Don Juan - Zeitgenössische literarische Gestaltungen und persönliche Assoziationen um 2000


Diplomarbeit, 2003

130 Seiten, Note: 3


Leseprobe


Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Abb. 1: Don Giovanni und Donna Elvira)

„Don Juan ist der Mann der Frauen, der Mann, den die Frauen lieben und sich streitig machen und die Männer immer mit einer gewissen neidischen Verachtung oder mit einem gewissen verächtlichen Neid betrachten werden. Man darf durchaus bei Don Juan jene körperliche Schönheit voraussetzen, welche die Frau als eigentlich männ-lich schätzt. [...] Don Juan mag hübsch oder häßlich, stark oder schwach, krumm oder gerade sein; er weiß auf jeden Fall, daß er für die Frau schön ist.“1

VORWORT

Warum Don Juan? Immerhin ist er nicht die einzige schillernde Figur, die in der Weltliteratur immer wieder präsent ist – dennoch: Für mich ist er die faszinierendste, interessanteste und auffälligste Figur in der Literatur. Von meinem ersten Proseminar an, das ich im Rahmen meines Germanistikstudiums besucht habe - „Einführung in die Arbeitstechniken der deutschen Philologie“ - hat Don Juan begonnen, mein Interesse zu wecken und mich für sich einzunehmen: Wir erhielten von Frau Mag. Carla Carnevale den Arbeitsauftrag, zu einem Autor und zu einem Themenschwerpunkt zu bibliografieren – per Losentscheid. Ich habe Martin Walser als Autor und Don Juan als Thema zugelost bekommen und konnte bald schon erkennen, dass es - abgesehen von den mir bereits bekannten Don Juan-Figuren, die sich zum damaligen Zeitpunkt auf Mozarts „Don Giovanni“, Johnny Depp in der Verfilmung „Don Juan de Marco“ und Horváths „Don Juan kommt aus dem Krieg“ beschränkten, die ich zu Schulzeiten rezipierte - noch etliche weitere Don Juan-Figuren in der Literatur gibt. Ich begann mich verstärkt dafür zu interessieren, ob und wie sich zeitgenössische AutorInnen und Medien mit Don Juan auseinandersetzen. Irgendwann habe ich im Internet nach dem Begriff „Don Juan“ gesucht – ich kann nicht mehr sagen, wie viele Seiten dazu ausgewiesen wurden, ich weiß nur, es waren tausende aus etlichen verschiedenen Bereichen. Von Büchern über Zigarren bis hin zu Ratgebern konnte ich alles finden, was in irgendeiner Form mit Don Juan verbunden ist. Für mich war diese Tatsache ein klarer Indikator dafür, dass Don Juan nicht nur in vergangenen Jahrhunderten sondern auch und vielleicht gerade heutzutage nahezu omnipräsent ist. So hat Don Juan also Einzug in meine Diplomarbeit gehalten und ist für mich persönlich nach wie vor die herausragendste Figur der deutschsprachigen Literatur. Vielleicht wird nicht mehr ganz so viel über ihn geschrieben wie in vergangen Zeiten – aber seine Figur wird in der Literatur weiterleben.

Ich möchte mich bei allen Menschen bedanken, die mich während meines Studiums durch alle Höhen und Tiefen begleitet haben. Ich danke vor allem meinem Gatten für seine Liebe und sein Verständnis, meinen Eltern für ihre Unterstützung und meinem besten Freund, Jörg Kaiser, der nicht nur meinen germanistischen Lebensweg begleitet. Besonderer Dank ergeht an Frau.Beatrix Müller-Kampel für die gute Betreuung dieser Arbeit. Ich bedanke mich für die optimale Kommunikation, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre, und für alles, was ich von ihr lernen durfte.

PROLOG

Wie ich bereits im Vorwort der vorliegenden Arbeit erwähnt habe, beschäftigte sich die Literatur in den letzten Jahrhunderten immer wieder mit Don Juan. Seit der spa-nische Priester Gabriel Téllez, besser bekannt als Tirso de Molina, im Jahre 1624 seinen “El Burlador de Sevilla y Conviado de Piedra“ („Der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast“) geschrieben hat, findet man die Gestalt des Don Juan immer wieder in Literatur, Musik und Film: Um nur die berühmtesten Autoren zu nennen: Im französischsprachigen Raum thematisierten Molière mit „Dom Juan ou le Festin de pierre“ 1665 und Charles Baudelaire in „Dozn Juan aux enfers“ im Jahr 1846 diese literarische Gestalt, in Spanien José Zorilla in „Don Juan Tenorio“ im Jahre 1844, im englischsprachigen Raum Lord Byron in seinem Versepos „Don Juan“ (1818 – 1824) und George Bernard Shaw mit „Man and Superman (1903), in Russland Puschkin mit „Der steinerne Gast“ im Jahre 1830 sowie in Italien Goldoni mit „Giovanni Tenorio o sia il Dissoluto“ im Jahre 1736. Die bislang umfassendste Bibliographie des Don-Juan-Stoffes von Armand E. Singer schließt mit dem Eintrag Nummer 3.081, Stefan Zweigs „Leporella“2. Man kann also zweifellos festhalten, dass Don Juan eine dominante Figur der Weltliteratur ist.

Auch die deutschsprachige Literatur fand immer wieder Gefallen an seiner Figur: E.T.A. Hoffmann und Nikolaus Le]nau befassten sich in den Jahren 1813 und 1844 mit ihm. Auch Christian Dietrich Grabbe schrieb 1829 in „Don Juan und Faust“ über ihn wie auch Ödön von Horváth in „Don Juan kommt aus dem Krieg“(1935) und Max Frisch in „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“ im Jahre 1953. Mozart widmete sich ihm in seiner Oper „Don Giovanni“ (Libretto von Lorenzo Da Ponte), die wohl die bekannteste musikalische Auseinandersetzung mit Don Juan darstellt3.

Im zwanzigsten Jahrhundert entdeckte auch Hollywood die Gestalt des Don Juan für sich: Douglas Fairbanks4, Errol Flynn5 und Johnny Depp6 gaben in den Jahren 1936, 1948 und 1995 die Hauptfigur in den drei filmischen Adaptionen, die nicht die einzi-gen, aber die bekanntesten sind.

Zu allen oben genannten Autoren und ihren Don-Juan-Figuren liegen bereits etliche Arbeiten vor7 – die vorliegende Arbeit fokussiert besonders die zeitgenössische Literatur. Das erste Kapitel befasst sich nach einem kurzen Überblick über die literarische Gestalt Don Juan damit, wie zeitgenössische Autoren Don Juan sehen, ob sie ihm „glühendes, unstillbares uns beherrschendes Leid“ attestieren, ob sie in ihm einen „äußerst ausschweifenden Kavalier“9 sehen oder ob sie gar beides in seiner Person vereinigt sehen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den von mir geführten Interviews zur Person Don Juan; Methodik und Fragestellung werden erläutert, die Ergebnisse grafisch präsentiert und anschließend zusammengefasst. Außerdem wird versucht, die Resultate zu bewerten und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb der Geschlechter und Alters- und Berufsgruppen hinzuweisen, wobei der Fokus hierbei vor allem auf geschlechterspezifischen Unterschieden und Ähnlichkeiten liegt. Hierbei wird äußerst behutsam vorgegangen, da keine objektiven „Testverfahren“ zur Anwendung gelangt sind, sondern vielmehr Interpretationsvorschläge dargestellt werden, die mit entsprechenden Argumenten gestützt werden. Im dritten Kapitel wird schließlich versucht, die beiden vorangegangen zu verbinden: Es soll erarbeitet werden, ob sich zwischen der thematisierten Literatur und den Assoziationen der befragten Personen Parallelen finden lassen, oder ob die Vorstellungen, die die Autoren von Don Juan haben, von denen der Befragten abweichen, und es wird versucht, mögliche Gründe dafür zu erarbeiten.

