Dieser Essay ist als Modulabschlussprüfung zu einer Einführungsvorlesung im Fach Kultur- und Sozialanthropologie verfasst worden. Die Aufgabe bestand darin, eine klassische Monographie und eine Restudy dazu zu recherchieren, zusammenzufassen und zu erläutern, auf welche fachliche Entwicklung der Kultur- und Sozialanthropologie der Autor/die Autorin mit der Restudy reagierte bzw. welche neuen Perspektiven damit entwickelt wurden.
Ausgesucht wurde eine frühe Studie von Claude Lévi-Strauss, in welcher er die Entstehung und Funktion der politischen Führung bei dem im Amazonasgebiet lebenden indigenen Volk der Nambikwara untersucht, wodurch er die universalen Grundstrukturen menschlicher Gesellschaften verstehen möchte. Die 1981 erschienene Restudy zu dem Thema wurde von dem amerikanischen Anthropologen David Price durchgeführt. Er kritisiert darin die von Lévi-Strauss vorgenommene Zuschreibung von Primitivität und den darauf aufbauenden Forschungshorizont, ferner bietet er eine andere und differenziertere Interpretation der Sozialstruktur der Nambikwara an, insbesondere bezüglich der Rolle des Anführers.
I. Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Führung bei den Nambikwara
2 Lévi-Strauss: Macht durch Konsens, Reziprozität und den Willen zur Verantwortung
3. David Price: Egalitäre Führung als Sorge zwischen Geschwistern
4 Divergenzen: Naturzustand oder Zeitgenossenschaft
5. Fazit: Kulturrelativismus statt Allochronismus
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung: Führung bei den Nambikwara
Im Jahr 1939 betrieb Claude Lévi-Strauss Feldforschung bei den im Amazonasgebiet lebenden Nambikwara. Seine sechs Jahre später erstmals veröffentlichten Ergebnisse erschienen im Jahr 1967 erneut in einem prominenten Sammelband. In der vorliegenden Monographie untersucht er primär die Entstehung und Funktion der Führung bei den Nambikwara, wodurch er die universalen Grundstrukturen menschlicher Gesellschaften verstehen möchte (1967: 46). Bei der Erklärung der Machtrelationen in der von ihm als primitiv bezeichneten Gesellschaft nutzt Lévi-Strauss das Modell des reziproken Gabentausches, worin sich der starke Einfluss von Mauss in seiner frühen Schaffensphase zeigt (Johnson 2003: 5, 32).
Im Jahr 1968 forschte der amerikanische Anthropologe David Price bei den Nambikwara. Er ging zunächst keiner spezifischen Forschungsfrage nach, kannte jedoch den Artikel von Lévi- Strauss. Price kritisiert in der 1981 erschienen Restudy die von Lévi-Strauss vorgenommene Zuschreibung von Primitivität und den darauf aufbauenden Forschungshorizont, ferner bietet er eine andere und differenziertere Interpretation der Sozialstruktur der Nambikwara an, insbesondere bezüglich der Rolle des Anführers. Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, die zentralen Aspekte herauszuarbeiten, in welchen Price' Restudy sich von Lévi-Strauss' Monographie absetzt. Zu diesem Zweck sollen beide Texte zunächst zusammengefasst werden. Anschließend kann erläutert werden, welche neuen Perspektiven Price entfaltet.
2. Lévi-Strauss: Macht durch Konsens, Reziprozität und den Willen zur Verantwortung
Lévi-Strauss betont in der vorliegenden Monographie, dass sein Forschungsinteresse nicht in der Untersuchung einer spezifischen Menschengruppe bestehe. Stattdessen habe er sich die Nambikwara lediglich als Beispiel einer ,einfachen‘ Gesellschaft ausgesucht, an welcher sich die universal gültige Grundform der Macht, als welche er die konsensual fundierte Führung eines Mannes betrachtet, gut nachvollziehen ließe (Lévi-Strauss 1967: 46). Die Einfachheit der Nambikwara sieht Lévi-Strauss in dem technologischen Entwicklungsstand sowie in der niedrigen Komplexität ihrer sozialen Beziehungen gegeben (1967: 47-48, 53).
Die Nambikwara leben in aus wenigen Familien bestehenden Kleingruppen zusammen, welche Lévi-Strauss durch schwache soziale Bindungen und Passivität charakterisiert (1967: 55). Der konsensuale Wille der Kleingruppe sei es jedoch, durch welchen die Rolle des Anführers entstehe, da sie eine Person als Organisator und Faktor sozialer Kohäsion einsetze. Dem Anführer komme dementsprechend die Rolle zu, die Sicherheit der Gruppe zu gewährleisten und die Organisation von Wanderungen, Jagden etc. zu übernehmen. Neben dieser größeren Quantität an Aufgaben müsse er sich durch eine enorme Großzügigkeit auszeichnen, um die Gunst der wenig gefestigten Kleingruppe zu bewahren (Lévi-Strauss 1967: 54-55). Aufgrund dieser Nachteile sei der Konsens der Gruppe als alleinige Erklärung der Führungsrolle nicht hinreichend. Die Reziprozität müsse den Konsens als Erklärung der Macht ergänzen: Der Anführer akzeptiere die größere Quantität an Aufgaben, da ihm dafür das Privileg der Polygamie zukomme (Lévi-Strauss 1967: 56-57). Von seinen mehreren Frauen erhielte er zudem Hilfe bei den umfassenden Pflichten. Die über die erste Frau hinausgehenden Heiraten des Anführers mit jüngeren Frauen führen laut Lévi-Strauss zu einer Dysbalance in dem ansonsten ausgeglichenen System der Kreuzcousinenheirat, weswegen einige junge Männer ledig bleiben müssten oder ältere Frauen heirateten (1967: 58).
