Die Geschichte der Mathematik spielt im heutigen Mathematikunterricht eine untergeordnete Rolle. Zwar enthalten Schulbücher historische Anekdoten und Bezüge, Biographien und Porträts, jedoch erhalten diese bei näherer Betrachtung eher einen oberflächlichen Charakter, wenn man bedenkt, dass sowohl Schulbuch als auch Lehrkraft das Potenzial der Genese mathematischer Sachverhalte gar nicht weiter nutzen. Ein Grund mehr, nach einzelnen Fallbeispielen zu suchen, in denen Lehrer das genetische Prinzip erfolgreich anwenden und ihren Unterricht befruchtend beeinflussen. Im Bereich der Didaktik gibt es diverse Literatur, aber wenige aktuelle Monographien zum Thema, historische Bezüge innerhalb unterrichtsmathematischer Sachverhalte herzustellen, diese damit zu motivieren und in puncto Kultur und Sozialisation in einen logischen Einklang zu bringen.
Den aktuellen Hype in der Didaktik erfährt doch eher das Integrieren mathematischer Computersoftware. Das Übergewicht des Einsatzes neuer Medien im Unterricht ist wirklich merklich
auch innerhalb von Beiträgen auf Tagungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik.
Der Vergleich hinkt natürlich, denn den Computer oder den programmierbaren Taschenrechner im Mathematikunterricht einzusetzen bedeutet ja nicht, auf den historischen Ursprung des
mathematischen Gegenstandes zu verzichten, dennoch gibt es eklatante Widersprüche. Pythagoras, Ries und Leibniz hatten keinen PC zur Verfügung, auch keinen Mac oder Geräte wie
von Texas Instruments. Die Verknüpfung der Möglichkeiten, als Schüler mit Unterstützung
des Lehrers auf den Wegen der großen Mathematiker zu wandeln und dabei Fehlern und Verallgemeinerungen zu begegnen oder Grenzen und Gesetzmäßigkeiten zu präzisieren mit der
Beschleunigung und Visualisierung durch die Maschine stellt eine verlockende Herausforderung dar. Beschleunigung heißt, dass triviale Rechenleistungen vom PC oder Taschenrechner
als Rechenknecht übernommen werden. Dies kann man sich letztendlich wie kleine Zeitsprünge im Leben der Mathematiker vorstellen, die oft Jahrzehnte mit Einzelproblemen
verbrachten. Visualisierung bedeutet, dass Bilder, Zeichnungen, Abbildungen, Statistiken, Graphen, Gebilde, Figuren, Körper etc. schnell verfügbar sind, um dem Vorstellungsvermögen und der fotografischen Einsicht der Schüler entgegen zu kommen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Der Nutzen der Mathematikgeschichte in der Mathematiklehre
2.2 Hindernisse und Grenzen
2.3 Das genetische Prinzip
2.4 Die hermeneutische Methode
2.5 Das Prinzip der historischen Verankerung
2.6 Weitere Methoden
2.7 Rahmenlehrplan und Schulbücher
2.8 Ein Blick ins Ausland
3. Schulrelevante historische Themen
4. Konkrete Anwendungsbeispiele für die Sekundarstufe I
4.1 Ein genetisches Beispiel
4.2 Ein Beispiel der Hermeneutik
4.3 Ein Rollenspiel
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Geschichte der Mathematik spielt im heutigen Mathematikunterricht eine untergeordnete Rolle. Zwar enthalten Schulbücher historische Anekdoten und Bezüge, Biographien und Por-träts, jedoch erhalten diese bei näherer Betrachtung eher einen oberflächlichen Charakter, wenn man bedenkt, dass sowohl Schulbuch als auch Lehrkraft das Potenzial der Genese ma-thematischer Sachverhalte gar nicht weiter nutzen. Ein Grund mehr, nach einzelnen Fallbei-spielen zu suchen, in denen Lehrer das genetische Prinzip erfolgreich anwenden und ihren Unterricht befruchtend beeinflussen. Im Bereich der Didaktik gibt es diverse Literatur, aber wenige aktuelle Monographien zum Thema, historische Bezüge innerhalb unterrichtsmathe-matischer Sachverhalte herzustellen, diese damit zu motivieren und in puncto Kultur und So-zialisation in einen logischen Einklang zu bringen.
Den aktuellen Hype in der Didaktik erfährt doch eher das Integrieren mathematischer Compu-tersoftware. Das Übergewicht des Einsatzes neuer Medien im Unterricht ist wirklich merklich auch innerhalb von Beiträgen auf Tagungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik. Der Vergleich hinkt natürlich, denn den Computer oder den programmierbaren Taschenrech-ner im Mathematikunterricht einzusetzen bedeutet ja nicht, auf den historischen Ursprung des mathematischen Gegenstandes zu verzichten, dennoch gibt es eklatante Widersprüche. Pythagoras, Ries und Leibniz hatten keinen PC zur Verfügung, auch keinen Mac oder Geräte wie von Texas Instruments. Die Verknüpfung der Möglichkeiten, als Schüler mit Unterstützung des Lehrers auf den Wegen der großen Mathematiker zu wandeln und dabei Fehlern und Ver-allgemeinerungen zu begegnen oder Grenzen und Gesetzmäßigkeiten zu präzisieren mit der Beschleunigung und Visualisierung durch die Maschine stellt eine verlockende Herausforde-rung dar. Beschleunigung heißt, dass triviale Rechenleistungen vom PC oder Taschenrechner als Rechenknecht übernommen werden. Dies kann man sich letztendlich wie kleine Zeitsprünge im Leben der Mathematiker vorstellen, die oft Jahrzehnte mit Einzelproblemen verbrachten. Visualisierung bedeutet, dass Bilder, Zeichnungen, Abbildungen, Statistiken, Graphen, Gebilde, Figuren, Körper etc. schnell verfügbar sind, um dem Vorstellungsvermö-gen und der fotografischen Einsicht der Schüler entgegen zu kommen. Diese schöne Utopie eines Kompositums aus Genese und Medien zum Zwecke von Verständnis und Nutzbarkeit ist nicht explizit Thema dieser Examensarbeit. Näher liegt die Überprüfung einer der beiden Sei-ten, in diesem Fall der historischen Seite.