1. Don Juan im Zentrum literarischen Schaffens – Ein historischer Überblick

Das umfangreiche Register der belletristischen Texte, die rund um die Figur Don Juan gewachsen sind, dokumentiert die jahrhundertelange Entwicklung dieses litera-rischen Themas, die sich im gesamten europäischen Raum vollzogen hat. Immer wieder gestalteten Autoren diesen komplexen Charakter neu aus, spielten mit seinen Facetten und mit denen seiner Gespielinnen und Rivalen. Dieses einleitende Kapitel soll anhand einer straffen Darstellung der prominentesten Don-Juan-Werke einen historischen Längsschnitt vorlegen, der einerseits zeigen soll, dass diese Figur sich sowohl über nationale als auch zeitliche Grenzen hinweg ausgebreitet hat und im Zuge dieser Ausbreitung immer wieder variiert wurde. Andererseits soll dieser Ab-schnitt zu einer differenzierteren Diskussion ausgewählter deutschsprachiger Don Juan-Werke des 20. Jahrhunderts hinführen, die den Sektor dieses „traditionellen“ Protagonisten in der deutschen Gegenwartsliteratur repräsentieren.

1.1. Spanien im 17. Jahrhunderts als Ausgangspunkt für eine zeitlose Figur: Tirso de Molinas „Burlador de Sevilla y Convidado de Piedra“

Tirso de Molina, 1584 als Gabriel Téllez in Madrid geboren, gilt als der „Schöpfer“ des Don Juan10, wobei er bei der Konstruktion seiner Figur auf überlieferte Motive und Legenden zurückgriff, die sowohl den Verführer aus Sevilla als auch das Motiv der redenden Statue unabhängig voneinander thematisierten. „Motivgeschichtlich gesehen, liegt das Verdienst Tirsos darin, daß er die beiden Themenkreise endgültig miteinander verband und das Leben Don Juans mit dem furchtbaren Strafgericht Gottes, das der steinerne Gast – Don Gonzalo de Ulloa – vollzieht, enden läßt.“11 Tirsos ‚comedia’ ist gemäß den gesellschaftlichen Normen seiner Zeit sowohl von katholischen Moral- und Bußebegriffen als auch den sozialen Kategorien „Rang“ und „Ehre“ geprägt.

Der „Burlador de Sevilla“ ist unter diesem Gesichtspunkt ein charakteristisches Stück der spanischen Literatur des 17. Jahrhunderts, die „geradezu eine Kasuistik der Ehre entwickelt [hat]. [...] Die Ehre der Frau ist vor der Heirat auf ihre Unschuld reduziert, auf einen makellosen Ruf, den auch nicht die Spur eines Verdachts beflecken darf. Heirat oder das Blut des Verführers allein könnten den Makel wieder abwaschen.“12 Tirsos Don Juan befördert sich durch die Wahl seiner Sexualpartnerinnen immer wieder mitten in das Minenfeld von dramatischen Entehrungen, denn die Ehre des Mannes ist nicht nur durch sein eigenes Handeln definiert, vielmehr entehrt ihn auch „[...] die Treulosigkeit seiner Braut oder Frau – ja der bloße Verdacht raubt ihm seine Ehre.“13 Spaniens Literatur dieser Zeit war ein Spiegel des vorgeblich hohen Anspruches der Spanier, die sich von der „gesellschaftlichen Barbarei“14 des restlichen Europas distanzieren wollten. Salvador de Madriaga formuliert diesen Anspruch in aller Idealisierung so: „Die Spanier reinigten die Salons von Trunkenheit, von Obszönitäten und von Unrat; sie lehrten Anstand, schrieben die Umgangsformen vor und erzwangen die Achtung vor der Frau.“15

Don Juan Tenorio ist bei Tirso de Molina getrieben von der „Kraft seines Begehrens“16, und das Ziel seiner Begierde ist nicht etwa ausschließlich, mit mög-lichst vielen Frauen zu kopulieren, sondern „die Lust am Abenteuer, am provokativen Streich motiviert sein Handeln“17 und prägt seinen Charakter. Seine Verführungen leben nicht von spielerischem Raffinement, sondern vielmehr ist es „die unmittelbare Wirkung seiner erotischen Ausstrahlung“18, die in den vier Verführungsepisoden (Herzogin Isabella, Doña Anna, Tisbea, Aminta) zutage tritt. Dabei weist sein Lie-beswerben eine äußerst eindringliche Intentionalität auf, die ihn dazu bringt, mit im-mer drängenderen Mitteln von immer größerer (scheinbarer) Verbindlichkeit an sein Ziel zu gelangen; er schreckt dabei auch nicht vor trügerischen Eheschwüren zurück.

Die Leichtfüßigkeit und „sieghafte Faszination“19 des Don Juan erfährt jedoch in den letzten Szenen des Stückes eine jähe Wendung: Die Statue von Gonzalo de Ulloa, Vater von Doña Anna, vernichtet Don Juan mit ihrem Handschlag. Im Angesicht der Konfrontation mit dieser „metaphysischen Macht“20 spürt Don Juan die Last seines Gewissens und bittet seinen Peiniger um die Möglichkeit der Beichte: „Erlaub, daß ich noch jemand rufe, der mir die Beichte abnimmt und mich losspricht“21, doch die Absicht zur Reue kommt zu spät und „unter großem Getöse“22 findet die Höllenfahrt des Don Juan statt, die – im Kontext des strengen spanischen Katholizismus gese-hen – gleichzeitig ein eindringliches Memento mori darstellt. Tirsos Don-Juan-Stück ist der Volkstümlichkeit verpflichtet, nicht zuletzt die Diener-Figur Catalinón, der kontrastiv zu seinem Herrn Juan de Tenorio angelegt ist, trägt deutliche Züge jener vulgär-komischen Figuren, wie sie mit unterschiedlichen Namen (Hanswurst, Kasperl, etc.) auch im (süd-)deutschen Sprachraum bis weit ins 18. Jahrhundert ver-breitet und beliebt waren.

Doch Tirso de Molina hat mit seinem „Burlador de Sevilla“ keineswegs eine triviale Volksposse vorgelegt, vielmehr hielt er sich an Lope de Vegas (1562-1635) poetolo-gisches Konzept der „Comedia nueva“, deren Anspruch es war, „volkstümliches Theater, allerdings von höchstem literarischen Rang“23 anzubieten und dabei Ele-mente der mittelalterlichen Mysteriendramatik ebenso weiterführte wie Volkslegen-den und mündlich tradierte Stoffe.

1.2. Molières „Dom Juan ou le Festin de pierre“

Molières Auslegung des Stoffes ist wesentlich geprägt von den Einflüssen der italie-nischen Komödientradition. Im Jahr 1665 veröffentlicht, weist diese frühe französi-sche Fassung sowohl figurative als auch dramaturgische Elemente der commedia dell’arte auf, wie etwa die „burleske Ausgestaltung der Dienerrollen im Sinne des italienischen Improvisationsstils“24, den „Austausch von Figuren der bäuerlichen Farce (Gaseno, Batricio) gegen die Typen der commedia dell’ arte Pantalone und Dottore“25 sowie eine „Abschwächung des metaphysischen Ernstes und der moralischen Intention zugunsten des theatralisch wirksamen Eklats“26.

War Don Juan bei Tirso de Molina noch eine relativ statische, vorrangig von Trieben beherrschte Figur und dennoch in seiner Todesstunde mit seinem Beicht-Wunsch den katholischen Dogmen verpflichtet, so ist Molières Dom Juan ein weitaus diffe-renzierterer Charakter. Mit exzellenter Rhetorik ausgestattet, präsentiert er sich als „Rationalist, dem cartesianischen Geist verpflichtet, ja ihn an Radikalität noch übertreffend.“27 Befindet sich Tirsos Verführer bereits in der ersten Szene auf der Flucht aus einem hastigen Liebesspiel, präsentiert sich Dom Juan bei Molière dem Publikum mit einer flammenden Rede über die Vorzüge der Promiskuität, mit der er seinen Diener Sganarell in Grund und Boden redet, dessen Missfallensbekundungen angesichts der rhetorischen Brillanz seines Herren zum hilflosen Gestammel ausar-ten. Interessant ist dabei die Wahl der Argumentation, die Dom Juan heranzieht, um seinen Lebensstil zu rechtfertigen, wenn er sein eigenes Verhalten aus dem Blick-winkel seiner „Opfer“ perspektiviert:

„[A]lle schönen Weiber haben ein Recht darauf, uns zu begeistern, und der Vorteil der einen, die uns zuerst in den Weg lief, soll die andern nicht der gerechten Ansprüche berauben, die sie allesamt auf unsere Herzen erheben dürfen.“28

