Gemeinschaft und Alterität. Eine dekonstruktive Betrachtung gemeinschaftlicher Gleichheitsmodelle im Ausgang von Derrida


Masterarbeit, 2020

81 Seiten, Note: 1,0


Inhaltsangabe oder Einleitung

Was kann die Dekonstruktion als ethisch-politischer Diskurs zu einer philosophischen, aber auch gesellschaftlichen Debatte über narrative Konzepte einerseits und normativ-rechtliche Strukturen andererseits – als korrelative Felder – von Gemeinschaftlichkeit beitragen?

Eine systematische und differenzierte Analyse Derridas’ ethisch-praktischer Reflexionen müsste die Diskursfelder »Verantwortung« und »Gerechtigkeit« als zentrale Topoi seiner (politischen) Philosophie in den Mittelpunkt der Untersuchung stellen. Dekonstruktive Konzeptualisierungen zwischenmenschlicher, d.h. gesellschaftlicher Interaktion befragen bspw. die sozialen Beziehungsordnungen und menschlichen Handlungsfelder nach historisch tradierten, normativen und institutionalisierten Machtstrukturen repressiver Ausgrenzung und Unterordnung, einerseits um diese zu destabilisieren, andererseits um subversive Verschiebungen der (Un-) Rechtsordnung anzustoßen. Eine dekonstruktive Betrachtung gemeinschaftlicher Gleichheitsmodelle setzt dagegen mehr an den formal-logischen Argumentationsstrukturen ontologischer Identitätskonzepte an. Die methodischen und theoretischen Grundlagen sind jedoch die gleichen: die »Dekonstruktion« als (kon-)textuelles »Befragen« der historischen, systematischen und semiologischen Bedingungen der philosophischen (Werte-)Ordnung(en) im Besonderen und der kulturellen im Allgemeinen. Aus Derridas metaphysik-kritischem Zeichendiskurs wurde zunächst ein textuell-supplementäres Wirklichkeitsverständnis offener Beziehungsrelationen erarbeitet, das die klassische Bestimmung des »Seins« als »Selbstpräsenz« durch eine referentielle Seins-Ordnung ersetzt. Diese textuelle, d.h. differentielle Struktur, die das »Selbst« dynamisch an das »Andere« bindet, wurde aus historisch-systematischen Gründen durch den Begriff »différance« charakterisiert. »Différance« repräsentiert dann »etwas« im eigentlich-uneigentlichen Sinn »Unbenennbares«, das jede letztgültige Festlegung unabschließbar transzendiert, d.h. das weder auf eine substantielle »Eigentlichkeit« reduziert noch auf eine universelle Totalität erweitert werden kann. Derrida begründet also das Konzept einer »Singularität«, die sich der Verallgemeinerbarkeit widersetzt, ohne sich jemals in »sich selbst« verschließen zu können, da sie schon immer vom »Anderen« affiziert wird.

Dieser Struktur ist ein spezifischer Gemeinschaftsbegriff schon immer inhärent. Einerseits hat »Gemeinschaft« schon immer begonnen – sie muss ihrer reinen Formalität nach also weder gestiftet noch gesichert werden –, denn die Beziehung zum »Anderen« ist irreduzibel. Andererseits muss sich »Gemeinschaft« aber unter normativen Bedingungen manifestieren, da die »différance« als irreduzible Beziehungsstruktur schon immer eine – wenn auch unter arbiträren Bindungsgesetzen konstituierte – Ordnung impliziert. Diesen Begriff einer strukturell-elementaren Gemeinschaftlichkeit entwickelt Derrida unter dem Konzept der »Gastfreundschaft«. Jede Werteordnung (ob gesellschaftspolitisch oder ideologisch) basiert auf dieser normativen Kraft der »différance« zur Einschreibung, während sie in ihrer transgressiven Dynamik gleichzeitig das »Gesetzte« im und mit dem »Anderen« überschreitet.

