Die Irritation des Lesers durch das Erzählmedium in Elfriede Jelineks ´Lust´


Hausarbeit, 2001

19 Seiten, Note: 2


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1. Aus Sprache gebaut - der Konstruktionscharakter
1.1. Erzählform - Distanzierung vom Subjektbegriff
1.2. Perspektivenwechsel und Identitätsprovokation

2. Erzählverhalten und Erzählhaltung
2.1. Assoziation und Bilderfülle
2.2. Stellungnahme und Konfrontation
2.3. zeitlich-inhaltliche Konturen

3. Der Sprung in die Erzählwelt
3.1. Erzählsituation und Standort des Erzählmediums
3.2. Sichtweise und Arten der Darbietung

4. Schlusswort

5. Literaturverzeichnis

Einleitung

Orientierungslosigkeit und Irritation. Diesen Eindruck wird Elfriede Jelineks Buch "Lust"[1] (1989) wohl bei den meisten Lesern hinterlassen haben. Einen großen Anteil an dieser Verunsicherung hat neben anderen Faktoren das Erzählmedium, mit dem ich mich in dieser Hausarbeit beschäftigen möchte. Warum fühlt sich der Leser so "aus dem Gleichgewicht gebracht"? Was bringt ihn durcheinander? Die Autorin setzt in "Lust" ein Erzählmedium ein, das gegen die üblichen Lesererwartungen verstößt und so den Leser immer aufs neue irritiert und verunsichert. Wie diese Lesererwartungen aussehen und wie sie umgangen und enttäuscht werden, darum soll es hier gehen.

Ich habe mir drei inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, die in ihrem Aufbau Jürgen H. Petersens "Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte."[2] folgen und auf seinen Kategorien aufbauen. Inhaltlich habe ich mich zum größten Teil auf Jutta Schlichs "Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur: Am Beispiel von Elfriede Jelineks "Lust"(1989)"[3] gestützt.

Wir sind es gewohnt einer Erzählinstanz wie auch den Figuren eines Buches wie realen Personen zu begegnen, sie kennen- und einschätzen zu lernen. Warum das in "Lust" nicht funktionieren kann und beim Leser zu Orientierungslosigkeit führt zeige ich im ersten Teil. Im zweiten Teil wird es um das Verhalten des Erzählmediums und seiner Haltung zu Figuren und Leser gehen. Auch hier wird deutlich werden, wie festgelegt unsere Vorstellungen von einem Erzähler traditionell sind.

Im dritten Teil schließlich soll es darum gehen, den Sprung des Erzählmediums in seine eigene Erzählwelt zu verfolgen um zu zeigen, dass nicht nur der Leser, sondern auch das Erzählmedium und die Figuren selbst die Kontrolle über das Geschehen verlieren bzw. aufgeben und welche Konsequenzen das hat.

Mich interessiert an dem Thema vor allem das Weltbild und die Vorstellungen, die wir in uns tragen und vor dessen Hintergrund eine solche Verunsicherung überhaupt erst stattfinden kann.

Elfriede Jelinek scheint ihren Spiegel zu erheben und uns zuzurufen. "So geht's wenn Menschen untergehen, die mit dem Leben scherzen!"[4]

1. Aus Sprache gebaut - der Konstruktionscharakter

1.3. Erzählform -Distanzierung vom Subjektbegriff

Die Geschichte: Hermann ist Direktor einer Papierfabrik und wendet sich aus Angst vor Aids vom Bordell ab und seiner trinkenden Frau Gerti zu. Diese versucht seinen Übergriffen durch die Hinwendung zum gemeinsamen Sohn zu entgehen, was ihr nicht gelingt. Als sie den Studenten Michael bei einem Ausbruchversuch trifft, verliebt sie sich in ihn und will noch einmal von vorn beginnen. Michael jedoch spielt mit ihr und demütigt sie. Sie muss zurückkehren und erstickt schließlich ihren Sohn.

Bei dem Versuch, die Erzählinstanz in "Lust"[5] nach Jürgen H. Petersens Kategorien der Erzählanalyse[6] zu untersuchen, stößt man auf nicht unerhebliche Probleme. Schon bei der Bestimmung der Erzählform stellt man schnell fest, dass es kein einheitliches Verhältnis der Erzählinstanz zum Erzählten gibt. Zwar dominiert die Er/Sie Erzählform ("Der Mann geht ganz allein weiter.")[7], daneben gibt es jedoch fließende Übergänge zur Wir-("Wir Knechtgestalten".)[8], Ich- (Ich fordere Sie ernstlich auf: Luft und Lust für alle!")[9] und Du-Erzählform.("Fahren Sie vorsichtig.")[10]