Dieser Dom Juan sieht sich also, dem Inhalt dieser Rede folgend, als Geschenk der Schöpfung an alle Frauen, und ebenso egozentrisch wie diese Einschätzung ist auch seine dramatische Position innerhalb des Stücks: Dom Juan ist unbestrittener Mittel-punkt des dramatischen Geschehens, hemmungsloser Hedonist, geradliniger Ratio­nalist, nüchterner Antimetaphysiker, der letztendlich einen Tod stirbt, der sich mit Vernunft nicht erklären lässt. Seine Höllenfahrt an der Hand der Statue des Komturs ist trotz der überwältigenden Irrationalität der Szenerie kein Grund zur reuigen Buße: „Dom Juan ist sich treu geblieben und nimmt auch angesichts des Todes nichts zurück.“29

Anders als bei Tirso de Molina, dessen Stück letztendlich von katholischen Sühne-konzepten durchdrungen ist, und dessen Hauptfigur keine erschlie1bare Gesellschaftskritik formuliert, vertritt Molières Dom Juan eine deutlich kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Moden, wenn er etwa doziert:

„Heuchelei ist ein Mode-Laster, und alle Mode-Laster gelten für Tugenden. [...] Heutzutage bietet der Beruf des Heuchlers uns die größten Vorteile. Das ist eine Kunst, die gerade um ihrer Verlogenheit willen auf höchste geschätzt wird. Und selbst wenn sie entlarvt wird, wagt man nichts gegen sie zu sagen.[...] So nutzt man die Schwächen der Menschen aus und so paßt sich ein kluger Kopf den Lastern seines Zeitalters an.“30

Inwiefern die Figur, die nie um eine Rechtfertigung verlegen ist, die erotische Ener-gie, die ihr im Laufe der historischen Rezeption immer wieder zugeschrieben wird, allerdings angesichts dieser ausschließlich intellektuellen Konzeption auszuleben in der Lage ist, bleibt zu hinterfragen, und Elisabeth Frenzel stellt zurecht die Diskre-panz zwischen dem (theoretisch) hohen erotischen Anspruch und den (praktisch) sehr bescheidenen ausgeführten Handlungen fest:

„Don Juan führt keine einzige Verführung aus; er hat Elvire geheiratet, nachdem er sie aus dem Kloster entführt hatte, sie aber dann verlassen, denn jede Schönheit, der er begegnet, verlockt ihn zu neuen Abenteuern; er geht nicht, wie Tirsos Held, im Sturmschritt vor, sondern hat Spaßan der schrittweisen Eroberung, nach gewonnener Schlacht interessiert ihn sein Opfer nicht mehr.“31

So gesehen ist Molières Dom Juan eine Figur mit einem gewaltigen liebes-ideologischen Überbau, sein Handeln ist eher theoretisch als praktisch motiviert; und sein Interesse an Frauen ist bei näherer Betrachtung vom gleichermaßen narziss-tischen wie unreifen Motiv angetrieben, seine Wirkung auf jeweils gezielt gewählte Objekte zu testen, ohne seinerseits etwas von sich herzugeben, das über salbungs-volle Versprechungen hinausgeht. Die von ihm selbst geführte Argumentation, dass es so etwas wie ein naturgegebenes Anrecht aller Frauen gebe, einen Anspruch auf sein Herz zu erheben32, wird angesichts der kargen Konsequenzen zu einer leblosen rhetorischen Hülse. Selbst seine fundiert wirkenden philosophischen Exkurse halten keiner Überprüfung stand33, weswegen er auch besonders gern zu seinem Diener Sganarell spricht, der ihm geistig eindeutig unterlegen ist, und ihm zwar in Fragen der Moral widerspricht, aber in rhetorischen Fragen keine fundierte Kritik üben kann.

1.3. Lorenzo Da Ponte / Wolfgang Amadeus Mozart: Il dissoluto punito o sia Il Don Giovanni

Da Pontes Don Giovanni ist ebenso wie Moliéres Dom Juan ein Charakter mit un-verwüstlichen Selbstüberzeugungen, ohne jedoch dessen intellektuellen Habitus zu teilen. Vielmehr ist dieser Opernprotagonist italienischer Prägung vital und triebgesteuert, was schon bei Tirso de Molina Motor der Handlungen Don Juans war. Bereits in der ersten Szene präsentiert er sich dem Publikum als betrügerischer, skrupelloser und mörderischer Unhold, der sich zuerst unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ein Liebesspiel mit Donna Anna erschlichen hat, um anschließend ihren Racheschwüren mit Selbstmitleid zu begegnen: „Diese verzweifelte Furie will mich ins Unglück bringen.“34 Die Szene steigert sich unmittelbar danach, als er den Vater der Betrogenen im Zweikampf tötet, ins Mörderische und prägt den Eindruck des Protagonisten in der oben beschriebenen, denkbar ungünstigen Art und Weise.

Der krassen Skrupellosigkeit des Don Giovanni steht die ebenso unfassbare Liebesfähigkeit und Selbstlosigkeit der Donna Elvira kontrastiv gegenüber. Ihr Auftritt in der IV. Szene des 1. Aktes legt die Taktik des Don Giovanni offen und demonstriert die Tiefe der Demütigung der solcherart missbrauchten Frau:

„Heimlich dringst du in mein Haus ein, mit Geschick, Schwüren und schönen Worten gelingt es dir, mich zu verführen; ich verliebe mich, du Herzloser, du nennst mich deine Frau, und dann, vor Himmel und Erde heiliges Recht brechend, verschwindest du, schuldbeladen, nach drei Tagen aus Burgos, verläßt mich, fliehst mich, läßt mich, dein Opfer, in Reue und Tränen zurück, zur Strafe wohl für meine Liebe!“35

Die Reaktion des – schwer beeindruckten – Dieners Leporello („Das klingt ja wie gedruckt.“)36, macht deutlich, dass es in diesem Werk nicht Don Giovanni ist, der sich wortgewaltig verständlich macht, sondern Donna Elvira, deren differenzierte Charakterstruktur nicht nur in diesem gleichermaßen wohlformulierten wie drama-tischen Gefühlsausbruch zum Ausdruck kommt. Vielmehr wandelt sie sich von der schmerzzerfressenen Betrogenen zu einer Frau, die mit ihrer selbstlosen Liebe zu Don Giovanni weit über dessen emotionale Begrenztheit hinauswächst, wenn sie zu einem Zeitpunkt, als die Spirale des selbstverschuldeten Unglücks rund um Don Giovanni bereits sehr eng gedreht ist, an ihren Peiniger appelliert: „Die letzte Probe meiner Liebe will ich dir noch geben. Ich denke nicht mehr an deinen Betrug, Mitleid fühl ich... [...] Von dir verlangt diese mißhandelte Seele für ihre Treue keinen Lohn."37 Der trotz dieses gleichermaßen versöhnlichen wie zärtlichen Appells unberührt blei-bende Don Giovanni fährt in bewährt spektakulärer Weise nach dem Besuch des Komturs in die Hölle, nachdem er diese letzte Chance zur Umkehr mit sturem Be-harren auf seinen Überzeugungen ungenutzt verwirft. Während das restliche Perso­nal auf die metaphysisch erzwungene Rache mit heiterer Genugtuung reagiert, sieht sich auch am Ende des Stückes Donna Elvira als Einzige nicht in der Lage, in den allgemeinen Triumph einzustimmen, sondern resigniert: „Ich trete in ein Kloster ein, mein Leben dort zu beschließen. ' 38

1.4. Don Juan im 19. Jahrhundert – Hoffmann, Byron, Grabbe, Puschkin, Lenau

Während Don Juan sowohl im 17. als auch im 18. Jahrhundert sowohl formal als auch bezüglich der grundsätzlichen Anlage des dramaturgischen Konzepts eine rela-tiv statische Figur blieb, die (zumeist) frei von inneren Konflikten und Reflexionen dargestellt wurde, bricht diese enge Struktur im 19. Jahrhundert auf, und Don Juan gerät in den Fokus freierer literarischer Gattungen. Dies wirkt sich – gemäß dem romantischen Anspruch – auf die Tiefe seines Charakters aus, dessen Schwerpunkte sich von einem relativ trivialen, quantitativ definierten Sinnlichkeitsbestreben hin zu einer in höherem Ausmaß emotionalen Perspektivierung seines Denkens und Handelns bewegen.

