Robert Musil weist in seinen Aufzeichnungen zum 1911 erschienen Erzählband Vereinigungen auf die Schwächen der Erzählung Die Vollendung der Liebe hin. Er bemängelt, dass „in diesem Nichtgeschehen, das eine immer länger werdende Motivkette umspannen musste, das Äußere überdehnt wurde, etwas allzu Leises entstand, scheinbar eine Absonderlichkeit, scheinbar eine ästhetische Abgeschlossenheit udgl. So dass niemand den festen Grund bemerken wollte.“
Im Gegensatz zu Walter Schönaus Aussage, der Dichter verhalte sich zu seinem Werk „wie der Träumer zu seinem Traum“2, sieht Musil in seiner Selbstkritik das Problematische des Textes klar. Die Psychologisierung der Erzähl-Handlung führte zu einem „Nichtgeschehen“, und zu einer „Überdehnung des Äußeren.“ Dadurch entstand „etwas allzu Leises“, eine „ästhetische Abgeschlossenheit“. Der Dichter versucht auf diese Weise zu erklären, warum „niemand den festen Grund bemerken wollte“, weshalb die Erzählung bei zeitgenössischen Rezensenten und beim Publikum so ein Misserfolg war.
In die Zeit der Abfassung der Vereinigungen fällt Freuds Text Der Dichter und das Phantasieren. Freud sieht in der Dichtung eine Entstellung der egoistischen Tagträume und Fantasien des Dichters mit formalen und ästhetischen Mitteln. Die Tagträume und Fantasien seien dabei das Verdrängte seiner ursprünglichen, infantilen Wunschregungen. Dichtung ist dabei eine doppelte Verdrängung. Indem der Dichter das Verdrängte - seine Fantasien - formal entstellt, das heißt literarisiert, findet eine Verdrängung des Verdrängten statt. In dieser Tätigkeit schafft es der Dichter aber doch, eine (eigene) Erzähl-Wirklichkeit zu schaffen.
Der Prozess der Erschaffung einer eigenen Erzähl-Welt ist im Nichtgeschehen von Musils Erzählung Die Vollendung der Liebe noch einmal gebrochen. Zwei starke Verdrängungsleistungen erschweren dabei den Zugang zum Text: eine Verdrängung der Erzähl-Wirklichkeit und eine Verdrängung der Erzähl-Vergangenheit.
Musils Widerstand gegen die Darstellung einer äußeren Erzähl-Wirklichkeit ist sowohl sein poetisches Konzept, als auch eine Fehlleistung. Ihm scheint die Erzählung aus den Händen geglitten zu sein.
Welche Konsequenzen diese Vermengung von poetischem Konzept und Fehlleistung auf den Text hat, werde ich in der folgenden Arbeit zeigen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- I. Verdrängung bei Freud
- II. Die Fehlleistungen der Erzählung
- III. Das Verdrängte in der Erzählung
- III.1 Die verdrängte Außenwelt
- III.2 Das Unheimliche
- IV. Das Verdrängte in Musils Erzählung - Die Vollendung der Liebe –
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit analysiert Robert Musils Erzählung „Die Vollendung der Liebe“ und untersucht darin die Rolle der Verdrängung. Sie beleuchtet die Beziehung zwischen der Verdrängung in Freuds Psychoanalyse und ihrer Bedeutung für die Interpretation von Musils Werk. Die Arbeit setzt sich zum Ziel, das Verdrängte in der Erzählung aufzudecken und die Auswirkungen auf den Text aufzuzeigen.
- Verdrängung in Freuds Theorie
- Fehlleistungen in der Erzählung
- Die verdrängte Außenwelt und das Unheimliche
- Die Bedeutung des Verdrängten für die Interpretation der Erzählung
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung stellt die Arbeit und ihre Zielsetzung vor. Sie setzt sich mit Robert Musils Selbstkritik zu „Die Vollendung der Liebe“ auseinander und stellt die Bedeutung der Verdrängung im Text heraus.
- Kapitel I befasst sich mit Freuds Begriff der Verdrängung und beleuchtet den Konflikt zwischen Wunschregungen und dem Ich des Individuums. Die Verdrängung als Schutzmechanismus und ihre Auswirkungen werden dargestellt.
- Kapitel II analysiert die Fehlleistungen in „Die Vollendung der Liebe“ und zeigt, wie die Verdrängung die Erzählhandlung beeinflusst.
- Kapitel III untersucht die verdrängte Außenwelt in der Erzählung und die Rolle des Unheimlichen. Es wird deutlich, wie die Verdrängung die Wahrnehmung der Realität beeinflusst.
Schlüsselwörter
Verdrängung, Robert Musil, Die Vollendung der Liebe, Psychoanalyse, Freud, Fehlleistung, Unheimlich, Erzähl-Wirklichkeit, literarische Interpretation.
- Arbeit zitieren
- Michael Kunth (Autor:in), 2003, Das Verdrängte in Robert Musils Erzählung 'Die Vollendung der Liebe', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13423