Die Motivation für den reziproken Tausch aus der Sicht eines (implizit männlichen) Gruppenmitglieds beschreibt Lévi-Strauss folgendermaßen: Der individuelle Vorteil eines perfekten Kreuzcousinenheiratssystems, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Partnerin zu bekommen, werde für kollektive Sicherheit durch einen Anführer ausgetauscht. Dieser dürfe als einziger Mann polygam leben und biete der gesamten Gruppe im Gegenzug dazu Schutz vor Gefahren an (Lévi-Strauss 1967: 60). Für den Anführer selbst sei dieser Tausch aber immer noch unzureichend, er müsse daher zusätzlich psychologisch motiviert sein. Daher stellt Lévi- Strauss die spekulative These einer anthropologischen Konstante auf: In jeder menschlichen Gruppe gebe es einzelne Männer, welche sich zu Verantwortung hingezogen fühlen (1967: 61).
3. David Price: Egalitäre Führung als Sorge zwischen Geschwistern
Die Analysekategorie, welche Price bei seiner Beschreibung der Sozialstruktur der Nambikwara in erster Linie verwendet, ist die der Verwandtschaft. Die wichtigsten Rollenunterscheidungen, welche die Nambikwara treffen, sind laut Price neben den geschlechtlichen die zwischen verschiedenen Generationen sowie zwischen ,nahen’ und ,entfernten‘ Verwandten (1981: 689).
Price stimmt Lévi-Strauss darin zu, dass die Entscheidungsfindung in den Kleingruppen durch Diskussionen stattfinde, in welchen Männer ihre Frauen und Kinder repräsentieren. Er betont, dass der Anführer in diesen Diskussionen keine besondere Stellung innehat, er initiiere diese lediglich häufig (Price 1981: 693). Da zwischen nahen Verwandten enge, unterstützende Beziehungen bestehen, habe in den Diskussionen vielmehr die quantitativ stärkste Brüdergruppe der Kleingruppe den größten Einfluss (Price 1981: 689). Price stimmt trotz dieser Differenzierung bezüglich des konsensualen Charakters von Entscheidungen größtenteils mit Lévi-Strauss überein. Die Idee eines Austauschs von Gehorsam gegen die Vorzüge des gesellschaftlichen Lebens, lehnt er allerdings ab. Dieses von Lévi-Strauss in Anlehnung an Rousseaus Konzept des Gesellschaftsvertrags entwickelte Theorem beruhe auf zwei falschen Prämissen: Die erste sei die Annahme eines vorgesellschaftlichen Zustands, welche Price mit Verweis auf die inhärente Gesellschaftlichkeit des Menschen zurückweist. Die zweite Prämisse bestehe darin, dass Autorität notwendig für soziale Ordnungen sei. Auch diese sei unzutreffend, da die Nambikwara selbst ein Beispiel dafür seien, dass die Organisation einer Gesellschaft auch in einer egalitären Weise geschehen könne (Price 1981: 701). Weiterhin ist Price zufolge die Idee der Reziprozität als universelles Modell sozialer Handlungen generell unhaltbar und lediglich eine Projektion der Struktur des kapitalistischen Warentauschs: „[T]he Nambiquara economic system is predicated on an avoidance of immediate reciprocity. Its primary function is to maintain social links, not to permit the acquisition of scarce goods” (1981: 702). An diesem Punkt verkennt Price allerdings, dass die von Lévi-Strauss in Anlehnung an Mauss entwickelte Idee der Reziprozität keineswegs einem rationalisierten Tauschkalkül gleicht, sondern dass die zentrale Funktion des Gabentausches der Aufbau sozialer Beziehungen ist (z.B. Mauss 1968: 51).