„Wenn Don Giovanni noch als ungebrochene Persönlichkeit auftrat, die ohne Zögern ihre dem Augenblick, dem sinnlichen Genußgewidmete Existenzweise gegenüber der metaphysischen Instanz behauptet, so verliert Don Juan jetzt viel von seiner Vitalität und augenblicksbezogenen Genußfähigkeit."39

E.T.A. Hoffmann legte 1813 die Erzählung „Don Juan. Eine fabelhafte Begebenheit, die sich einem reisenden Enthusiasten zugetragen“ vor und entwarf in diesem Werk eine Figur, die kontrastiv zu den traditionellen Auslegungen eine idealistische Kon-zeption verfolgte. War das Außenseitertum des „klassischen“ Don Juan noch durch die Handlungsebene bestimmt, mehr durch seine unreflektierte Triebsteuerung als durch seinen „Anspruch“ geprägt, so ist Hoffmanns Don Juan weniger von spontanen Genüssen als vielmehr von der Suche nach einem „außersinnlichen Ideal"40 angetrie-ben. In der Welt des 19. Jahrhunderts ist nicht mehr die katholische Sexualmoral Dreh- und Angelpunkt der erotischen Wechselwirkungen, die in einem deutlich individuelleren Kontext stattfinden. Demgemäss ist es auch nicht die „Unmoral“ des Don Juan, die ihn von der Masse abgrenzt, sondern seine überhöhten Ansprüche an die Liebe, dem kein einzelner Mensch – im Falle Don Juans keine einzelne Frau aus Fleisch und Blut je gerecht werden kann.

„Im Sinne des romantischen Idealismus, der an der Idee eines Absoluten festhält, in dem alle Widersprüche aufgelöst wären, Natur und Geist sich zu harmonischer Einheit verbänden, glaubt Don Juan in der Liebe sein Atlantis finden zu können. [...] Hoffmann kritisiert durch seine Deutung der Don Juan-Figur einen Idealismus, der das Unendliche im Endlichen zu fassen sucht."41

Dieser überirdische Anspruch kann dem irdischen Don Juan nur Unrast bescheren, da er auf ein Ziel fixiert ist, das letztendlich außerhalb des Menschenmöglichen liegt.

George Gordon Lord Byron führte 1818/1824 mit seinem Versepos einen Don Juan ein, der innerhalb der hier vorgestellten Auswahl eine Sonderstellung einnimmt: Hier wird der Verführer zum Verführten. Die dargestellte Reise des Protagonisten führt ihn über einige Zwischenstufen von Sevilla nach London, und es ist eine lange und ereignisreiche Odyssee, die er durchlebt – aber dennoch scheint Don Juan von allen Erlebnissen unberührt zu bleiben, die Figur bekommt nicht jenes profilierte Charisma, das in den meisten anderen Werken zu spüren ist. „Dieser Don Juan erobert, verführt die Frauen nicht; er verführt sie nur insofern, als sein Charme die erotische Begierde der Frauen entzündet."42 Diese Passivität überrascht im Zusammenhang mit dieser Figur, die doch zumeist in irgendeiner Form, und sei sie noch so abstrakt, die Frauen mit großer Eindringlichkeit dazu zu bringen trachtet, mit ihnen (sexuell) zu interagieren. Doch gerade diese scheinbar keusche Zurückhaltung macht ihn zum Objekt erotischer Begierde:

„Sein Wesen war so sehr verführerisch, Weil er nicht sehr bemüht schien zu verführen; Nichts war gemacht, studiert, nichts von Gemisch Des Gecken und Erobrers war zu spüren; Die Wirkung blieb anmutig, rein und frisch."43

Bei all dieser Reinheit ist er frei von ästhetizistisch angelegter Künstlichkeit und „artistischer Selbstmodellierung. Es scheint, als habe Byron in dieser Figur [...] seine Utopie eines anmutigen, freidenkenden und ungebeugten Menschen darstellen wollen, dem die Zwänge und Widrigkeiten gesellschaftlicher Sozialisation nichts anhaben können."44

Byrons Werk blieb ein Fragment, und so kann man heute nicht mehr mit Gewissheit sagen, ob noch eine Form von Strafgericht für ihn vorgesehen war. Das überlieferte Werk ist jedoch frei von Buß-Elementen.

Der ambitionierte Anspruch Christian Dietrich Grabbes, in seinem Stück „Don Juan und Faust. Eine Tragödie in vier Akten“ aus dem Jahr 1828 die Meisterwerke von Mozart/Da Ponte und Goethe zu verschmelzen, konnte nur bedingt gelingen. Angel-punkt und mehr oder weniger einzige Verbindung zwischen den beiden Handlungs-strängen ist Donna Anna, die – frisch vermählt mit Don Octavio und darüber hinaus gleichermaßen von Don Juan und Faust begehrt – sich in den Grundfesten ihrer mo-ralischen Überzeugungen erschüttert fühlt, da Don Juan, der sie mit formvollendeter Rhetorik bestürmt, eine Facette der Leidenschaft geweckt hat, die ihr nur mit mäßi-gem Temperament ausgestatteter Ehemann noch nicht ans Tageslicht befördern half. Obwohl sich Grabbe stark an Da Pontes Textvorlage orientierte, findet die Ver-führung Donna Annas nicht maskiert statt, vielmehr zeigt Don Juan sein Gesicht und „vertraut [...] auf die verführerische Kraft seines Wortes."45 Auch hier stehen, bereits im Geiste der Romantik, nicht die individuellen Reize der Donna Anna im Mittelpunkt seiner Liebespredigt, „sondern er gibt, psychologisch verfeinert, eine Selbstdarstellung seines absoluten Gefühls und seines unbedingten Begehrens, das jeden Widerstand zu brechen imstande ist."46

Die Integration des Faust-Stoffes in das Werk gelingt dem Autor nur unvollkommen, es ist eher ein Nebeneinander, als ein Ineinander dieser gegensätzlichen Charak-tere, das sich dem Zuschauer bietet.

Fausts Streben nach einer „sich selbst genügenden metaphysischen Wahrheit, der er sich ewig weit entfernt fühlt"47 findet zwar in Don Juans Sehnsucht nach der alles umspannenden Liebeserfahrung eine gleichermaßen idealistische Entsprechung, doch die Art, mit dem ersehnten Ideal umzugehen, unterscheidet die beiden Protagonisten: Während Don Juan etwa keineswegs anstrebt, jemals sein Ziel zu erreichen, ja, für den der Prozess des Suchens das eigentlich lustbringende ist („jedes Ziel/ ist Tod – Wohl dem, der ewig strebt, ja Heil, /Heil ihm, der ewig hungern könnte!“48 ) ist die Richtung des faustischen Begehrens linear und endlich: „Ziel, ein Endziel muß / ich haben!“49

Einmal mehr ist auch Grabbes Don Juan letztendlich weniger mit der konkreten Um-setzung seiner hohen Ansprüche beschäftigt, sondern er verliert sich in leblosem, selbstverliebtem „Pathos eines sich als extensiven Verführer begreifenden“50 Rhetori-kers, der nicht in der Lage ist, seine bombastischen Ansprüche auch nur annähernd mit Leben aufzufüllen.

Alexander Puschkins Auslegung der Don-Juan–Figur in seinem Stück „Der steinerne Gast. Dramatische Szenen nach Don-Juan-Motiven“ aus dem Jahr 1830 ist formal den klassischen Vorgängern verpflichtet. Mit ihnen teilt Don Juan seine rasche Begeisterungsfähigkeit für Frauen, doch er unterscheidet sich auch von ihnen, weil seine Fähigkeit, sich auf die Frauen einzulassen, nicht auf triviale Kopulationsbereitschaft reduziert ist. Sein Interesse ist differenzierter und beständiger. Das bedeutet nicht, dass er sexuell treu ist, aber er ist in der Lage, einzelne Frauen in seinem Herzen zu tragen und die so geknüpften Bande „wiederaufnahmefähig“ zu halten, wie etwa seine Wiederbegegnung mit der in lebenslustiger Runde dargestellten, dem Gesang und den Männern zugetanen Laura demonstriert. Sie ist es, die einer männlichen Zuhörerschaft ein Lied vorträgt, dessen Autorenschaft sie auf Nachfrage stolz enthüllt:

„ Zweiter : Und diese Klänge! wie beseelt sie sind!

Und wessen sind die Worte?