Bourbaki schrieb im Jahre 1974:
„Die Mathematik gleicht so einer großen Stadt, deren Außenbezirke und Vororte dauernd in etwas chaotischer Weise in das umgebende Land eindringen, während das Zentrum von Zeit zu Zeit neu aufgebaut wird, jedes Mal nach einem klarer gefassten Plan und in einer neuen großartigen Ordnung, wobei die alten Viertel mit ihrem Labyrinth von Gassen niedergerissen werden und zur Peripherie hin neue, direktere breitere und bequemere Straßen angelegt wer-den.“1
Mittlerweile scheint es aber eine Zunahme des Geschichtsbewusstseins der Menschen zu ge-ben. Es handelt sich um ein allgemeines, alltägliches Phänomen. In den Nachkriegsjahren gab es noch eher eine Verdrängung der Geschichte und einen blinden Fortschrittsglauben. Was bis heute folgte, waren diverse Nostalgiewellen und verschiedenste Ausstellungen früherer Epo-chen. Das Kulturbewusstsein drückte sich in Denkmalpflege und Altstadtsanierung aus. Heute möchte man das Ursprüngliche und natürlich Gewachsene nicht mehr als Hindernis, sondern als interessanten Forschungsgegenstand und erkenntnisstiftendes Problemfeld sehen.2
Der erste Teil dieser Arbeit soll aufzeigen, ob und wie das oben genannte Phänomen sich in-nerhalb der Mathematik heute niederschlägt. Was möchten die Mathematikdidaktiker errei-chen, wenn sie Mathematikhistorie als Methode oder als Mittel einsetzen bzw. für den Einsatz plädieren? Wozu dient letztendlich die Geschichte der Mathematik im Unterricht? Hat sie eine Daseinsberechtigung? Welche Hindernisse stellen sich in Theorie und Praxis? Welche wissen-schaftlichen Strömungen und Prinzipien hält die Didaktik bereit, an denen sich Lehrer und Studenten orientieren können? Gibt es diese überhaupt und wenn ja, seit wann? Mit welchem Erfolg, mit welchem Entwicklungsprozess? Mit welcher Vernetzung? Wie sieht es in den Lehrplänen und Schulbüchern der Sekundarstufe I aus? Gibt es Vorbilder oder Nachahmer in anderen Ländern der Welt oder gar gemeinsame Forschung? Umfassend gesagt: Es geht um die mathematikunterrichtliche Historie der Geschichte der Mathematik bis heute.
Beim zweiten Teil handelt es sich im einen kurzen Abriss der schulrelevanten Mathematikge-schichte. Auch für den Lehrer und Lehramtsstudenten stellt sich die Frage, welche Mathema-tikgeschichte muss er sich denn aneignen? Was passt denn zum Schulstoff? Die eigene Bil- dung der Lehrer spielt dabei eine erhebliche Rolle. Nicht jeder Mathematikschüler weiß, dass der Inhalt des Grundkanons der Lehrpläne eine geschichtliche Errungenschaft bis zum 17. Jahrhundert darstellt. Daran ändert auch der Computereinsatz bei selbiger Themenlandschaft nicht viel. Wenn die Schüler die Schule verlassen, kennen sie also zumeist eine Mathematik, die mindestens 300 Jahre alt ist. Zeitgeschichtliche Mathematik der Moderne ist sicherlich komplex. Dennoch: Hier herrscht Aufklärungsbedarf. Aus Sicht anderer Fächer mag das lä-cherlich klingen. Man stelle sich nur vor, ein Fach wie Deutsch würde sich mit literarischen Werken ab 1700 zurückhalten, oder ein Fach wie Politische Weltkunde würde es wegen des betrachteten Zeitrahmens gar nicht geben. Absurd. Oder ist dieser Vergleich so nicht möglich? Die Mathematikgeschichte im Unterricht einzusetzen und möglichst auch für die Leistungsbe-urteilung zu überprüfen, würde sich durchaus eignen, Schülern und Lehrern eine verdiente Zeitreise von über 300 Jahren ins Jahr 2008, dem Jahr der Mathematik, zu gewähren. Compu-terprogramme, das Internet und die neuen Taschenrechnergenerationen sollen hierbei Hilfe-stellung leisten.
Im dritten und letzten Teil dieser Arbeit geht es um die Praxis. Welche Erfahrungen haben Lehrer, Akademiker und Schüler bereits in der Schule gemacht und wie fallen die jeweiligen Resonanzen und Ergebnisse aus? Wirkt sich Geschichte der Mathematik positiv auf das Ler-nen und die Leistung aus? Wie genau setzt man die didaktischen Methoden der Theorie ei-gentlich um? Und in welchem zeitlichen und schulischen Rahmen geschieht das? Erst im drit-ten Teil findet auch die endgültige Zuspitzung des Examenstitels auf die Sekundarstufe I statt, da hier ausschließlich Beispiele aus diesem Schulkarriereabschnitt gewählt wurden. Die Bei-spiele können dabei nur eine Idee dessen geben, was im Unterricht möglich ist, da eine detail-lierte Integration von bis zu 19 Unterrichtsstunden einer Sequenz den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätten.