Als dekonstruktives »Theorem« wurde an Hand der »différance« und ihrer Implikationen schließlich eine Struktur- und Diskursanalyse von (politischen) Gemeinschaftsmodellen erstellt. Primärer Untersuchungsgegenstand war dabei die Konzeptions- und Legitimationsstruktur gemeinschaftlicher Gleichheitsprinzipien. Das Gemeinschaftskonzept der partikularen Gleichheit nach streng-schematischen natio-ethno-kulturellen Mustern zur distinktiven Untergliederung der Seins-Ordnung wurde ebenso in Frage gestellt wie das der universellen Gleichheit aus transzendentalen Prinzipien. Dabei konnte die Analyse zeigen, dass beide Modelle auf gewaltsamen und letztlich willkürlichen Normierungen und Ausgrenzungen basieren: ethnische Partikularität, die im (evolutionären) »Fluss des Lebens« eindeutig-abgrenzbare »Völkerschaften« konstruiert oder ihr »genos« mythologisch rückversichert – kulturelle Partikularität, die über diverse Unschärfemomente hinweg Standardisierungen vollzieht – ideologische Partikularität, wie Carl Schmitts Freund-Feind-Modell, das eine pseudo-ontologische Ordnungsstruktur (politischer) Identität entwickelt – universelle Gleichheit als anthrozentrische Konstruktion, die den »Menschen« einerseits genetisch vom »Tier« abgrenzt, andererseits durch »Vernunft« zum Beherrscher der Natur (als vernunftlose Ding-Welt) erhebt – universelle Gleichheit als gewaltsame Assimilierung unter Vernunftgesetze, die zwar eine irreduzible »Würde« stiften, auf dem praktischen Feld aber eine bürgerliche »Eigentums«-Ideologie bekräftigen, die den »Anderen« auszugrenzen erlaubt.
Indem die Dekonstruktion als ethisch-politischer Diskurs normative und narrative Gemeinschaftskonstrukte auf ihre impliziten Machtverhältnisse befragt und in ihren Grundlagen erschüttert, setzt sie also deren Ordnungssystem in Bewegung, um sie in »neue« Beziehungskonstellationen zu überführen. In dieser unabschließbaren Verschiebung – die in der Dialogizität gesellschaftlicher Prozesse stets stattfindet – kann zwar keine letztgültige und universalistische Grundnorm ethisch-politischer Beziehungen konstituiert werden, andererseits besteht darin aber gerade die ethische Qualität der Dekonstruktion, die Bedingtheit – wenn auch infinit – so doch immer wieder aufs Neue zu überschreiten und die restriktiven Machtverhältnisse, die jede Verschiebung restituiert, aufs Neue zu befragen. Denn letztlich läuft die universalistische Norm nicht nur Gefahr, in ihrer abstrakten Begriffsleere jede konstitutive Funktion einzubüßen. Ihr unbedingter Anspruch führt gleichzeitig einen Dogmatismus mit sich, dessen inhärente Ausgrenzungsspuren die Dekonstruktion als »différance« markiert. Die »différance« als jene »(vor-)ursprünglich« unbegrenzte und unbegrenzbare Bewegung der »Raumeröffnung«, der Ein- und Fort-Schreibung – wie sie die Untersuchung modelliert hat – konterkariert und transzendiert dabei auf fundamentale Weise jegliche Form der (dogmatischen) Zentrierung (sei es etwa auf dem theoretischen Feld im präsenz-philosophischen Diskurs der abendländischen Metaphysik oder durch totalitäre Machtstrukturen, die mit dem Anspruch auf die »eine« Wahrheit ein normatives Monopol an sich zu binden versuchen).

Gerade den dogmatischen Strukturen gemeinschaftlicher Selbst- und Fremdbeschreibungen setzt die Dekonstruktion unter dem Prinzip der »Gastfreundschaft« eine Politik der »Offenheit« entgegen, die den »Anderen« einlädt, sich in eine Gemeinschaft einzuschreiben. Ihre spezifische Qualität besteht also gerade darin, sich nicht in sich selbst zu verschließen nach einer streng-distinktiven Ordnung aus »Eigenem« und »Fremdem«. Die konkreten (rechtlichen) Bedingungen der »Gastfreundschaft« müssen dabei immer wieder neu verhandelt werden, d.h. eine (demokratische) »Gemeinschaft« wird von dem »Anderen« stets in ihrer Konstitution erschüttert und befragt, indem sie ihm das »Recht« dazu einräumt:

„Es ist diese Grenze [zwischen der Bedingtheit und der Unbedingtheit, d.h. dem Prinzip der Gastfreundschaft], die dem Motiv der Demokratie selbst, seit den Anfängen, eine selbstdekonstruktive Kraft einbeschrieben hat: Die Möglichkeit, ja die Pflicht der Demokratie, sich selbst zu de-limitieren: ihre Grenzen nicht sowohl festzusetzen und aufzuzeigen als vielmehr auszusetzen, zu-entgrenzen." (Jacques Derrida: Politik der Freundschaft; 2000, S. 156.)

»Demokratie« kann also nie an ihr Ende kommen. Ganz im Gegenteil, wenn sie zum Stillstand kommt, dann hat sie sich (dem »Anderen«) totalitär verschlossen. Und so gibt es aktuell im gesellschaftspolitischen Horizont genügend Beispiele revisionsbedürftiger Einrichtungen, wie den UN-Sicherheitsrat als globale Machtinstitution. »Demokratie« kann also nie absolut sein. Und jeder noch so »demokratischen« Bewegung wird immer die Spur der restriktiven Ausgrenzung anhaften: wenn national-konservative Kräfte die Parole demokratischer Freiheit – »Wir sind das Volk« –, eine Parole, die eine »Grenze« eingerissen hat, zur Abgrenzung gegen eine islamische Überfremdung instrumentalisieren, dann zitieren sie eine von Anfang an inhärente Ausgrenzungsspur: die Wiedervereinigung als eine Demokratisierung, die unter schwarz-rot-goldener Flagge und deutsch-nationalen Ideen vollzogen wurde.

Details

Titel
Gemeinschaft und Alterität. Eine dekonstruktive Betrachtung gemeinschaftlicher Gleichheitsmodelle im Ausgang von Derrida
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Philologische Fakultät)
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
81
Katalognummer
V1341900
ISBN (eBook)
9783346846556
ISBN (Buch)
9783346846563
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gemeinschaft Alterität Gleichheitsmodelle Dekonstruktion Derrida, 'politische Philosophie' Poststrukturalismus, 'Carl Schmitt', 'Der Begriff des Politischen' 'Immanuel Kant' 'Anthropologie in pragmatischer Hinsicht'
Arbeit zitieren
Christian Rausch (Autor:in), 2020, Gemeinschaft und Alterität. Eine dekonstruktive Betrachtung gemeinschaftlicher Gleichheitsmodelle im Ausgang von Derrida, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1341900

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