Laura : Don Juans. [...] Mein treuer Freund ersann sie einst, mein

unbeständiger Geliebter.“51

Der Eindruck, den er bei Laura hinterlassen hat, ist offenkundig kein schlechter, denn sie verteidigt ihn energisch gegen verbale Angriffe. Sie ist innerhalb dieses Stückes als weibliches Alter ego Don Juans konzipiert, die selbst keine erotische Situation ungenützt lässt, und auch sie ist in der Lage, sich sehr spontan zu „verlieben“:

„ Laura [zu Don Carlos ]: Du Rasender, du bleibe jetzt bei mir, hast mir gefallen, weil du Don Juan mir ins Gedächtnis riefst, wenn er mich schalt und mit den Zähnen knirschte.

Don Carlos : Der Glückliche! So hast du ihn geliebt?

(Laura macht eine bestätigende Geste.)

Sehr?

Laura : Ja.

Don Carlos : Und liebst ihn noch?

Laura : In diesem Augenblick? Das tu ich nicht. Zwei lieben kann ich nicht. Jetzt lieb ich dich.“52

Puschkins Don Juan empfindet eine glaubwürdige Liebe, keine absolute, aber eine authentische. Er vertritt statt skrupellosem Sexualismus ehrliche Polygamie. Seine Kommunikation zu Doña Anna ist zwar in traditioneller Weise überschwänglich und unverhältnismäßig, aber dennoch charmant.

Eine mögliche weitere Entwicklung dieser Interaktion wird vom Erscheinen des Komturs unterbrochen, der in dieser Adaption des alten Stoffes nicht der Vater der Doña Anna, sondern deren (von Don Juan) ermordeter Gatte ist. Don Juan stirbt, unter Verzicht auf barocke Bildersprache, mit dem Namen Doña Annas auf den Lip-pen.

Auch der „Don Juan“Nikolaus Lenaus, ein Fragment gebliebenes lyrisches Drama von 1844 ist durchtränkt von romantischem Entgrenzungsstreben.

Auch in dieser Konzeption ist Don Juan seiner Verwegenheit verlustig gegangen, und dieses Defizit an vitaler Energie kennzeichnet ihn hier als typische Figur seines Schöpfers Lenau, in dessen lyrischem Schaffen oft – und allzu oft auf eine künstliche und unglaubwürdige – jeglicher Aspekt menschlicher Existenz todessehnsüchtig per-spektiviert erscheint:

„Den Zauberkreis, den unermeßlich weiten,
Von vielfach reizend schönen Weiblichkeiten
Möchte ich durchziehn im Sturme des Genusses,
Am Mund der Letzten sterben eines Kusses.“53

Ebenso wie bei Hoffmann leidet Don Juan auch bei Lenau, an seinem universellen Anspruch, an der Verschwommenheit dessen, was er zu begehren meint, an seiner Unfähigkeit, sich auf das Individuum einzulassen – und letztendlich an seiner Unfähigkeit (oder seinem Unwillen?) zum Glück bzw. an seiner Verliebtheit in das eigene Leiden:

„Es fühlt der Geist, der alles will umfassen
Im einzelnen sich verkerkert und verlassen;
Er ist es, der mich ewig dürsten heißt

Und mich von Weib zu Weib verderblich reißt.
Die schönste Frau entzückt mich ohne Dauer,
Der Reize tiefster, bald erschöpfter Bronnen
Verweist den Durst hinweg nach neuen Wonnen,
Besitz erzeugt mir Leere, öde Trauer.“54

Die Konsequenz dieser Geisteshaltung ist, dass sich Lenaus Don Juan in seiner Su-che nach immer neuen Abenteuern keineswegs als Genießer präsentiert, sondern dass seine eigentliche Lust darin besteht, den Moment der Spiegelung seiner eige-nen, immer neuen Aspekte einer metaphysischen Empfindung auszukosten. Das jeweils dazu dienende (weibliche) Individuum fungiert lediglich als Stellvertreter für eine neue noch auszukostende Facette einer alles umfassenden Idee von Sexualität, die über die Begegnung mit einzelnen Frauen hinausgeht. Doch die Dimensionen der konkreten menschlichen Sexualität sind weitaus beschränkter als der ersehnte transzendentale Zustand. „Wenn er zunächst noch die Intensität seiner erotischen Entflammbarkeit genießt, mußsich ihm bald – gerade wegen seiner Reflektiertheit – das Immergleiche der sinnlich-erotischen Erfahrungen bewußt werden.“55 Und eben dieses „Immergleiche“ treibt Don Juan in die tiefe, desillusionierte Frustration. Denn das zugrundeliegende Bedürfnis, das sich hinter all diesen monumentalen Konzepten verbirgt, ist schlicht und intim: „Wenn ich des Weibes Blume mir gebrochen / War ich sein Hauch und seines Herzens Pochen.“56

1.5. Don Juan im 20. Jahrhundert

Hiltrud Gnüg ist sicherlich Recht zu geben, wenn sie die Armut an grundsätzlich neuen Zugängen und Gestaltungsvarianten des Don Juan in der Literatur des 20. Jahrhunderts bemängelt.57 In diesem Zusammenhang erscheint es besonders interessant, dass das hohe erotische Potential dieses Stoffes im Zuge der sexuellen Befreiung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine entsprechend emanzi-pierte Ausformung erfahren hat. Die Autoren gaben der expliziten Darstellung von sexuellen Handlungen wenig Raum und konzentrierten sich auf differenziertere Vor-gänge:

„Sie problematisieren die sinnlich-erotische Existenz Don Juans, reflektieren die psychischen, sozialen, kulturgeschichtlichen oder philosophischen Bedingungen einer Lebensweise, die in ihrer reinen ungebrochenen Form sich der Reflexion widersetzt. [...] Kurz, die Autoren haben im großen und ganzen den männlichen Libertin, der im Genußwechselnder erotischer Aventüren aufgeht, als Erfindung der Literatur entlarvt."58

Da im weiteren Verlauf dieser Arbeit die zeitgenössische deutschsprachige Don-Juan-Literatur untersucht werden soll, erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, zwei aus germanistischer Perspektive prominente literarische Auseinandersetzungen mit der Stofftradition vorzustellen, die im 20. Jahrhundert entstanden sind: Ödön von Horváths „Don Juan kommt aus dem Krieg“ und „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“ von Max Frisch.

1.5.1. Ödön von Horváth: „Don Juan kommt aus dem Krieg“

Dieses 1935 veröffentlichte Drama spielt in den frühen 1920er Jahren, in einer Zeit, die nach dem 1. Weltkrieg sowohl in wirtschaftlicher als auch in ideologischer Hin-sicht von einer alles umfassenden Wandlung und Instabilität geprägt ist. Don Juan ist hier ein Kriegsheimkehrer, an dessen frühere Identität als Verführer nur noch sein Ruf erinnert: Erinnerung an Vergangenes. Auf der Suche nach seiner Verlobten Anna kreuzen einige (an ihm interessierte) Frauen seinen Weg, doch er selbst rea-giert höflich und beschwichtigend.

Nicht weniger als 35 verschiedene Frauenrollen hat Horváth in sein Schauspiel in-tegriert, die immer wiederkehrende weibliche „Grundtypen“59 repräsentieren. Inner-halb dieser Masse von „Verführerinnen“ gelingt es jenen, die in Don Juan Assoziationen zu Anna wecken, ihm näher zu kommen, aber es ist nur eine schein-bare und unbeständige Nähe, die aus diesen Beziehungs-Substituten hervorgeht: Keine dieser Frauen ist Anna, und somit bleibt in Don Juan stets eine gewisse Abscheu zurück; die dabei zurückgelassenen Frauen bleiben wie er selbst unglücklich. Dieser Don Juan „ist einsam, so wie jeder Don Juan letztlich einsam ist, doch er weißsich auch einsam und sucht dieses existenzielle Gefühl der Einsamkeit durch die Suche nach dem Ideal aufzuheben.“60 Die solcherart idealisierte Anna als unerreichbares, weil gestorbenes, weibliches Prinzip ist auch Zeugin des einsamen Todes von Don Juan: Er erfriert am Grab der einstigen Geliebten, und dieser Tod, den er mit einem an Anna gerichteten „Wiedersehen“ auf den Lippen stirbt, ist irdische Erfüllung und überirdisch gerichtete Hoffnung auf eine Wiederbegegnung mit seiner Geliebten in einer anderen Welt.

