichtbar werden ließen[14].
4 Ferner müsse im Rahmen einer Neuordnung der Kulturverwaltung eine verstärkte Kooperation von Bund und Ländern erfolgen und ein Regierungsausschuss unter Vorsitz des Bundeskanzlers eingerichtet werden[15].

Man mag die Thesen Georg Pichts als schwarzseherisch, seinen Ton als populär und polemisch kritisieren, zumal er mit dem Bild eines „Notstands“ operiert[16]. In der Tat scheint es zunächst verwunderlich, einen Theologen und Philosophen wie Picht in diesem Maße energisch und pragmatisch mit vorwiegend ökonomischen Fakten argumentieren zu hören. Die Wahl mag aus unterschiedlichen Gründen auf eine derartige Argumentationsform gefallen sein, z.B. um mit Verweisen auf die Wettbewerbsfähigkeit aus der Teilöffentlichkeit des Bildungswesens zu den politischen Entscheidungsträgern durchzudringen und sich dort sich besser Gehör zu verschaffen. Damit hatte er auch Erfolg. Es ist natürlich nicht so, wie Günther Schnuer in seiner Ausklammerung der Komplexität der Debatte schreibt, dass Pichts Ausführungen „bei einem Heer von Bildungsreformern und -politikern, die sich mitreißen ließen, begeisterte Aufnahme“[17] fanden. Vielmehr gab es viele Stimulanzien für die Bildungspolitik in einem Geflecht von Bedarfsannahmen, internationalen Vergleichen und gesellschaftskritischen Erkenntnissen[18].

Ferner bedeutet der Entwurf eines kurzfristigen Notstandsprogramms bei Picht nicht, dass er nicht weiter sah: In einem Vortrag von 1961 betrachtete er die Anpassung der Schule an tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen als unausweichliche Notwendigkeit. Die Schule habe dem Wandel der Rolle der Familie in der modernen Gesellschaft durch die Übernahme weitreichender Erziehungsaufgaben ebenso Rechnung zu tragen, wie sie „die Ausbildung einer den Bedingungen des 20. und 21. Jahrhunderts genügenden sozialen Lebenshaltung und öffentlichen Moral“[19] als ihren zentralen Auftrag begreifen müsse. Insofern greift die angesprochene Reduzierung der pichtschen Argumentation zu kurz.

II. 2. Dahrendorf und das Motiv der Chancengleichheit

Ralf Dahrendorf, Philosoph und Soziologe und seit 1958 Professor für Soziologie an der Hamburger Universität, begann 1968 eine politische Karriere bei den Freien Demokraten. Er wirkte unter Walter Scheel im Außenministerium der sozialliberalen Koalition, bevor er 1970 Mitglied der Europäischen Kommission wurde. Später kam er zahlreichen Lehrtätigkeiten in England und Deutschland nach[20].

In seiner 1965 erschienenen Publikation „Bildung ist Bürgerrecht“ greift er die Warnung Pichts vor einer „Bildungskatastrophe“ auf und kritisiert, dass das Bild von einem Notstand in erster Linie reaktive statt aktive Bildungspolitik, eher Notmaßnahmen als eine bildungspolitische Konzeption herausfordere[21]. Er begreift Bildung als ein soziales Grundrecht aller Bürger, und dieses Recht zu sichern sei die vornehmliche Aufgabe einer „aktiven Bildungspolitik“. Das Prinzip findet seinen Ausdruck in der Forderung nach „materialer Chancengleichheit“, d.h. nach der „Lösung der Menschen aus ungefragten Bindungen und Befreiung zu eigener Entscheidung“[22]. An dieser Stelle sei nur kurz auf die unterschiedliche Interpretation hingewiesen, die der Begriff der materialen Chancengleichheit bei den Sozialdemokraten dagegen erfuhr: Während Dahrendorf weitgehend auf eine Veränderung von Einstellungen zielte, sollten nach sozialdemokratischem Verständnis sozial bedingte Defizite durch entsprechende Maßnahmen seitens der Schule kompensiert werden. Die Erweiterung der höheren Bildungsabschlüsse sollte eine Verbesserung der Lebensverhältnisse nach sich ziehen. Diese Ziele waren institutionell eng an die Forderungen nach der integrierten Gesamtschule geknüpft (siehe Kap. IV. 1.)[23]. Wie Picht fordert Dahrendorf eine Erhöhung der Zahl der Abiturienten - welcher er einen Indexcharakter beimisst -, aber auch der Mittelschulabsolventen sowie einen Ausbau der bestehenden Bildungseinrichtungen („Aktive Bildungspolitik heißt Expansion des Bildungswesens auf allen Stufen“[24] ). Im Gegensatz zu Picht besitzt für ihn der erste Bildungsweg Priorität: Die Bevorzugung von Zweitem Bildungsweg, beruflicher Weiterbildung und Erwachsenenbildung sei „in Wirklichkeit eine Version konservativer Bildungspolitik, die von den wichtigsten Kernproblemen ablenkt“[25].