Diese Arbeit ist nun der Versuch dem wissenschaftlichen Problem auf den Grund zu gehen, dass die Geschichte der Mathematik im Mathematikunterricht unterrepräsentiert ist. Dass es sich um ein echtes Problem handelt, werde ich im ersten Teil der Arbeit mit Hilfe von Aussa-gen aus didaktischer Sicht stützen. Dieses Problem führt unweigerlich zu der zentralen Fra-gestellung dieser Arbeit:
Kann Mathematikgeschichte gewinnbringend in den Mathematikunterricht integriert werden?
Meine These zu dieser geschlossenen, also deduktiven Fragestellung lautet:
Ja. Die Qualität des Mathematikunterrichts lässt sich mit Aspekten der Mathematikgeschichte verbessern und kann längerfristig die Potenzen der Schüler erhöhen.
Problem, Fragestellung und zugehörige These führen in den Forschungsbereich der Didaktik der Mathematik und gleichzeitig zur Geschichte der Mathematik. Der Forschungsgegenstand aus diesen Bereichen beinhaltet didaktische Aussagen und Erfahrungen zur Geschichte der Mathematik und deren Einsatz im Unterricht.
Bei dem Blick auf die Forschungslage zum genannten Thema fällt unweigerlich auf, dass es seit fast 10 Jahren weder eine deutschsprachige Monographie noch einen deutschsprachigen Sammelband gegeben hat, welcher sich ausschließlich mit dem Einsatz von Mathematikge-schichte im Unterricht beschäftigt. Aus den 1990er Jahren sind die drei Monographien von Manfred Kronfellner (1998), Walter Popp (1999) und Judita Cofman (1999) besonders her-vorzuheben. Kronfellner versucht in seiner Habilitationsschrift hauptsächlich die Mathematik-didaktik mit einem historischen Fokus zu versehen, während Popp umgekehrt eher die Mathe-matikhistorie betrachtend einen didaktischen Fokus setzt. Judita Cofman bietet stattdessen in zwei Bänden historische Aufgaben und Materialien für den Mathematikunterricht an. Eine Sammlung konkreter Unterrichtsvorschläge gibt es bis dato nicht.
Einen internationalen Rundumblick zur Mathematikgeschichte in der Mathematikbildung in englischer Sprache bieten die Herausgeber John Fauvel (2001 im Alter von 54 Jahren leider verstorben) und Jan van Maanen (2000) als Sammelband mit monographischer Gliederung. Dieser Sammelband ist eine Studie der Arbeitsgruppe History and Pedagogy of Mathematics (HPM) der International Commission on Mathematical Instruction (ICMI). Auf internationa-ler Ebene beschäftigt sich dieser Arbeitskreis auf der regelmäßigen Tagung der ICMI, dem International Congress of Mathematical Education (ICME), sowie auf den ebenfalls regelmäßi-gen Tagungen der European Summer University on the History and Epistemology in Mathematics Education (ESU). Die Forschungsergebnisse der Forschungsgruppen und Tagungen werden in Tagungsbänden, Fachzeitschriften und Forschungsbänden kompiliert und publi-ziert. Auf internationaler Ebene ist vor allem auch Fulvia Furinghetti (2006) gerade als Her-ausgeberin aktueller Forschungsberichte zu nennen.
Im deutschen Sprachraum findet jedes Jahr eine Tagung der Gesellschaft für Didaktik der Ma-thematik (GDM) statt. In den letzten zehn Jahren gab es jedoch nur einen Hauptvortrag von Kronfellner (2002) und zwei Kurzvorträge von Rasfeld (2004) und Glaubitz (2007) zum kon-kreten Einsatz historischer Elemente im Mathematikunterricht, welche in den entsprechenden Tagungsbänden zu finden sind. Zusammen mit einem Arbeitskreis der GDM veranstaltet ein auf Mathematikgeschichte spezialisierter Arbeitskreis der Deutschen Mathematiker-Vereini-gung (DMV) zwar Fachtagungen wie auch GDM und DMV gesamt. Leider beinhalten sie laut Tagungsbänden aber über mathematikhistorische Themen hinaus keinen Bezug zum Unter-richt.
Neben Kronfellner und Beate E. Nölle (2007) als Vertreter der genetischen Methode gibt es im deutschen Sprachraum zwei Mathematikdidaktiker, die sich teilweise auf den Einsatz der Geschichte der Mathematik im Unterricht spezialisiert haben. Hans Niels Jahnke ist Verfech-ter der hermeneutischen Methode und Horst Hischer Vertreter der historischen Verankerung. In den verschiedenen Fachzeitschriften der Mathematikdidaktik findet man in unregelmäßi-gen Abständen Artikel zum Themenkomplex. Auf theoretischer Ebene mit praktischen Hin-weisen gibt es vereinzelte Artikel zum Beispiel in der Mathematica didactica (Jahnke 1995, Hischer 1998, Deschauer 2000). Konkrete Unterrichtsvorschläge oft zwar ohne vollständige Materialien, dafür mit entsprechenden Literaturangaben findet man im Journal für Mathema-tik-Didaktik (JMD) der GDM (Rasfeld 2007, Glaubitz 2003) und in entsprechenden Themen-heften der Zeitschrift Mathematik lehren (Jahnke u.a. 1998, Hischer 2003).
Grundsätzlich gilt, dass man sich bei der Suche nach konkreten Unterrichtsvorschlägen nach dem Angebot richten muss, welches im Verhältnis zur Gesamtheit des Schulstoffes zu gering und zu unbekannt ist, falls man ein bestimmtes Thema sucht. Man wird oft höchstens einen Unterrichtsvorschlag ohne Alternativen finden. Hier wäre ein großer Sammelband und eine öffentliche Internetseite zu dem Thema wünschenswert. Bisher muss man gerade im Internet einerseits mit großen Fluktuationen des Angebots, andererseits auch qualitativ unzureichen-den Unterrichtsvorschlägen rechnen.
Es sei mir verziehen, dass innerhalb dieser Arbeit der Einfachheit halber die männliche Form für Personengruppen stellvertretend für beide Geschlechter gelten soll. Beispiel: „Schüler“ steht für „Schülerinnen und Schüler“. Dies gilt auch bei der verallgemeinerten Einzahl. Bei-spiel: „Der (allgemeine) Lehrer“ steht auch für „die (allgemeine) Lehrerin“.
2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Der Nutzen der Mathematikgeschichte in der Mathematiklehre
„Nescire autem quid antea quam natus sis acciderit, id est semper esse puerum.“3 (Aber nicht zu wissen, was sich vor seiner Geburt ereignet hat, heißt immer ein Knabe zu sein.)
Sowohl Lehrer und Lehramtsstudierende auf der einen Seite als auch Schüler auf der anderen Seite sollten sich mit der Geschichte der Mathematik befassen. Die Argumente dafür lassen sich in drei Kategorien einteilen. Dazu gehören die wissenschaftstheoretische Ebene, die bil-dungstheoretische Ebene und die lerntheoretische bzw. unterrichtsmethodische Ebene.4
Auf der wissenschaftstheoretischen Ebene ist Mathematikgeschichte für die Mathematik selbst wichtig. Es geht hier also um Hilfe auf der Suche nach einer Existenzberechtigung für die Mathematik und um ein angemessenes Bild von der Mathematik. Man könnte behaupten, dass Mathematik als Wissenschaft, als Hilfswissenschaft oder als Schulfach bereits genug Existenzberechtigung hat und das Bild von Mathematik innerhalb der Gesellschaft bereits an-gemessen ist. Für viele jedoch ist Mathematik nichts weiter als eine Sammlung vom Himmel gefallener Formeln, Axiome und Beweise für wenige Auserwählte, die sie verstehen. Und ist es nicht wirklich so? Beträgt die Entfernung zwischen dem Anspruch eines Mathematikers und der Realität eines Nichtmathematikers nicht sogar Lichtjahre, so dass der Ruf der Mathe-matik als schwierigste Disziplin der Menschheit und als repräsentatives Maß des menschli-chen Intellekts einfach unanfechtbar bleibt? Diese Wahrnehmung von Mathematik ist verbrei-tet. Jedoch mahnen Fürsprecher der Mathematikgeschichte im Unterricht an, dass Mathematik ein historisches Phänomen darstellt, welches sich entwickelt und verändert. Auch mathemati-sche Theorien befinden sich im Wandel. Ein zweiter wichtiger Aspekt auf der wissenschafts-theoretischen Ebene wirkt ebenso banal. Es geht um die wissenschaftssoziologischen Eigen-schaften von Mathematik. Mathematik ist ein interpersonales Phänomen. Der Mathematiker und Wissenschaftsphilosoph I. Lakatos hat festgestellt, dass Beweise keinen überzeitlichen Charakter besitzen. Sie gelten dort, wo sie von einer Community akzeptiert werden. Sie haben einen sozialen Charakter genauso wie mathematische Beweise in der Schule. Die wissen-schaftstheoretische Ebene ist für Lehrer wichtig, da sie im Normalfall ihr eigenes Bild von
Mathematik an die Schüler weiter vermitteln. Für Schüler reicht es zunächst, die wissen-schaftstheoretische Ebene mit auf die bildungstheoretische Ebene zu übernehmen. Das heißt, Schüler werden sich selbst kein abgeschlossenes Bild von Mathematik auf Grundlage der Wissenschaft definieren können, es aber begrüßen, zu wissen, dass da kein fertiges Wahrheits-paket geschnürt wurde, von dem niemand mehr den Adressanten kennt. Veränderliches Wis-sen ist auch den Schülern sympathischer und nahbarer, weil man schauen kann, wo, wann und wie ein Faktum oder ein Weg gestartet ist oder nützlicher war als ein anderes/r. In der Mathe-matik erscheint das nicht so offensichtlich wie in der Biologie oder gar der Musik.5
Auf der bildungstheoretischen Ebene ist Mathematikgeschichte selbst ein Element der Bil-dung eines Menschen. Man kann hierbei noch zwischen materialer Geschichtsorientierung und formalbildender Funktion der Mathematikgeschichte unterscheiden. Die materiale Ge-schichtsorientierung ist in anderen Fächern deutlich stärker ausgeprägt als in Mathematik. Der Bildungsauftrag der Fächer Bildende Kunst und Deutsch umfasst beispielsweise selbstver-ständlich die Kunstgeschichte bzw. die Betrachtung literarischer Epochen und dies ganz we-sentlich. Diese Art der materialen Geschichtsorientierung birgt auch eine bekannte Gefahr – die Imitation eines schlechten Geschichtsunterrichts. In Mathematik würde das bedeuten, Na-men, Daten und Sätze auswendig pauken zu lassen und dabei Bildung mit Faktenanhäufung in Quizmanier zu verwechseln. Die formalbildende Funktion von Geschichte ist etwas schwieriger umzusetzen, wirkt aber tiefgründiger. Wissen über Geschichte trägt zur Stiftung kultureller Kontinuität und Kohärenz bei. Das bedeutet, dass sie einen Einblick in die histori-sche Entwicklung gibt und dabei die vielfältigen Verknüpfungen von Mathematik mit seiner Umwelt offenbart. Die Bildungsziele der Geschichte der Mathematik ähneln dann denen eines guten Geschichtsunterrichts.6
Auf der lerntheoretischen bzw. unterrichtsmethodischen Ebene geht es um die konkrete Ein-beziehung historischer Elemente in den Mathematikunterricht und die zugeschriebenen positi-ven Wirkungen:
- Historische Quellen sind interessante Probleme für den Mathematikunterricht.
- Methodische Varianten erlauben einen tieferen Einblick in die behandelten Themen als heute übliche Standardverfahren.
- Das Aufzeigen historischer Bezüge wirkt generell motivierend.
- Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Individuums und der Geschichte, welcher didaktisch nutzbar ist – das genetische Prinzip.
In Fächern wie Physik und Chemie ist es üblich, den historischen Begriffsentwicklungen zu folgen. Ein Beispiel dafür ist die Einführung immer präziserer Atommodelle anhand ihrer Ge-schichte. In der Mathematik gibt es viele Hinweise auf ahistorisches Vorgehen, wenn bei-spielsweise Funktionen in der Sekundarstufe I als spezielle Mengenrelationen eingeführt wer-den.7
Die bisher gemachten Aussagen sollen nun mit Hilfe internationaler didaktischer Literatur ve-rifiziert werden. Es gibt seit ca. dreißig Jahren, also nach einer Trendwende auf die New Math8 der sechziger Jahre folgend, auf welche hin eine weitgehende Abkehr von bourbakisti-schen9 Elementen in der Schulmathematik vollzogen wurde, eine große Anzahl mathematikdi-daktischer Publikationen mit Bezug zur Geschichte der Mathematik und Orientierung am ge-netischen Prinzip. In all diesen Publikationen kommt die Überzeugung der Autoren zum Aus-druck, dass die verstärkte Berücksichtigung der Geschichte der Mathematik eine Verbesse-rung des Mathematikunterrichts erreicht. Verbesserung durch Mathematikgeschichte wird da-bei am häufigsten mit der Verständnisverbesserung von Mathematik und dem Aspekt der Ma-thematik als Teil der Kultur verallgemeinert.
Zur Verbesserung des Verständnisses der Mathematik meint P. S. Jones, dass bei entsprechen-dem Einsatz von Mathematikgeschichte das Warum und damit der Sinn der Mathematik mehr berücksichtigt wird:
„Teaching so that students understand the 'whys', teaching for meaning and understanding, teaching so that children see and appreciate the nature, role and fascination of mathematics [...] The 'sense of history' [...] will not, of itself, secure these objectives. However, properly used, a sense of the history of mathematics, coupled with an up-to-date knowledge of mathematics and its uses, is a significant tool in the hands of a teacher who teaches 'why'.“10
Darüber hinaus sind laut Jones gerade historische Betrachtungen dazu geeignet, Schüler ein Verständnis für Verallgemeinerungen und Abstraktionen inklusive ihrer Bedeutung für die Mathematik nahe zu bringen:
„A sufficiently concrete and detailed tracing of the history of the development of a generalized idea is one of the best ways to teach an appreciation of the nature and role of generalizations and abstractions.“11
Im herkömmlichen Unterricht wird laut L. Rogers Mathematik entdynamisiert:
„Traditional teaching of mathematics begins at points where the historical process ends and makes it increasingly difficult for pupils to come to grip with the field.“12
Rogers hat neben dem besseren Verständnis der Schüler aber auch die Lehrer selbst im Blick. Für sie wird ebenfalls ein adäquateres Bild von Mathematik(unterricht) angestrebt:
„The aim is to help teachers to develop philosophy of mathematics teaching which includes the communication of the essential varieties of mathematics and provides a means of individual understanding of the dialectic of developing mathematics.“13
Über die Mathematik hinaus soll Mathematikgeschichte nach H. G. Flegg einen Beitrag zur Ausbildung eines allgemeinen kulturellen Backrounds leisten:
„The general cultural backround can often suggest why mathematical concepts have developed in particular ways at particular times. Conversely, historical mathematical works can of- ten throw a fresh light on the surrounding culture of the day a fact which general historians usually forget.“14
Wenn man die sehr ausführlichen und umfangreichen Handbücher der Didaktik der Ge-schichte durchschaut, fällt ein völliges Ignorieren von Mathematik und Mathematikgeschichte auf. Selbst kulturhistorische Aspekte der Mathematik werden im Vergleich zu anderen Diszi-plinen nur sehr sporadisch behandelt.15
Gehört Mathematik womöglich nicht zu unserer Kulturhistorie? C. J. Scriba sieht das ganz anders. Nach ihm ist Mathematik sehr wohl Bestandteil unserer Kultur und darüber hinaus ist Mathematik als kulturelles Phänomen ohne historische Betrachtungen nicht zu begreifen. Seine These lautet:
„Die Frage, ob die Geschichte der Mathematik etwas zur Verbesserung des mathematischen Unterrichts beitragen kann – gleich ob im Schul- oder im Hochschulunterricht – ist falsch ge-stellt. Es muss vielmehr heißen: Ist Mathematik ohne Geschichte der Mathematik überhaupt denkbar? Alles Weitere folgt aus der Antwort, die nur lauten kann: Nein, es gibt keine Mathe-matik ohne ihre Geschichte.“16
Darüber hinaus formuliert Scriba selbst mögliche Gegenpositionen, welche er mit verschiede-nen Argumenten wieder entkräftet. Dabei sieht er als eines der entscheidenden menschlichen Merkmale gegenüber dem Tier das Geschichtsbewusstsein. Der Mensch birgt als wesentli-chen Bestand seiner Kultur die Reflexion seines entdeckenden Weges und das rückwärtige Fragen. Dabei darf beispielsweise ein hoher Spezialisierungsgrad der Mathematik nicht ahis-torische Verstümmelung des menschlichen Daseins und eine Abspaltung der Mathematik von der Kultur forcieren. Für die Gegenposition beschreibt Scriba eine absolute Konzentration auf den Inhalt des gegenwärtigen mathematischen Wissensgebäudes.17
Scribas zweite und dritte These lauten:
„Mathematik darf nicht als isolierte Wissenschaft und reines Erkenntnisgebilde verstanden werden, sondern sie muss – insbesondere im Unterricht – in ihren wissenschaftlichen, kultu- rellen und sozialen Zusammenhängen und Verflechtungen gesehen und vorgestellt werden. [...] A cultural approach, Mathematik verstanden als Bestandteil der Kultur, wie man die zweite These auf eine Kurzform bringen könnte, [...]
Mathematik als kulturelles Phänomen ist ohne historische Betrachtung nicht zu begreifen.“18
Aus den vielen Publikationen geht eine nahezu zwangsläufige Verbesserung des Mathematik-unterrichts durch den Einbau historischer Elemente hervor. Dabei soll nicht nur ein adäquate-res Bild von Mathematik vermittelt werden, sondern auch die Aufmerksamkeit, das Interesse und die Motivation der Schüler werden gesteigert und es wird eine positivere Einstellung zur Mathematik erzeugt. Diese Aussagen werden auch durch Ergebnisse von Schülerbefragungen gestützt.19 Bezweifelt werden sollen diese positiven Ergebnisse nicht. Jedoch ist es eine allge-mein bekannte Tatsache, dass erfahrungsgemäß unterrichtliche Maßnahmen ab der Norm so-wohl zu positiven Bewertungen als auch zu einer vorübergehenden Steigerung der Aufmerk-samkeit führen. Und manchmal wird die Verwendung der Geschichte der Mathematik auch nur als eine Art Motivationstrick oder unterrichtsmethodische Finesse beschrieben. Die Ab-sichten bleiben dabei unverändert, so dass die reflektierte Zielsetzung heißt, weder histori-sches Wissen noch wissenschaftstheoretisches Wissen zu vermitteln. Der häufige Lehrer-wunsch nach Anekdoten weist darauf hin, die Geschichte der Mathematik nur bei bei passen-den Gelegenheiten auf der Ebene methodischer Tricks einstreuen zu wollen. Alles in Allem zeigen die Zitate aber, dass es viele Autoren gibt, welche die Frage des Einbaus historischer Elemente in den Mathematikunterricht in engem Zusammenhang mit umfassenden Zielset-zungen des Mathematikunterrichts sehen. Die Frage 'welche Mathematik' und 'warum über-haupt Mathematik' im Unterricht behandelt werden soll ist hierbei zentral.20
Schon auf Theorieebene gibt es kritische Stimmen. In vereinzelten Publikationen gibt es Skepsis, was den unreflektierten Einbau und den Wert von Geschichte der Mathematik im Unterricht angeht. R. Nagaoka, der diesem Thema grundsätzlich positiv gegenüber steht gibt zu bedenken:
„[...] it is much more probable that students remain indifferent to mathematics itself even after having been taught in its historical development.“21
H. Freudenthal hat Zweifel daran, dass die Kenntnis der Geschichte der Mathematik bei allen Schülern mathematisches Verständnis fördert. Freudenthal selbst ist sehr an der Mathematik-historie interessiert. Er sieht es jedoch problematisch sein Interesse mittels Rahmenlehrplan allen Schüler zu verordnen. Dennoch räumt er ein:
„Ich meine, es sei des Menschen würdig, die Vergangenheit seines Geschlechts, der Erde, der Welt differenziert zu begreifen, [...] Darin sehe ich den Nutzen der Geschichte der Mathema-tik und ihrer Nachbargebiete: nicht der Mathematik zu dienen, sondern der Geschichte, nicht den Mathematiksinn, sondern den Geschichtssinn zu fördern. Aber vielleicht hilft es auch der Mathematik ein bisschen.“22
Es werden im Zusammenhang mit der Mathematikgeschichte viele legitime und erstrebens-werte Ziele vorgebracht. In der Folge jedoch wird von einigen Autoren eine Verniedlichung, Verfälschung und ein Ausverkauf der Mathematikgeschichtsschreibung im engeren, wissen-schaftlichen Sinn befürchtet.23
2.2 Hindernisse und Grenzen
Warum nun kommt die Geschichte der Mathematik im Mathematikunterricht kaum vor? H. N. Jahnke beruft sich bei seiner Beantwortung der Frage auf die australischen Mathematikdidak-tiker B. J. Fraser und A. J. Koop, welche 1987 eine Umfrage unter Lehrern zur Bedeutung der Geschichte der Mathematik für den Unterricht durchführten. Die Umfrage bestand aus mehre-ren Teilen, die einen regelrechten Trendwende-Prozess während der Umfrage erzielten. Am Anfang standen die meisten Lehrer dem Ganzen noch positiv gegenüber. Sie sprachen sich dafür aus, der Mathematikgeschichte im Unterricht einen größeren Raum zu geben. Nun wur-den die Lehrer mit historischen Materialien konfrontiert, die für den Einsatz im Unterricht konzipiert waren. Zum Abschluss wurden die Lehrer dahingehend befragt, wie sie die Mate-rialien beurteilen mit Hinblick darauf, sie selbst in ihrem Unterricht einzusetzen. Das Ergeb-nis ist kontrovers. Die Lehrer äußerten sich positiv über die Qualität der Materialien und die Eignung für den Unterricht, um wichtige pädagogische Ziele damit zu verfolgen. Kurioser-weise wurde der Gebrauch für den eigenen Unterricht letzten Endes geradezu ängstlich abge-lehnt. Wie war das möglich? Zwei Hauptgründe wurden dabei vorgebracht. Der riesige Zeit-mehraufwand und die bisherigen schwach ausgeprägten Vorkenntnisse. Dabei ist die Angst vor dem Zeitverlust, die bei jedem zusätzlichen Unterrichtsstoff mitschwingt, wohl normal. Aber es steckt mehr dahinter. Offensichtlich ist das Spannungsverhältnis zwischen Mathema-tikgeschichte und dem traditionellen Mathematikunterricht inklusive seiner Ziele so groß, dass wenige Lehrer sich befähigt sehen, historische Inhalte organisch in den Unterricht zu in-tegrieren. Nach Jahnke sollten historische Inhalte aber nicht zusätzlicher Stoff, sondern we-sentliches Mittel sein, um den mathematischen Inhalten, einer Ansammlung zusammenhangs-loser Rechenverfahren, einen Sinn zu geben – den Sinn der Begriffe und Techniken aus der Zeit ihrer Entstehung als Antworten auf Fragen und Probleme der Menschheit.24