Der Leser kennt den Erzähler traditionell als einheitliche Figur, d.h. wie auch alle anderen Figuren als Subjekte mit festem Wesenskern und Eigenschaften. Die fließenden Übergänge haben zur Folge, dass der Leser keine Orientierung mehr dafür hat, wer bzw. was spricht. Die schnellen Wechsel der Sprecher, die im Text meist nicht eindeutig zu erkennen sind, verunsichern zusehends. Dem Leser wird gewissermaßen die "Kontaktperson" genommen. Er kann der Erzählinstanz nicht wie gewohnt als Person begegnen, er kann ihr nicht vertrauen, da er gar nicht weiß, an wen oder was er sich wendet. Den traditionellen Erzähler des bürgerlichen Romans, als Person, die nach logischen "Gesetzmäßigkeiten" handelt, den Leser an die Hand nimmt und ihn sicher durch die Erzählung führt gibt es in "Lust" nicht mehr. Er erfüllt keine Überblicks- Klärungs- und Ordnungsfunktion innerhalb der Erzählung mehr und verhindert auf diese Weise auch, dass der Leser sich ein klares Bild von den Geschehnissen machen kann. Nach Yasmin Hoffmann[11] haben alle Figuren Jelineks, die Erzählinstanz mit eingeschlossen, keine Substanz, kein "wahres" Gesicht, keinen Kern. Die Figuren existieren ihr zufolge nur durch die Sprache und darin erschöpft sich auch ihre Identität.

"Gedacht, getan [...],um die Sprache sind die Menschen ja nie verlegen und mehr ist auch nicht in ihnen verborgen."[12]

Sie sind also sprechende oder auch besprochene Subjekte, denen jedoch ein Erfahrungshintergrund für das was sie sagen fehlt. Was sie sagen ist nicht Produkt der Überlegungen eines denkenden Subjektes, sondern gewissermaßen formelhaft "eingesetzte" Schablonen, für die es keine echte erlebte Wirklichkeit in den Figuren geben muss. Da sie in ihrem Erleben manipuliert und determiniert sind, sie aus Sprache gebaut und hinter dieser "Sprachfassade" gibt es auch nichts weiter zu entdecken. Marlies Janz bezeichnet dies als "Gesichts -und Geschichtslosigkeit".[13] Die Einheit der Figur zerfällt in eine "Skala möglicher Bewusstseinslagen".[14]

Die Frage nach dem Grad des Bewusstseins, des Wissens, der Einsicht in das Ausgesagte der Sprecher stellt sich in allen Texten Jelineks, da es zu den grundlegenden Zügen ihres Schreibens gehört, stets zu verhindern, sowohl einen eindeutigen Standpunkt auszumachen, als auch eine eindeutige Antwort auf die Frage zu erhalten: wer spricht.[15]

Für Jutta Schlich[16] fehlt der Erzählinstanz nicht nur ein wahres Gesicht, sondern auch eine prinzipielle Überlegenheit aufgrund seines Wissens über das Erzählte und seiner Distanz zum Geschehen; zwei Merkmale, die ihrer Auffassung nach den traditionellen Erzähler kennzeichnen. Die Folge ist die schlechte Fassbarkeit der Erzählinstanz. Jutta Schlich bezieht sich deshalb auf Wolfgang H. Schober, der diese Erzählinstanz, dessen "Wesen kaum fassbar"[17] ist, als "Erzählmedium"[18] bezeichnet,

wenn er auch manchen Charakterzug durch die Art seines Berichtes preisgibt. Der Autor verzichtet mit dem Einsatz eines Erzählmediums auf die Beglaubigung des erzählten Inhaltes: es wird fingiert, die Geschichte erzähle sich gleichsam selbst.[19]

Ich möchte deshalb an dieser Stelle den Begriff Erzählmedium übernehmen, da er mir für die Charakterisierung der Erzählinstanz in "Lust" angemessen scheint.

Die eben angesprochene Schablonenhaftigkeit der Aussagen beruhen Yasmin Hoffmann zufolge auf der Überzeugung Elfriede Jelineks, dass individuelles Handeln nicht mehr möglich sei.

Die Distanzierung vom Subjektbegriff bedeutet, dass sowohl das Erzählmedium seine traditionelle Rolle als Subjekt nicht mehr spielt, also depersonalisiert wird, als auch dass das Sprechen und damit Denken der Figuren vom System, in dem diese Figuren leben, determiniert ist und eben deshalb keinen individuellen Hintergrund mehr hat.