Price bietet eine alternative Erklärung für die Kohäsion der Kleingruppe, welche er als egalitäre Gemeinschaft auffasst: Verwandtschaftsbeziehungen und Heiraten führen dazu, dass eine Kleingruppe zwar dynamisch, aber keineswegs labil sei (Price 1981: 700). Da das Heiraten ein Faktor sei, welcher Brüder voneinander trennen könne, achten diese beispielsweise darauf, wenn möglich endogam zu heiraten (Price 1981: 689). Der Anführer kommt Price zufolge meistens aus der beschriebenen dominanten Brüdergruppe. Seine Polygamie interpretiert Price nicht als ein Privileg, sie sei hauptsächlich ein Mittel, um für Frauen zu sorgen, die ansonsten keine männliche ökonomische Unterstützung hätten (1981: 698). Somit widerspricht Price auch der These, dass der Anführer anderen Männern mögliche Heiratschancen entzieht. Laut Price leben die Nambikwara also in einer egalitären Gesellschaft, deren Grundstruktur in der engen Beziehung zwischen Geschwistern bestehe (1981: 703). Die Gruppe profitiere von einem Individuum, das bei der Konsensbildung helfe, die Führung sei aber in keiner Weise institutionalisiert (Price 1981: 702). Die Relationen zwischen diesem einflussreichsten Mann und dem Rest der Gruppe bei den Nambikwara sollten nämlich nicht primär als politisch, sondern als symbolische und tatsächliche Verwandtschaftsbeziehungen aufgefasst werden. Die Rolle des Anführers kommt laut Price bei den Nambikwara einem älteren Bruder zu, welcher sich um seine weniger kompetenten Geschwister kümmert (Price 1981: 703).
3. Divergenzen: Naturzustand oder Zeitgenossenschaft
Beide Autoren legen ihr methodisches Vorgehen nicht detailliert dar, es ist jedoch bekannt, dass die Feldforschungen von Lévi-Strauss nie von sehr langer Dauer waren, während Price mehrere Male für einige Monate bei den Nambikwara war (Parkin 2005: 209; Price 1981: 687). Im Gegensatz zu Lévi-Strauss reflektiert Price auch die eigene Frustration wegen Problemen bei der Forschung (1981: 687), ein Aspekt, der in der Kultur- und Sozialanthropologie in den 1970ern und 1980ern unter anderem als Folge der Auseinandersetzung mit Malinowskis Tagebüchern zunehmend gefordert oder zumindest akzeptiert wurde.
Während Lévi-Strauss die Nambikwara größtenteils als sehr homogen darstellt, vermeidet Price eine kulturelle Essentialisierung. So schreibt er etwa, dass neben der egalitären die autoritäre Form der Führung durchaus in manchen Fällen vorkomme, beispielsweise bei Konflikten mit anderen Gruppen (Price 1981: 695). Er verortet diesen Widerspruch somit in der Kultur selbst, wodurch ermöglicht wird, diese nicht mehr als starr und mit sich selbst identisch aufzufassen. Weiterhin sollte festgehalten werden, dass die Naturalisierung von männlicher Herrschaft, welche Lévi-Strauss in der untersuchten Monographie vornimmt, von Price teilweise problematisiert wird. Im Gegensatz zu Lévi-Strauss, der die Frauen lediglich als Tauschobjekte interpretiert, thematisiert seine Erklärung der Polygamie zumindest auch die Interessen der Frauen, ökonomisch abgesichert zu sein. Ansonsten bleibt er allerdings an vielen Stellen in dem von Lévi-Strauss eröffneten Horizont verhaftet, welcher die sozialen Strukturen der Nambikwara größtenteils aus der männlichen Perspektive herleitet. So thematisiert er beispielsweise nicht, dass Lévi-Strauss den Hang zur Verantwortung nur Männern zuschreibt, ohne dies zu belegen.
Der wichtigste Perspektivwechsel, welchen die Restudy von Price aufmacht, besteht allerdings in dem verfolgten Erkenntnisinteresse: Das primäre Ziel von Price besteht nicht darin, Aussagen über universal auffindbare Strukturen menschlicher Gesellschaften zu treffen, sondern darin, ein angemessenes Verständnis für die Sozialstruktur der Nambikwara zu dem Zeitpunkt seiner Forschung zu entwickeln. Dabei verortet er die Nambikwara in der (damaligen) Gegenwart, indem er darauf eingeht, dass die Nambikwara Kontakt zu anderen Menschengruppen haben, was die Perspektive von Lévi-Strauss gar nicht zulässt, da sie allochronisch sein muss, um die Nambikwara romantisierend als Exempel eines rousseauschen Naturzustandes darzustellen (Deliège 2004: 19, 48). Die von Fabian (1983) geäußerte Kritik der Verwehrung der Zeitgenossenschaft trifft auf Lévi-Strauss also zu, auf Price hingegen nicht. Er sieht es zudem als willkürlich an, den Nambikwara ,Einfachheit‘ zuzuschreiben, denn jeder Vergleich hänge von den Vergleichsparametern ab (1981: 700). Ein Hauptkonflikt in der amerikanischen Anthropologie in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bestand zwischen Neo- Evolutionist:innen, welche sich für Hierarchisierungen nach technischen Parametern aussprachen und Schüler:innen von Boas, welche einen Kulturrelativismus vertraten (Silverman 2005: 276). Der zweiten, eher losen Strömung entspricht die Haltung von Price zu Kulturvergleichen. In einer späteren Debatte ab den 1960er-Jahren wurde die Frage nach der Universalität politischer Strukturen verhandelt (Silverman 2005: 280). Da er in seiner Analyse den qualitativen Unterschied von Verwandtschaftsbeziehungen und politischen Strukturen betont, ist Price in dieser Debatte eher der substantivistischen Position zuzuordnen.
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- Arbeit zitieren
- Anonym,, 2023, Führung bei den Nambikwara. Eine Restudy, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1357092
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