[...]


[1] Vgl. Michael, Berthold/ Schepp, Heinz-Hermann (Hg.): Die Schule in Staat und Gesellschaft. Dokumente zur Deutschen Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 412-418.

[2] Vgl. Herrlitz, Hans-Georg/ Hopf, Wulf/ Titze, Hartmut/ Cloer, Ernst: Deutsche Schulgeschichte von

1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung, Weinheim und München 42005, S. 171-172.

[3] Picht, Georg: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten und Freiburg im

Breisgau 1964, S. 17.

[4] Vgl. ebd., S. 16.

[5] Vgl. Noss, Peter: Georg Picht, in: http://www.bautz.de/bbkl/p/picht_g.shtml (Stand: 14.08.2007).

[6] Vgl. Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland:

Bedarfsfeststellung 1961 bis 1970 für Schulwesen, Lehrerbildung, Wissenschaft und Forschung, Kunst

und Kulturpflege. Dokumentation, Stuttgart, ohne Jahr, S. 19-22.

[7] Vgl. ebd. S. 23-25.

[8] Picht: Bildungskatastrophe, S. 21.

[9] Ebd., S. 23.

[10] Vgl. ebd., S. 42-43.

[11] Vgl. ebd., S. 43-46.

[12] Vgl. ebd., S. 68-69.

[13] Vgl. ebd., S. 69-73.

[14] Vgl. ebd., S. 73-80.

[15] Vgl. ebd., S. 83-87.

[16] Siehe Dahrendorfs Kritik in Kap. II. 2. zweiter Absatz und Anmerkung 20.

[17] Schnuer, Günther: Die Deutsche Bildungskatastrophe. 20 Jahre nach Picht - Lehren und Lernen in Deutschland, Herford 1986, S. 19.

[18] Vgl. Ellwein, Thomas: Interessenartikulation und Bildungsdiskussion, in: Führ, Christoph/ Furck, Carl-Ludwig (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band 6: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband. Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 92.

[19] Picht, Georg: Grundprobleme der Schulreform, in: Friedeburg, Ludwig von (Hg.): Jugend in der

modernen Gesellschaft (= Neue wissenschaftliche Bibliothek Bd. 5. Soziologie), Köln/Berlin 71971

(1965), S. 376.

[20] Vgl. Smith, Julie: Biography of Dahrendorf, in: http://www.liberalhistory.org.uk/item_single.php?item_id=23&item=biography&PHPSESSID=32f74420ec33 (Stand: 14.08.2007).

[21] Vgl. Dahrendorf, Ralf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg 1972 (1965), S. 14.

[22] Ebd., S. 27.

[23] Vgl. Herrlitz: Schulgeschichte, S. 174-175.

[24] Dahrendorf: Bildung, S. 45.

[25] Ebd., S. 34.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die deutsche „Bildungskatastrophe“ und die Reformen der 60er Jahre
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Historisches Institut)
Veranstaltung
Hauptseminar: Deutsche Schulgeschichte im 19./20. Jh.
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
24
Katalognummer
V133847
ISBN (eBook)
9783640415823
ISBN (Buch)
9783640407989
Dateigröße
455 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Anmerkung der Dozentin: "Eine ausgezeichnete Arbeit, gut recherchiert und eigenständig in ihrer Anlage und Argumentationsstruktur. Die Darstellung zeugt von hoher Problemkompetenz, sehr richtig auch die Grenzen des Ansatzes erkannt!"
Schlagworte
Reformen, Jahre
Arbeit zitieren
Malte Sachsse (Autor:in), 2007, Die deutsche „Bildungskatastrophe“ und die Reformen der 60er Jahre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133847

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die deutsche „Bildungskatastrophe“ und die Reformen der 60er Jahre



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden