Der Chor findet in den Dramen und Theaterinszenierungen der heutigen Zeit keine oder nur noch unzureichende Berücksichtigung. Dabei ist er in vielen Stücken ein fast unverzichtbarer Gegenstand: Durch seine Existenz können bestimmte Darstellungen der Verhältnisse intensiviert werden; durch ihn wird der Zuschauer als Betrachter indirekt angesprochen. Deshalb tritt – vor allem in den Dramen früherer Zeiten – ein Chor auf, der einen erheblichen Einfluss auf die Handlung ausübt. Mit eben jener Thematik setzt sich die vorliegende Darstellung auseinander. Insbesondere soll ein Vergleich des Chors in Friedrich Schillers Braut von Messina und Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame angestrebt werden. Weil die Chorbedeutung im Drama relativ komplex ist, erfolgt zunächst eine Begriffsdefinition. Mit einem Blick auf die Antike soll dabei der ursprüngliche Gebrauch des Chors verdeutlicht werden. Darauf aufbauend wird der Chor in den o.g. Werken Schillers und Dürrenmatts, die zu völlig unterschiedlichen Zeiten entstanden sind, eingehend untersucht. Hierbei sollen nicht nur inhaltliche und formale Aspekte eine wichtige Rolle übernehmen, sondern auch der literarische Status des Chors in der jeweiligen Entstehungsphase der Dramen. Deshalb wird auch die Einstellung der beiden Dichter zum Chor und seinem Einsatz im Drama nicht ganz unwichtig erscheinen. Das eigentliche Ziel der vorliegenden Arbeit ist jedoch der Vergleich der Chöre in Schillers Tragödie und Dürrenmatts tragischer Komödie. Da die Gestaltungselemente, sowie die inhaltliche Bedeutung und Aussage der Chöre für die beiden Dramen eine entscheidende Funktion übernehmen, sollen deren wichtigste Unterschiede, aber auch eventuell auftretende Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden. In gewisser Weise ist die vorliegende Arbeit über ihren wissenschaftlich fundierten Charakter hinausgehend also eine Anwendung der Chortheorie auf zwei Dramen, an denen – wie später herauskristallisiert wird – die vielfältige Einsatzweise des Chors in Bezug auf die Textaussage eines Dramas demonstriert werden kann (natürlich unter Berücksichtigung der jeweils gültigen ‚Norm’ zu entsprechender Entstehung der Werke). [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Chor in seiner ursprünglichen Form
2.1. Das Chorlied als Vorläufer des Dramas?
2.2. Der Chor in der Dramenhandlung
3. Der Chor in Friedrich Schillers Braut von Messina
3.1. Schillers Anmerkung zum Chor in seiner Tragödie
3.2. Die Gestaltung des Chors in der Braut von Messina
3.3. Die Funktion des Chors in Schillers Tragödie
4. Der Chor in Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame
4.1. Dürrenmatts Einstellung zum Chorgebrauch
4.2. Die Struktur des Chors in Dürrenmatts tragischer Komödie
4.3. Die Aufgabe des Chors im Besuch der alten Dame
5. Die Chöre Schillers und Dürrenmatts im Vergleich
5.1. Wesentliche Unterschiede des Chors in beiden Werken
5.2. Gemeinsamkeiten des Chors in beiden Dramen
6. Schlussbemerkung
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Chor findet in den Dramen und Theaterinszenierungen der heutigen Zeit keine oder nur noch unzureichende Berücksichtigung. Dabei ist er in vielen Stücken ein fast unverzichtbarer Gegenstand: Durch seine Existenz können bestimmte Darstellungen der Verhältnisse intensiviert werden; durch ihn wird der Zuschauer als Betrachter indirekt angesprochen. Deshalb tritt – vor allem in den Dramen früherer Zeiten – ein Chor auf, der einen erheblichen Einfluss auf die Handlung ausübt.
Mit eben jener Thematik setzt sich die vorliegende Darstellung auseinander. Insbesondere soll ein Vergleich des Chors in Friedrich Schillers Braut von Messina und Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame angestrebt werden. Weil die Chorbedeutung im Drama relativ komplex ist, erfolgt zunächst eine Begriffsdefinition. Mit einem Blick auf die Antike soll dabei der ursprüngliche Gebrauch des Chors verdeutlicht werden. Darauf aufbauend wird der Chor in den o.g. Werken Schillers und Dürrenmatts, die zu völlig unterschiedlichen Zeiten entstanden sind, eingehend untersucht. Hierbei sollen nicht nur inhaltliche und formale Aspekte eine wichtige Rolle übernehmen, sondern auch der literarische Status des Chors in der jeweiligen Entstehungsphase der Dramen. Deshalb wird auch die Einstellung der beiden Dichter zum Chor und seinem Einsatz im Drama nicht ganz unwichtig erscheinen. Das eigentliche Ziel der vorliegenden Arbeit ist jedoch der Vergleich der Chöre in Schillers Tragödie und Dürrenmatts tragischer Komödie. Da die Gestaltungselemente, sowie die inhaltliche Bedeutung und Aussage der Chöre für die beiden Dramen eine entscheidende Funktion übernehmen, sollen deren wichtigste Unterschiede, aber auch eventuell auftretende Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden.
In gewisser Weise ist die vorliegende Arbeit über ihren wissenschaftlich fundierten Charakter hinausgehend also eine Anwendung der Chortheorie auf zwei Dramen, an denen – wie später herauskristallisiert wird – die vielfältige Einsatzweise des Chors in Bezug auf die Textaussage eines Dramas demonstriert werden kann (natürlich unter Berücksichtigung der jeweils gültigen ‚Norm’ zu entsprechender Entstehung der Werke).
Zitate sind in der vorliegenden Arbeit als solche durch Anführungszeichen kenntlich gemacht und beziehen sich – sofern nicht durch Fußnoten gekennzeichnet – auf die Reclamausgabe von Schillers Braut von Messina mit der Anmerkung in Klammern (Schiller, Seite...), sowie auf die Diogenesausgabe von Dürrenmatts Besuch der alten Dame mit der Bemerkung (Dürrenmatt, Seite...). Alle eingeklammerten Hinweise, wie z.B. (vgl. Kap. 2.2.), sind Binnenverweise dieser Arbeit.
2. Der Chor in seiner ursprünglichen Form
2.1. Das Chorlied als Vorläufer des Dramas?
Bernhard Asmuth hat in seinen Untersuchungen nachgewiesen, dass die Dramen in der Antike, insbesondere die Tragödie, aus den bereits existierenden Chorliedern entstanden sind.[1] Der Chor diente in frühen Zeiten religiösen Zwecken; vor allem setzten die Athener ihn als Festgesang für den Weingott Dionysos ein. Erstmals wurde der Chor um 534 v. Chr. mit einem Schauspieler konfrontiert, den der Tragödiendichter Thespis ihm gegenüberstellte. Im Laufe der Zeit erweiterte sich die Zahl jener Schauspieler auf drei. Diese Anzahl stellte allerdings bei Horaz die absolute Grenze dar, die für damalige Verhältnisse nur im ‚Notfall’ überschritten werden durfte.[2]
2.2. Der Chor in der Dramenhandlung
Die Kommunikation in einem Drama muss sich nicht zwingend nur auf den Dialog der handelnden Personen beziehen. Auch das Publikum kann bei einer Theateraufführung angesprochen werden, z.B. wenn die Darsteller aus ihrer eigentlichen Rolle heraustreten und mit den Zuschauern direkt kommunizieren. Obwohl mehrere Varianten dieser Methode existieren[3], ist der Chor noch immer die traditionellste.
Schon Aristoteles äußerte sich zu der Thematik: „Den Chor muss man behandeln, wie einen Schauspieler. Er soll ein Teil des Ganzen sein und mithandeln.“[4] Für ihn war es also wichtig, dass der Chor in die Handlung einbezogen wurde. Aristoteles bezeichnet, freilich von der altertümlichen Situation der griechischen Tragödie ausgehend, die wichtigsten Elemente der Tragödie als Prolog, Episode (Epeisodion), Exodus und Chorteil. Den Anfang der Tragödie definiert er als Prolog; dieser findet vor dem Auftreten des Chors statt. Die Handlung, die zwischen den Chorliedern erfolgt, macht für Aristoteles den Begriff des Epeisodion aus; den Exodus nennt er den Schluss des Dramas nach dem zuletzt erfolgten Chorlied.[5] Weil diese Struktur der Tragödie jedoch völlig abhängig vom Auftreten des Chors ist, wird daraus schnell ersichtlich, welchen hohen Stellenwert das Chorlied in der antiken Tragödie hatte. Die Zahl der Epeisodien zwischen den einzelnen Chören variierte allerdings auch zu damaliger Zeit schon zwischen drei und fünf.
Im 18. Jahrhundert erfuhr der Chor im Drama jedoch – bis auf wenige Ausnahmen – einen starken Rückgang. Die fortlaufende Zählung von Prolog, Epeisodion und Exodus wurde beibehalten; diese Elemente wurden später als Akte bezeichnet. Seitdem verschaffen sich die Lieder und Songs moderner Dramen nur noch den nötigen Respekt, indem ein Darsteller aus seiner eigentlichen Rolle heraustritt und singt.
Daraus ergibt sich, dass die Unterteilung der Akte – auch in moderneren chorlosen Dramen – nicht aus dem Charakter der Handlung hervorgeht, sondern noch im Sinne des traditionellen Chordramas von außen an diesen angepasst wird (wobei wir heute überwiegend ‚Teile’, ‚Bilder’, etc. kennen).
3. Der Chor in Friedrich Schillers Braut von Messina
3.1. Schillers Anmerkung zum Chor in seiner Tragödie
Zu seiner einzigen Chortragödie Die Braut von Messina äußert sich Friedrich Schiller in dem Aufsatz Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie.
Schiller geht davon aus, dass der Künstler kein Grundelement aus der Realität so benutzen kann, wie es bereits existiert. Seine Arbeit muss „in a l l e n seinen Teilen ideell sein“ (Schiller, Seite 9), sofern es mit dem Natürlichen in Relation gebracht wird. Das Publikum hingegen will Schillers Ansicht nach unterhalten werden und der Phantasie freien Lauf lassen; biete man ihm eine Anstrengung im eigentlichen Spiel, so sei es enttäuscht. Um einen Chor im Drama gezielt einzusetzen, müsse sich der Zuschauer also von der realistischen Bühne auf eine denkbare versetzen. Darauf aufbauend führt Schiller aus: „Ein poetisches Werk muss sich selbst rechtfertigen, und wo die Tat nicht spricht, da wird das Wort nicht viel helfen. Man könnte es also gar dem Chor überlassen, sein eigener Sprecher zu sein, wenn er nur selbst auf die dazugehörige Art zur Darstellung gebracht wäre.“ (Schiller, Seite 5) Weiterhin schließe der Chor die reale Existenz von der unwirklichen aus poetischer Sichtweise noch mehr ab; er verwandele die neue ungerechte Welt in die altertümlich ästhetische. Wenn das „Ideale und Sinnliche“ (Schiller, Seite 12) nicht miteinander wirken können, so müssen sie nach Schillers Ansicht wenigstens parallel wirken. Dieses Problem löst seiner Meinung nach der Chor als allwissende und weise Instanz – ergänzend zur eigentlichen Handlung. Schiller hebt dabei hervor, dass der Chor dennoch bei seinem Auftreten eine beruhigende Wirkung auf den Betrachter und den Darsteller selbst ausübe.
[...]
[1] Vgl. dazu ausführlich Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. 1997 (4. Auflage), S. 41f.
[2] Vgl. ebd.
[3] So etwa auch das Epische Theater Brechts.
[4] Zitiert aus Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. 1997 (4. Auflage), S. 59f.
[5] Vgl. ebd., S. 37.
- Arbeit zitieren
- Mirco Rauch (Autor:in), 2004, Schillers 'Braut von Messina' und Dürrenmatts 'Besuch der alten Dame', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133996