"Wir wollen jetzt aber nicht persönlich werden."[20] Aus dem Romanheld, wird das "Romanpersonal"[21]

Das Soziale hat mit Hilfe der Massenmedien und anderer gesellschaftsstrukturierender Elemente wie Kirche, Staat oder Kunst Vorrang vor dem Individuellen errungen. Die Grenzen der Handlung in "Lust" stellen die gesellschaftlich etablierten Grenzen dar. Was wir als individuelle Werte und Handlungsmotive betrachten, ist lediglich Ergebnis eines komplexen Lern- und Kombinationsprozesses. Erfahrung, Bildung, Identität sind vom System bedingte, konstruierte Gefüge, die nicht dem Einzelnen gehören. Elfriede Jelinek:

Ich möchte das jetzt wirklich überspitzt formulieren und sagen, dass in diesem System der Individualismus eine große Illusion und eine große Lüge ist. Bei der Geschlossenheit des Systems ist individuelles Handeln kaum möglich. Es ist mir wichtig, in meinen Büchern diese Determiniertheit aufzuweisen.[22]

Jutta Schlich bezeichnet die Vorstellung des Subjektbegriffes traditionell als wichtigstes Fundament des bürgerlichen Romans. Wie in der Ausführung deutlich geworden ist, lebt diese Vorstellung wenigstens teilweise noch im Leser fort, der sich durch die Konfrontation mit Figuren und einem Erzählmedium, die keine Subjekte mehr sind, zutiefst verunsichert und haltlos fühlt. Er begegnet keinen Personen mehr, sondern Fragmenten, Prototypen, Fassaden. Doch "Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit sind für die moderne Literatur keine Kriterien mehr."[23] Zumindest keine, an die es sich zu halten gilt.

Man kann Personen ja eigentlich nur noch als Zombies auftreten lassen oder als Vertreter einer Ideologie oder als Typenträger oder als Bedeutungsträger wie man sie nennen will, aber nicht als runde Menschen mit Freud und Leid [...], das ist vorbei, ein für allemal.[24]

[...]


[1] Jelinek, Elfriede: Lust. Reinbek bei Hamburg 1989; wird im Folgenden nur noch als "Lust" zitiert

[2] Petersen, Jürgen H.: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart, Weimar 1993

[3] Schlich, Jutta: Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur: Am Beispiel von Elfriede Jelineks "Lust"(1989)" (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Bd.71) Tübingen 1994

[4] Jelinek, Elfriede: Lust, S.138

5Jelinek, Elfriede: Lust.

6Petersen, Jürgen H.: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart, Weimar 1993

[7]Jelinek, Elfriede: Lust, S.18

[8] Jelinek, Elfriede: Lust. , S.80

[9] Jelinek, Elfriede: Lust., S.105

[10] Jelinek, Elfriede: Lust, S.117

[11] Vgl. Hoffmann, Yasmin: "Elfriede Jelinek. Sprach -und Kulturkritik im Erzählwerk." Opladen/Wiesbaden 1999

[12] Jelinek, Elfriede: Lust., S.235

[13] Vgl Janz, Marlies :Elfriede Jelinek. Sammlung Metzler Bd 286 Stuttgart 1995

[14] Mattis: Sprechen als theatralisches Handeln? 1987,S.169 in: Schlich, Jutta

[15] Hoffmann, Yasmin: Elfriede Jelinek., S.172

[16] Vgl. Schlich, Jutta: Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur.

[17] Schober, Wolfgang H.: Erzähltechniken in Romanen. Eine Untersuchung erzähltechnischer Probleme in zeitgenössischen Romanen. Wiesbaden, Dis.1975, S.69

[18] Ebenda.

[19] Ebenda.

[20] Jelinek, Elfriede: Lust., S.61

[21] Schlich, Jutta: Phänomenologie der Wahrnehmung., S.45

[22] Elfriede Jelinek in einem Gespräch mit Joseph Hermann Sauter in: Weimarer Beiträge 6, Berlin (DDR)1981, S.113 in: Hoffmann Yasmin: Elfriede Jelinek.

[23] Claes, Oliver: Fremde. Vampire. Sexualität, Kunst und Tod bei Elfriede Jelinek und Adolf Muschg. Bielefeld 1994, S.123

[24] Elfriede .Jelinek im Gespräch (1985). Abgedruckt in: Alms, Barbara: Blauer Streusand. Frankfurt a.M.1987, S.41. in: Schlich, Jutta, Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur., S.51

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Die Irritation des Lesers durch das Erzählmedium in Elfriede Jelineks ´Lust´
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Geisteswissenschaften)
Note
2
Autor
Jahr
2001
Seiten
19
Katalognummer
V1354
ISBN (eBook)
9783638108317
Dateigröße
404 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jelinek Lust
Arbeit zitieren
Fanny Jimenez (Autor:in), 2001, Die Irritation des Lesers durch das Erzählmedium in Elfriede Jelineks ´Lust´, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1354

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