Die Lehrplanreformvorschläge früherer Jahrzehnte haben meist nur dann zu Veränderungen geführt, wenn keine nennenswerte Änderung der Sichtweise von Mathematikunterricht damit verbunden war. Ein neues Kapitel wurde durch weitgehend kalkülhafte Aufgaben abgedeckt, dann gab es auch keine integrativen Probleme. Im umgekehrten Fall wurden dort, wo solche Aufgaben entweder nicht gegeben oder nicht sinnvoll waren entsprechend erfunden, z.B.: die Bildung des Durchschnitts der Mengen der Buchstaben der Wörter 'ANANAS' und 'MISSIS- SIPPI' oder die Aufgaben, die in ein solches Konzept passen, setzten sich in einem evolutions-ähnlichen Prozess durch und überwuchern die ursprünglichen Ziele25:
„Many of these exercises are of an artificial character: they have been constructed and devised exclusively for school purposes and there is nothing similar to them either in academic mathematics or in other kinds of professional mathematics.“26
Sobald Unterrichtsvorschläge aber nicht auf Kalkülniveau abgearbeitet werden konnten, wur-den sie nicht berücksichtigt. Sie pflegen dabei wie so manche Präambel in Lehrplänen oder allgemeine Lehrziele des Mathematikunterrichts das Dasein eines frommen, undurchführba-ren Wunsches:
„[...] a topic which does not give ample opportunity for exercises will not be considered suitable for inclusion in school mathematics. One may even classify school mathematics by various different types of exercises.“27
Einem solchen verfahrensorientierten Unterricht liegt die Ideologie zu Grunde, derzufolge Mathematik sich als Summe zu vermittelnder Rechenfertigkeiten zusammensetzt. Dabei spricht man von Aufgabendidaktik nach dem Prinzip der Isolierung von Schwierigkeiten und Mathematik erscheint den Schülern als eine Sammlung von unverbundenen Aufgabentypen. Dadurch wird eine Kurzschrittigkeit möglich, die dem Standpunkt der Unterrichtsplanung entgegenkommt, aber nicht in der Lage ist, ein Gesamtbild von Mathematik, Einstellungen und Wertungen zu vermitteln.28
Wagenschein beklagt:
„Die Erfahrung zeigt, dass diese unsere Unterrichtspläne beherrschende Vorratswirtschaft ('Das wird später irgendwann für irgendetwas gebraucht. Merkt es euch!') zwar logisch nicht falsch ist, sich aber pädagogisch als ärmlich und wenig erfolgreich gezeigt hat: Sie führt zur Häufung der Vorräte, damit zur Eile und vor allem: sie langweilt die Kinder, statt sie heraus-zufordern. Deshalb ist in Kürze fast alles vergessen.“29
Die Lehrer möchten möglichst objektive Beurteilungskriterien, welche sie gegenüber Eltern und Schüler leicht und eindeutig begründen und rechtfertigen können. Dies geschieht aus der Notwendigkeit heraus, Noten geben zu müssen und die oft einschneidenden Konsequenzen dieser Noten. Der Teufelskreis schließt sich in folgender Weise. Dafür steht die Ideologie, der-zufolge Prüfungen durch eine entsprechend große Anzahl an Übungsaufgaben vorbereitet werden müssen. Diese Aufgaben sollen den Prüfungsaufgaben ähnlich, aber nicht zu ähnlich sein. Kalkülaufgaben erfüllen diese Rolle idealerweise.
Folgendes Schaubild soll die Diskrepanz zwischen einem Unterricht, der auf selektiver Leis-tungsbeurteilung basiert, und einem Unterricht, der letztendlich auf Inhalte und die Entwick-lung des Schülers abzielt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Genau diese Probleme verhindern auch den Einbau von mehr Geschichte der Mathematik im Unterricht. Viele Lehrer und auch einige Didaktiker erwarten sich von der Mathematikge-schichte eine Unterrichtsauflockerung und damit zumindest vorübergehend eine Aufmerk- samkeitssteigerung der Schüler sowie mehr Akzeptanz des Mathematikunterrichts. Diese Hoffnungen verbinden sich hauptsächlich mit dem Einsatz von Anekdoten. Geschichte hätte also die Rolle des Animators, was auch durch Lehrerscherze, Rätsel oder Ähnliches möglich wäre. Sowohl an der Unterrichtsauffassung als auch an den herkömmlichen Zielen wird sich durch den Einbau historischer Anekdoten nichts ändern. Soll Mathematikunterricht denn zum Ziel haben, historisches Wissen zu vermitteln? Das passt nicht unbedingt zu jedem Schultyp. In technisch oder kommerziell orientierten Schulen ist ein ahistorischer Unterricht vertretbar. Doch selbst dort sind Maßnahmen wünschenswert, welche einem ausschließlich instrumentel-len Gebrauch von Mathematik entgegensteuern und auch die Chancen in Richtung Allge-meinbildung nicht von vornherein ungenützt lassen. Dies hängt hauptsächlich davon ab, wel-chem der vielfältigen Aspekte der Mathematik man welches Gewicht beimisst, also welche Absichten man als Lehrer mit Mathematikunterricht hat.30
Wenn Geschichte der Mathematik im Unterricht eine ernstzunehmende Rolle spielt, sollte sie dann in die Leistungsbeurteilung miteinbezogen werden? Diese Frage wird von der Mehrheit von Lehrern und Lehramtsstudenten verneint. Aber ist es nicht so, dass Mathematikgeschichte im Unterricht nur dann einen Sinn hat, wenn sie eben doch auch gebührend überprüft wird?
