Prozesse der Mythisierung in Tomás Eloy Martínez' Roman Santa Evita


Hausarbeit, 2007

15 Seiten, Note: 2

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

2 Erzählvermittlungsanalyse

3 Bibliographie

1 Einführung

Der Schriftsteller und Journalist Tomás Eloy Martínez (* 1934 in Tucumán) widmet seinen Roman Santa Evita einer der am meisten mythifizierten Figuren der argentinischen Geschichte, in deren Person die traumatische Beziehung zwischen der argentinischen Politik und dem Militarismus bildhaft zum Ausdruck kommt: der Eva Duarte, der Frau des argentinischen Präsidenten Juan Domingo Perón. Als Evita Perón wurde sie in einem Prozess der Mystifizierung zum Sinnbild eines ganzen Zeitalters der argentinischen Geschichte. Diese Prozesse der Mythisierung versucht Martínez in seinem Roman nachzuzeichnen, was ihm vor allem durch seine eigenartige Gestaltung der literarischen Diskursebene besser gelingt als den anderen, vorher erschienenen Werken über Evita Perón. Diese Art der Diskursgestaltung spiegelt die postmodernen Tendenzen wider, die seit den 60er Jahren in der Literatur stattfinden und sich durch einen freien Umgang mit etablierten Konventionen und durch Hybridisierung verschiedener literarischer Ausdrucksformen, Diskurse oder Genres auszeichnen. Martínez gestaltet seinen Roman durch die Mischung der Genreformel eines Geschichtsromans mit sekundären, nichtfiktionalen Textsorten und dokumentarischen Elementen. Durch solche Aufeinanderlegung der geschichtlichen, zeugenschaftlichen und sozialantropologischen Diskurse (Wünsche, Mythen, utopische Träume und auch die Verzweiflung der Volksmasse, die aus der Perspektive einiger typischer Vertreter dieser Volksmasse dargestellt werden) um die Hauptfigur des Romans ensteht ein ambivalenter Effekt, der die Grenzen zwischen dem Fiktiven und Nichfiktiven im Roman verschwimmen lässt. Gerade in diesem Spiel zwischen der Fiktion und Nichtfiktion offenbaren sich die Prozesse der Mythisierung der Protagonistin des Romans.

Ziel dieser Arbeit ist es, die von dem Autor durchgeführte Untersuchung des Mythos Evita Perón auf der Diskursebene zu erforschen, wobei die Handlung nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Da im Roman die Geschlechterdarstellungen eine große Rolle bei den literarischen Absichten des Autors spielen, werden bei der Erzählanalyse auch einige Aspekte der gender -orientierten Textinterpretation miteinbezogen.

2 Erzählvermittlungsanalyse

Martínez stellt sich das Ziel, den Mythos Evita, der nach wie vor als reales Phänomen existiert, zu verstehen, indem er im Prozess des Schreibens seine Entstehung zurückverfolgt. Im Gegensatz zu anderen Biografen geht es dem Autor aber nicht um eine bestimmte Darstellung von Evitas Person, sondern vielmehr darum, kennen zu lernen und zu verstehen, wie sie zum Mythos geworden ist: „Die Mythe gleicht einem Vogel, den niemand sehen kann, und Geschichte ist Suchen, Nachforschen: Der Text ist eine Suche nach dem Unsichtbaren – oder die Ruhe dessen, was fliegt“ (SE 68).

Martínez strebt in erster Linie danach, ein möglichst reales, menschliches und nicht pathetisches oder idealisiertes Bild seiner Hauptfigur zu finden, schließlich soll sie als Romanheldin „un hombre como cualquiera de nosotros“ sein, „y aquello que pueda sucederle debe ser tan imprevesible como lo que pueda sucedernos a nosotros“[1]. Gerade ihre menschlichen Charakteristika machen, nach Meinung Martínez', einen großen Teil des Geheimnisses ihrer unsterblichen Popularität aus: „Ich sprach mit den Randfiguren und nicht mit den Ministern und den Liebedienern ihres Hofstaats, denn die waren nicht wie sie: Sie vermochten den schmalen Grat nicht zu sehen, auf dem sich Evita immer bewegt hatte. Sie erzählen sie immer mit allzu ausgeschmückten Sätzen. Was mich dagegen reizte, waren ihre Grenzen, ihre Dunkelheit, das Unaussprechliche an Evita” (SE 66).

Hinter der Absicht, den Mythos Evita zu erforschen, verbirgt sich eine zweite, noch wichtigere Absicht des Autors, und zwar die der Vergewisserung über die Identität seines Landes, denn Evita ist deswegen zum Mythos geworden, weil sie für den Großteil des argentinischen Volks ein Beispiel dafür war, wie die Regierung Argentiniens sein sollte; sie war ein Projektionsbild aller Erwartungen, Wünsche und Vorstellungen der breiten Massen des Landes. Die soziale Funktion des Mythos definiert Umberto Eco als „una simbolización inconsciente, como identificación del objeto con una suma de finalidades no siempre racionalizables, como proyección en la imágen de tendencias, aspiraciones y temores, emergidos particularmente en un individuo, en una comunidad, en todo un período histórico“[2].