„Die meisten Ziele des Mathematikunterrichts, gleichgültig welcher Richtung, können über-dies nur dann befriedigend umgesetzt werden, wenn es gelingt, sie in den (leidigen) Prüfungs-betrieb und in die Leistungsbeurteilung zu integrieren. Prüfungsbeispiele müssen die Schwer-punktsetzungen des Unterrichts spiegeln.“31
Sollte die Geschichte der Mathematik stattdessen ohne entsprechende Überprüfung in den Mathematikunterricht eingebaut werden, gibt es folgende Probleme. Besonders schwächere Schüler und deren Eltern begehren oft gegen ein solches 'Abschweifen vom Wesentlichen' und 'Vernachlässigen des Übens der alles entscheidenden prüfungsrelevanten Aufgaben' auf. Was wesentlich ist und was nicht, wird aber eben mit Hilfe der Gewichtung bei der Leistungs-beurteilung forciert und ist im Eigentlichen nicht ganz eindeutig. Grundsätzlich ist es wie mit den Beweisen im Mathematikunterricht. Wenn ein Lehrer keine Beweise prüft, wird er sie auch kaum in den Unterricht einfließen lassen. Wenn er dies dennoch tut, lernen die Schüler im Unterricht an den Stellen abzuschalten, an denen die nicht-prüfungsrelevanten Beweisegeführt werden. Nur wenige Schüler sind bereit sich zusätzlich solchen Stoff anzueignen. Ein Schüler hat das Recht darauf, dass ein Stoff, den er sich aneignet, auch in der Leistungsbeur - teilung berücksichtigt wird. Ein weiteres häufiges Argument ist, dass kalkülhafte Aufgaben die einzige Chance für schwächere Schüler sein sollen, sich zu verbessern. Dabei könnte es sich um eine Ausrede für einen anspruchslosen und leicht vorbereitbaren Unterricht handeln. Es wäre womöglich sinnvoller, diesen Schülern eine breite Palette von Möglichkeiten zu geben, Leistungen nachzuweisen. Das können beispielsweise Referate über verschiedene Themen (u.a. historische), schriftliche Ausarbeitungen oder das Herstellen von Querverbindungen zu anderen Fächern sein. Dies ist in anderen Fächern häufiger anzutreffen.32
[...]
1 Bourbaki 1974, S. 156.
2 Vgl. Kronfellner 1998, S. 1.
3 Cicero zitiert nach Deschauer 2000, S. 42.
4 Vgl. Vohns 2003, S. 1-2.
5 Vgl. Vohns 2003, S. 1.
6 Vgl. Heymann 1996, S. 47 und S. 65.
7 Vgl. Vohns 2003, S. 1-2.
8 In vielen Ländern wurde die Schulmathematik in den sechziger und siebziger Jahren reformiert. Mathematikunterricht sollte ausgehend von den vorhergehenden Veränderungen der Grundlagen der wissenschaftlichen Mathematik vom Rechenunterricht zum Unterricht abstrakter Strukturen erweitert werden. Davon übrig geblieben ist unter anderem die Einführung des Funktionsbegriffs bereits in der Sekundarstufe I. Die Behandlung von Gruppen- und Körperaxiomen in der Oberstufe sowie die Einführung der natürlichen Zahlen und ihrer Rechenoperationen auf Grundlage einer naiven Mengenlehre in der Grundschule wurden aus Protest wieder zurückgewiesen. Die Reformen wurden international unter dem Begriff New Math und in Deutschland entsprechend unter Neue Mathematik zusammengefasst.
9 'Nicolas Bourbaki' war das Pseudonym eines Autorenkollektivs um den Mathematiker J. Dieudonné. Das Ziel Bourbakis Lehrbücher 'Eléments de mathématique' war es, nur Themen zu behandeln, die für einen systematischen Aufbau der Grundlagen der Mathematik notwendig waren. Aussortiert wurden so u.a. die Zahlentheorie, die angewandte Mathematik und die euklidische Geometrie, die mit der Behandlung der topologischen Vektorräume als erledigt angesehen wurde. Die Entwicklungen gelten als Grundlage der späteren New-Math-Bewegung, von der sich Dieudonné selbst aber strikt distanziert hat.
10 Jones 1978, S. 57.
11 Ebd., S. 61.
12 Rogers 1976, S. 306.
13 Ebd., S. 306.
14 Flegg 1978, S. 68.
15 Vgl. u.a. Bergmann 1979.
16 Scriba 1983, S. 113-114.
17 Vgl. ebd., S. 115.
18 Ebd., S. 116-117.
19 Vgl. IREM 1988, S. 4 und S. 9-10; die Forschungsinstitute IREM (Instituts de Recherche sur l'Enseignement des Mathématiques) veröffentlichen eine Ausgabe ihrer Forschungsberichte immer anlässlich des ICME (International Congress of Mathematical Education). ICME ist eine Tagung, welche alle vier Jahre an einem anderen internationalen Tagungsort von der ICMI (International Commission on Mathematical Instruction) veranstaltet wird.
20 Vgl. Kronfellner 1998, S. 10-11.
21 Nagaoka 1989, S. 176.
22 Freudenthal 1978, S. 77.
23 Vgl. Kronfellner 1998, S. 11.
24 Vgl. Jahnke 1991, S. 6.
25 Vgl. Kronfellner 1998, S. 17.
26 Dörfler 1986, S. 63.
27 Ebd., S. 63.
28 Vgl. Kronfellner 1998, S. 18.
29 Wagenschein 1962, S. 67.
30 Vgl. Kronfellner 1998, S. 19-20.
31 Reichel 1991, S. 158.
32 Vgl. Kronfellner 1998, S. 21.
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