Mythisierung ist nach dieser Definition ein sozialer Akt, ein Werk mehrerer Autoren. Martínez überträgt diese Erkenntnis auf die literarische Ebene seines Romans, der auf eine ordnende, allwissende Erzähler-Figur verzichtet und vielmehr auf einen polyphonen, mehrstimmigen Erzähldiskurs setzt. Martínez bedient sich dazu des umfassenden Materials, das er im Laufe der Zeit bei Recherchen für verschiedene journalistische Arbeiten und La novela de Perón (1985) zusammengetragen hat: unzählige Dokumente, Tagebuchnotizen verschiedener Personen, Zeitungsausschnitte, Beschreibungen von Fotos und Wochenschauen und Zitate aus den Werken anderer Autoren, etc. Neben den schriftlichen Dokumenten arbeitet der Autor in seinem Text insbesondere mit mündlichen Erinnerungen (Interviews, Gesprächstranskripte, Schilderungen von Begegnungen) derer, die Akteure der unmittelbaren Geschichte waren und zu Evita auf die eine oder andere Weise in Beziehung standen: ihre Mutter, ihr Frisuer, Schauspieler und Schauspielererinnen aus ihrem Bekanntenkreis, Arbeiter und einfache Leute aus dem Volk, ein Filmvorführer und seine Tochter, der Balsamierer ihrer Leiche, Obersten, Soldaten, etc.

Sowohl die schriftlichen als auch die mündlichen Zeugnisse werden durch explizite Gestaltungselemente hervorgehoben. Unmittelbar im Text versieht der Autor die eingebundenen Zitate mit genauen Hinweisen auf Quelle und Autor. Zusätzlich werden sie noch durch verschiedene optische bzw. graphische Elemente (Hervorhebungen in Kursivschrift oder durch Textkästen mit kleinen Buchstaben auf dunklem Hintergrund, die Zeitungsausrisse nachahmen etc.) vom übrigen Text separiert. Bei der Wiedergabe der Gespräche versucht der Autor die Spezifik der mündlichen Sprache möglichst authentisch in schriftliche Textur zu übersetzen. Die Einfühlung in die Romanfiguren reicht dabei bis zur Nachbildung der entsprechenden gender- spezifischen Erzählperspektive, über die sich der Autor folgendermaßen Rechenschaft gibt: „Wo die Mutter sagte: 'Seit Evita auf der Welt war, litt ich viel', schrieb ich unwillkürlich: 'seit Evita auf der Welt war, litt ihre Mutter, Doña Juana, viel'. Das war nicht dasselbe. Ja, das war fast das Gegenteil. Ohne die Stimme der Mutter, ohne ihre Pausen, ohne ihre Art, die Geschichte zu betrachten, waren die Worte bedeutungslos. Selten habe ich so sehr mit der Natur eines Textes gekämpft, der auf weiblich erzählt sein wollte, während ich brutal seinen Charakter verdrehte Ich brauchte lange, um zu akzeptieren, daß es erst eine Erzählung gäbe, wenn ich mich der Stimme der Mutter beugen würde. Also ließ ich sie durch mich sprechen.” (SE 399).

Für dieses Verfahren, mündliche Sprachregister ins Schriftliche zu übersetzen, das besonders charakteristisch für die moderne argentinische Literatur ist, hat der Literaturwissenschaftler Markus Schäffauer die Bezeichnung SkriptOralität[3] eingeführt. Diese Schreibart ermöglicht dem Erzähler subjektive Einstellungen der Zeugen zu seiner Hauptfigur zum Ausdruck zu bringen, denn mündliche Sprache in ihrer Direktheit und Spontaneität spiegelt am ehesten persönliche Gefühle, Absichten, implizite oder explizite Wünsche sowie vieles andere wider, was auf die Denkweise und den Charakter des Sprechenden hinweist. Durch die Pluralität von den ins Schriftliche umgewandelten Stimmen ergibt sich im Roman eine Pluralität verschiedener Versionen über Evitas Leben und ihren Tod, die, laut Carolina Zelarayán[4], den „Schmetterling“[5] permanent fliegen lassen.

[...]


[1] Fajardo Valenzuela: Procesos de (des)mitificación en La novela de Perón y Santa Evita de Tomás Eloy Martínez, S.119

[2] Fajardo Valenzuela: Procesos de (des)mitificación en La novela de Perón y Santa Evita de Tomás Eloy Martínez, S.118

[3] Vgl. Markus Schäffauer: ScriptOralität in der argentinischen Literatur: Funktionswandel literarischer Oralität in Realismus, Avantgarde und Post-Avantgarde (1890 – 1960). Frankfurt am Main 1998.

[4] Zelarayán, Carolina: “Deseo, desencanto y memoria. La narrativa de Tomás Eloy Martínez”, Universidad Nacional de Tucumán, 2003, S. 118

[5] damit meint Zelarayán die von dem Autor gewählte Metapher von Evita als riesigem Schmetterling, “der mit seinem Todesflügeln vorwärts schlug, während seine Lebensflügel nach hinten flogen” (SE 82). Offensichtlich ergibt sich aus dieser Vorstellung des Autors auch die die Struktur des Romans: einer Fügel als erster Handlungsstrang schildert die Lebensgeschichte Evitas, der andere – die Geschichte ihrer Leiche.

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Details

Titel
Prozesse der Mythisierung in Tomás Eloy Martínez' Roman Santa Evita
Hochschule
Universität Bielefeld  (Romanistik)
Note
2
Jahr
2007
Seiten
15
Katalognummer
V136021
ISBN (eBook)
9783640443710
Dateigröße
380 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prozesse, Mythisierung, Tomás, Eloy, Martínez, Roman, Santa, Evita
Arbeit zitieren
Anonym, 2007, Prozesse der Mythisierung in Tomás Eloy Martínez' Roman Santa Evita , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136021

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