Diese Adaption des Stoffes zeigt einen Don Juan, der ursprünglich dem traditionellen Bild des extensiven Frauenhelden entsprochen hat, doch dieses Bild wird als ver-gangen dargestellt. Die Kriegserfahrung hat aus diesem Mann eine zerrüttete und verunsicherte Existenz gemacht, deren ganze Energie in die Suche nach dem Glück vergangener Tage fließt und somit zwangsläufig aus dem treulosen Verführer ein über den Tod hinaus treuer Liebes-Sehnsüchtiger wird. Inwiefern diese sehnsüchtige Liebe unmittelbar der Frau Anna gilt oder vielmehr einer bestimmten „Idee“ von Glück, sei dahingestellt.

Die Todesnähe dieses Protagonisten lässt ihn in direkter Verbindung zu Lenau ste-hen, nur dass Horváths Figur diese Nähe nicht stilisierte, sondern unausgesprochen in den Charakter des Protagonisten integrierte.

1.5.2. Max Frisch: „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“

1953 legte Max Frisch sein Don Juan-Stück vor und nannte es eine „Travestie“, wo-mit bereits klar wird, dass hier die traditionelle Vorlage nicht fortgeführt, sondern ver-fremdet werden soll: „Er [Max Frisch] benutzt die literarischen Vorlagen als stoffliches Material, als gegebene Motiv-Konstanten, die in einer veränderten Dramaturgie ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren und eine gegenläufige Funktion gewinnen.“61

Dieser Don Juan ist eine intellektuell geprägte Figur, die nur an das glaubt, was sie sicher weiß. Die Liebe scheint ihm insgesamt zu „unberechenbar“, was ihn, den Mathematiker, prinzipiell verunsichert. Sein Verhältnis zu Frauen ist geprägt von eben dieser Skepsis, und so erscheinen die gleichermaßen komplexen wie proble-matischen Begegnungen mit Frauen gleichermaßen zwanghaft wie konstruiert, auf keinen Fall jedoch erfüllend.

Zentrale Frauenfigur in diesem Stück ist Donna Anna, die gegen den Willen Don Juans mit diesem verheiratet werden soll. In Unwissenheit ihrer Identität kommt es zu einem sexuellen Erlebnis, das – der Anonymität entrissen – für ihn zum Beweis der Beliebigkeit von Liebe wird, während Donna Anna über die Tatsache glücklich ist, dass sie einander auch ohne konstruierte Eheanbahnungen gefunden haben. Don Juans Zweifel machen es ihm unmöglich, Donna Anna zu heiraten und er flüchtet. In weiterer Folge verwandeln die Erlebnisse, die ihm die komplexe Handlung beschert, ihn in einen zynischen und lebensüberdrüssigen Einzelgänger, der seine Höllenfahrt selbst inszenieren will, um sich gealtert und resigniert im Kloster zurückgezogen seiner Liebe zur Geometrie widmen zu können. Doch diese Maskerade misslingt, und er endet als Gatte der Herzogin von Ronda, der einstigen Hure Miranda, die ihm verspricht, dass er in ihrem Schloss ungestört seiner wissenschaftlichen Beschäftigung nachgehen kann. Sie ist es, die hinter all den Maskierungen „etwas von dem Wesen Don Juans erkannt hat, [...] ihn als Individuum liebt“62 und ihm doch mit dieser aus Vernunft eingegangenen Ehe ein Gefängnis beschert, das aus seiner Sicht eine Kapitulation und eine Aufgabe seiner Lebensprinzipien darstellt.

Auch dieser Don Juan scheitert an seinem hohen Anspruch und erscheint keineswegs als Verführer der Frauen, sondern vielmehr als ihr Spielball. Die von Frisch eingesetzten theatralischen Zitate fungieren hierbei als Mittel der Verfremdung des traditionellen Stoffkonzepts. Dabei entstand eine Figur, die durch äußere Einwirkungen „donjuanesk“ erscheint, ohne innerhalb des Charakters eine solche Entsprechung aufzuweisen.

2. Zeitgenössische Beiträge zur Don-Juan-Figur. Ausgewählte Beispiele

Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass die Entwicklung dieses literari-schen Stoffes im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Typen hervorgebracht hat, die zueinander mehr oder weniger in Beziehung stehen. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie Don Juan an der Wende des 20. zum 21. Jahrhundert literarisch ausgeformt wird. Dies erfolgt anhand von Besprechungen ausgewählter Werke, die zwischen 1976 und 2002 veröffentlicht worden sind.

2.1. Erich Wolfgang Skwara: „Pest in Siena“

2.1.1. Autor und Rezeptionsdokumente

Erich Wolfgang Skwara, geboren 1948 in Salzburg, pflegte bereits während seiner akademischen Studien der Romanistik und Musikgeschichte intensiven Kontakt mit der internationalen Kulturszene, bevor er im Jahr 1976 seinen ersten Roman „Pest in Siena“ vorlegte. Mit diesem Werk schuf der damals 24jährige Skwara einen Text, der stark von persönlichen Motiven durchsetzt ist:

„Bewuß tsein im Sinne meiner kurzen und intensiven Arbeit bedeutet, daß eine Marktfrau, um nur ein Beispiel zu geben, den Apfel im unausgesprochenen Wissen verkauft, daß dieser Apfel der letzte sein könnte. Aus dieser Überzeugung heraus ist Pest in Siena geschrieben worden, denn unsere Kinder bereits werden nicht mehr zu uns gehören. [...] Was mich angeht: Schon zu Mittag empfinde ich Panik beim Gedanken an den kommenden Abend, und keiner soll mir sagen, daß morgen ein neuer Tag beginnt. Es geht allein um diesen, um den heutigen Tag.“63

Skwara, der ein Kosmopolit geblieben ist, hat nach seinem Debüt noch zahlreiche weitere literarische Werke auf den Markt gebracht, neben Romanen schrieb er auch Erzählungen und Gedichte. Er lebt als Schriftsteller und Professor für Kulturwissen-schaften in Kalifornien und Paris.64

„Pest in Siena“ wurde bei seiner Erstveröffentlichung von der Kritik nur spärlich wahrgenommen. August Obermayer liest den Roman als „Totenklage eines im Auslande lebenden Europäers für Europa, [...] das aber auch noch in der Phase des Untergangs eine seltsame Faszination auszuüben imstande ist und deshalb umso kostbarer wird, weil es eines Morgens nicht mehr sein könnte.“65 Don Juan wird hier verstanden als Repräsentant eines untergehenden Kulturkreises, als Protagonist eines todgeweihten Systems, der seine Lebensenergie eingebüßt hat und nunmehr reflektierend dem Ende entgegen geht. Doch er wird auch verstanden als

„Teil jener Tradition, mit der sich Europa identifiziert, Teil jenes Schatzes, der von Generation an Generation weitergegeben wird, und immer wieder neue Impulse zu kreieren fähig ist und somit ein schon seit Jahrhunderten sterbendes Europa in dieser faszinierenden und delikaten Schwebe zwischen Existenz und Untergang balanciert.“66

Hans Sahl spart in seiner Rezension in „Die Welt“ nicht mit großen Vergleichen, will er doch in Skwara einen „Rimbaud aus Salzburg“67 erkannt haben; der Text wird hier verstanden als „Elegie auf ein Europa, das es nicht mehr gibt, das aber in uns weiterlebt als Teil unserer Vorstellung vom Wesen der Kunst und des Schöpferischen überhaupt.68 Damit wird einmal mehr die europäische Dimension in den Vorder-grund gestellt, und Don Juan (als fiktive Person) in den (historischen) Kontext seiner Bezugspartner im Text gestellt:

„Imaginäre Gespräche finden statt mit Menschen, die seinen Weg kreuzen und die wie er nicht sterben wollen – Bach, van Gogh, Oscar Wilde, Chopin, auch sie geschichtslos gewordene Protagonisten einer Kultur, die den Tod gefürchtet und sich als Trost die Lust erfunden hat.“69

Hans Sahl sieht Don Juan bei Skwara als einen „tragischen Helden, der aus Trauer über das Vergängliche die Unvergänglichkeit des Genusses predigt, der immer wieder lieben muß, weil er fürchtet, daß er zum letzten Mal geliebt hat, und weil ein Leben ohne Liebe für ihn der Tod ist.“70

Joseph P. Strelka interpretiert Skwaras Don Juan als einen „Gentlemen mit dämonischen Zügen, dem infolge seiner Grazie, seines Charmes, seiner Sensitivität und Bildung anscheinend alles vergeben wird“.71 Zwischen den Zeiten wandelnd wird die Figur als Teil einer „Reihe jener surrealen, teils grotesken, teils absurden literarischen Gestalten eines phantastischen Realismus“72 erlebt; Strelka ordnet den Roman aufgrund seiner formalen Struktur, die er als „neue Variationsform des nicht rein epischen, sondern weitgehend lyrisierend-essayistischen Romans“73 beschreibt, in die Romantradition von Belyi, Proust und Rilke ein.

Saskia Schulte erlebt Skwaras Don Juan schlichtweg als einen alternden Helden, der „so schwermütig, so müde [ist], als habe er zu lange gelebt“74, und bei Robert Streibel fühlt er sich „als Allegorie des schürzenjagenden Pöbels mißbraucht.“75 Als Motto würde Streibel der Figur zuschreiben: „Leben heißt lieben in vollen Zügen. Den Kelch gilt es zu leeren, um Verzweiflung zu vergessen, sich seiner Existenz gegenwärtig zu sein.“76

2.1.2. „Pest in Siena“

Der Text beginnt mit einem Gedicht, das „meinen Toten“ (PIS, S. 66) gewidmet ist und bereits den zentralen Konflikt des Romans zeigt: „wenn / du dunkel machst / in dir / treten die sterne / heraus / nehmen / blut aus der gegenwart / nicht bewältigter / körper“ (PiS, S. 66) Die Vergänglichkeit der eigenen Existenz und die Vision des Kontaktes mit der Lebensenergie („blut“) „nicht bewältigter Körper“ wird in der Folge eine prägende Rolle spielen. Der Roman ist auktorial erzählt, Don Juan wird vorgestellt als Mann, der „wußte, daß alle Hingabe und Liebesbegabung der anderen in seinem Leben nichts als ein Spiel sein konnte [...]“ (PiS, S. 67). Dieses Wissen hat er sich über Jahrhunderte angeeignet und im Hier und Jetzt weiß der Erzähler:

„Don Juan begegnete Menschen, aber er brauchte Begegnungen nicht. Was er brauchte, war die eine Begegnung, eine Gewißheit zu lieben, aber gerade in der Sättigung dieses Hungers versagte er kläglich. [...] Er hatte sich zwar eine ungefähre Kenntnis seiner Opfer angeeignet, aber Menschen kannte er nicht.“ (PiS, S. 68)

Er fühlt sich alt, „wirklich alt“ (PIS, S. 68), und angesichts dieses Gefühls „sehnte sich Don Juan nach der ersten Liebe“ (PIS, S. 69). Diese Liebe sollte seinem Leben noch einen Sinn geben und dafür ist er bereit einen hohen Preis zu zahlen:

„Er wollte ja auch auf die Bedingungen der Liebe eingehen, wollte scheu, verlegen, ängstlich: eben ein anderer werden, als er bisher gewesen war. Vor allem aber wollte er endlich weinen lernen, und nicht nur die Tränen an anderen Menschen sehen. Don Juan war neugierig auf das sogenannte reine Glück.“ (PiS, S. 69)

Ausgestattet mit Statussymbolen der modernen Welt wie Führerschein, Kreditkarten, Krawatten und Anzügen blickt Don Juan zurück auf die vielen Jahre seiner literari-schen Existenz, wobei er besonders unglücklich über die „aktuellsten“ Entwicklungen ist:

„[I]n den letzten Jahren war diese Flut wachsend schlimmer geworden. Immer häufiger kamen unberufene Autoren daher, die Don Juan nicht einmal kannten. Früher hatten sich wenigstens Männer von Rang mit ihm auseinandergesetzt, was in allen Fällen ein Trost war. [...] Wer jetzt über Don Juan schrieb, der minderte ihn zu einem klinischen Fall herab.“ (PiS, S. 69 – 70)

Später wechselt das Erzählverhalten zwischen auktorial und personal, und innerhalb dieses feinen Netzes von Reflexionen nimmt die Aussage des Romans – von einer Handlung im engeren Sinne kann man keineswegs sprechen – langsam Konturen an: Sie zeichnet das Bild eines ratlosen Charakters, der auf der Suche nach einem Abschluss ist. Das Zentrum dieser Ratlosigkeit ist immer wieder die weite Ebene der Zwischenmenschlichkeit und des Gefühls:

„Weil wir nicht weinen können, weil wir nicht lieben können, wollen wir reden und Sprache finden, um uns zu rechtfertigen für das, was uns verstummen läß t. Auf den Straß en bemerke ich, daß die Menschen zwar schöner werden, daß mein Körper nach ihnen begehrt, aber daß die Beziehungen zu den Menschen häß licher und absurder werden. Zwar begehre ich diese Körper, aber hätte ich sie, wüß te ich nichts mit ihnen anzufangen.“ (PiS, S. 85)

Diese Reflexion lässt bereits erste Vergleiche mit traditionellen Typisierungen des Don Juan zu. Skwara gestaltet seine Figur zu einem intellektuell-philosophischen Typus, der aber den Großteil einstiger Ideale und Wünsche verloren zu haben scheint. Er leidet an seiner Isoliertheit, die über weite Teile von seiner emotionalen Unfähigkeit bestimmt ist. Er scheint in einer Art von emotionaler „Mitte“ fixiert zu sein, die ihn weder zu Glück noch zu Trauer befähigt: „Tränen stimmten ihn traurig und wütend zugleich, weil er nicht damit zurecht kam, daß jedes Wesen und jedes Ding weinen konnte, nur er nicht.“ (PiS, S. 88). Man erfährt auch, dass er sich in einer geschlossenen Anstalt befindet, offenbar zum Zwecke einer psychiatrischen Therapie.

Wo ist der leidenschaftliche Verführer der letzten Jahrhunderte geblieben? Skwaras Don Juan relativiert diesen Mythos expressis verbis: „Hilflos war er immer gewesen, nicht dämonisch, nicht überlegen. Nur der Hilflose spielt den Verführer, um sich anzuklammern – Opfer sind stark.“ (PiS, S. 94f.) Vincent van Gogh kommt zu Wort – und der Autor appelliert an das Kontextwissen des Lesers, indem er den Maler nicht beim Namen nennt, sondern einen „rötlichen“ Menschen einführt, „quer über die Felder hastend“, dessen Bilder in Haag, Arnhem und Amsterdam hängen und dessen Gesicht Don Juan an „Vincent“ erinnert. (Vgl. PiS, S. 96f. bzw. 103) Van Gogh redet zu Don Juan, deklariert ihn als Maler „Auch Sie sind Maler. Ich habe die lustverzerrten Gesichter gesehen, aber die schmerzverzerrten Seelen auch, die ihre Insignien trugen, Don Juan.“ (PiS, S. 98) Es scheint ein Dialog zu entstehen, der sich aber immer wieder in der flimmernd-lyrischen Sprache verliert, die keine Kontur annehmen will, sondern von immer neuen Reflexionen über vergangenes Glück und Unglück beider Figuren unterbrochen wird. Van Gogh unterbricht diese Linie und resümiert:

„Wenn Sie gestatten, erheben wir uns und brechen auf. Wir haben einander gegeben, was jede Begegnung letztlich sein muß : ein Schuttabladen. Ihnen wie mir ist jetzt leichter zumute, und die Sonne neigt sich dem Abend zu. [...] [T]räfen wir wieder zusammen, müß ten wir beide schamrot werden, wir würden entsetzlich verlegen sein. Zwei Tragödien sind es, die uns zur Einsamkeit bestimmen: daß die Begegnung uns vollends entkleidet und daß wir uns schämen, wenn wir erst einmal nackt sind.“ (PiS, S. 115)

Für Don Juan ist diese sprachmalerische Reise durch vergangene Jahrhunderte eine niederschmetternde Bilanz, die immer wieder in der Erkenntnis mündet, stets das Gegenteil dessen gefunden zu haben, was ihm wichtig war, obwohl er nichts unver-sucht gelassen hat, seine brennende Sehnsucht zu stillen, seine Sehnsucht nach „erster Liebe“ (PiS, S. 122). Die Grenzen seiner erotischen Empfänglichkeit sind da-bei weit gesteckt, sei es „diese junge Frau, die ich zu lieben vorgab, die zu lieben ich mir erfolgreich eingeredet hatte“ (PiS, S. 134), oder der junge Mann, mit dem er durch einen „Kometen der Begierde“ (PiS, S. 126) verbunden war: Seine eigene Hilflosigkeit gegenüber dem spielerischen Aspekt von Liebe hat ihn immer wieder erstarren lassen, und seine Opfer mit ihm:

„Sie wollte nur tanzen, sie liebte den Tanz, aber muß te – als sie an mich geriet – erfahren, daß es kein Tanzen gab. Immer blieb ich ein Berg für sie, unbeweglich, und am schlimmsten: Ich war ein magnetischer Berg. [...] Seit sie mich kennt, bedeutet ihr Tanz nur noch Traurigkeit. Den schönen Garten ihrer Unbefangenheit und ihres Talentes zur Freude hätte ich zertreten.“ (PiS, S. 136-137)

Don Juan spielt in diesem Text verschiedene Rollen, auch die des unbeholfenen Vaters, der morgens aufsteht, „um dem schreienden Kind die Flasche in den Mund zu stopfen“ (PiS, S. 142); alles gerät zur Karikatur, bringt ihn allzu schnell an die Grenzen seiner Möglichkeiten, bringt ihn auch zu schnell an die Grenzen seiner Selbstannahme, die ihn in jungen Jahren daran hinderte, über eine an Details haften bleibende Schwärmerei hinauszugehen, weil er sich als Gesamtheit niemandem zu- muten wollte. (Vgl. PiS, S. 143) Die Unfähigkeit, sich selbst als liebenswerte Gesamtheit anzusehen, verführt ihn auch dazu, seine Wahrnehmung anderer Menschen auf die Idealisierung von Details zu beschränken. Mit dieser Art der Konzentration auf Fragmente von Personen bedient er zwar Teile seines eigenen Bedürfnisses, bleibt aber gewissermaßen im Detail hängen, ohne den Gesamtzusammenhang sehen zu können. Noch bevor er sein Blickfeld erweitern könnte, entzieht er sich wieder, und zurück bleiben nur Erinnerungen an glückliche Momente, die retrospektiv idealisiert werden: „Dabei war Giovanni so schön: meine erste Liebe. Wir beschränkten uns trotzdem auf den einzigen Kuß , den ich heute noch in mir aufbewahre.“ (PiS, S. 147) Der Knabe Giovanni und der ältere Don Juan spiegeln einander, und die Gefühle des Älteren schwingen zwischen verschiedenen Qualitäten, wobei keines dieser Gefühle den Knaben im engeren Sinne betrifft, sondern vielmehr spendet Juan über den Umweg des jungen Mannes sich selbst Liebe und Aufmerksamkeit. Doch umgeleitete Liebe ist relative Liebe, und als solche unbefriedigend:

„Das Kind war mein Sohn und war doch mein Geliebter. Die Gesichter der Menschen sind ungenau, und ungenau sehen die Augen der Menschen. Wir stolpern über neue Gesichter, aber keines stillt den Hunger nach bleibender Ordnung, das Verlangen nach dauernder Konstruktion. Giovanni war schön.“ (PiS, S. 148)

Don Juan treibt durch diesen Text wie ein aus dem Rahmen gefallener Mythos, er schlittert haltlos durch ein Meer von Erinnerungen, die nicht in der Lage sind, ihm Halt zu geben, ihm einen Sinn zu erschließen. Er bewegt sich in freiem Fall dem Ende des Romans entgegen, das mit seinem eigenen Ende zusammenfällt, und das auf seine besondere Art eine erfüllende Erfahrung darstellt. Er schwimmt in die Adria hinaus und verschwindet im Meer, spurlos: „Er würde schwimmen und nackt sein, er würde die Wellen streicheln lernen, er würde endlich das Meer überzeugen, daß es ihn lieben und aufnehmen müß te.“ (PiS, S. 191) Was bleibt von Don Juan am Ende dieses Textes übrig? „[E]in Irrtum des Wolfgang Amadeus Mozart, eine Legende, ein Traum der europäischen letzten Atemzüge.“ (PiS, S. 191) Erich Wolfgang Skwara entfernt sich in diesem Roman weit von den traditionellen Konzeptionen, sein Don Juan ist wie ein Geist, zwischen den Zeiten wandelnd, überall zu Gast und doch heimatlos. Diese Heimatlosigkeit ist Dreh- und Angelpunkt dieses Textes, der sich genauso wie sein Protagonist jeder Zuschreibung, jeder Festlegung, jeder eindeutigen Position entzieht. Die Figur erinnert in ihrer melancholisch-intellektuellen Anlage an Lenaus Don Juan, mit dem sie auch die Todesnähe teilt, was ebenso eine Nähe zu Horváths Auslegung des Stoffes herstellt wie die Idee des „gealterten“Verführers, der nur noch von Erinnerungen lebt. Die triebhafte, sinnliche Promiskuität der barocken Verführerfiguren fehlt bei Skwara nahezu völlig, in diesem Roman geht es nicht um vitalen, diesseitigen Genuss, sondern um sentimentales Reflektieren von vergangenen Erlebnissen. Don Juan wurde von Skwara auch aus dem gewohnten Figurensystem gerissen, was den Eindruck seiner Isoliertheit noch verstärkt. Die wenigen Verbindungslinien zu den älteren Don-Juan-Figuren der Weltliteratur betreffen den Aspekt der fixierten Sexualität, die nicht Ausdruck individuellen Begehrens, sondern Symptom eines Mangels an Beziehungsfähigkeit ist. In der Blindheit gegenüber den Besonderheiten des verführten Individuums liegt die Suche nach einem „Liebesprinzip“, das letztendlich nicht gefunden werden kann, weil ein einzelner Mensch nicht ein abstraktes Ideengebäude repräsentieren kann.

[...]


1 Antonio Machado y Ruiz: Über Don Juan., S.193

2 Vgl. Armand E. Singer: The Don Juan Theme.

3 Beatrix Müller-Kampel: Dämon, Schwärmer, Biedermann, S. 386 – 391.

4 Originaltitel: „Private Life Of Don Juan“, dt.: „Das Privatleben des Don Juan“, 1934, USA, Regie: Alexander Korda, Darsteller: Douglas Fairbanks, Merle Oberon.

5 Originaltitel: „The Adventures Of Don Juan“, dt.: „Die Liebesabenteuer des Don Juan“, 1948, USA, Regie: Vincent Sherman, Darsteller: Errol Flynn, Robert Douglas, Viveca Lindfors.

6 Originaltitel: „Don Juan De Marco“, dt.: „Don Juan De Marco“, 1995, USA, Regie: Jeremy Lexen, Darsteller: Johnny Depp, Marlon Brando.

7 Vgl. Armand E. Singer: The Don Juan Theme.

8 Wolfgang Amadeus Mozart/Lorenzo Da Ponte:Don Giovanni. S. 163

9 Ebda, S. 166

10 Vgl. Hiltrud Gnüg: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, S. 16

11 Wolfgang Eitel: Nachwort, S. 85.

12 Ebda.

13 Ebda.

14 Salvador de Madariaga: Don Juan und der Donjuanismus, S. 99.

15 Ebda.

16 Hiltrud Gnüg: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, S. 22.

17 Wolfgang Eitel: Nachwort, S. 86.

18 Hiltrud Gnüg: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, S. 23.

19 Wolfgang Eitel: Nachwort, S. 86.

20 Hiltrud Gni:1g: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, S. 30.

21 Tirso de Molina: Don Juan – Der Verfi:1hrer von Sevilla und der steinerne Gast, S. 77.

22 Ebda, S. 78.

23 Wolfgang Eitel: Nachwort, S. 83.

24 Hiltrud Gni:1g: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, S. 37.

25 Ebda.

26 Ebda.

27 Ebda, S. 43.

28 Molière: Don Juan, S. 7.

29 Hiltrud Gnüg. Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, S. 55.

30 Molière: Don Juan, S. 58f.

31 Elisabeth Frenzel: Don Juan, S. 2.

32 Vgl. Molière: Don Juan, S. 7.

33 Vgl. Leo Weinstein: Die beiden Don-Juan-Typen, S. 180f.

34 Wolfgang Amadeus Mozart/Lorenzo Da Ponte: Don Giovanni, S. 21.

35 Ebda, S. 33.

36 Ebda.

37 Ebda, S. 147..

38 Ebda, S. 159.

39 Hiltrud Gnüg: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, S. 79.

40 Ebda, S. 80.

41 Ebda, S. 82.

42 Ebda, S. 163.

43 George Gordon Byron: Don Juan, S 462.

44 Hiltrud Gnüg: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, S. 164.

45 Ebda, S. 117.

46 Ebda.

47 Ebda, S. 120.

48 Christian Dietrich Grabbe: Don Juan und Faust, S. 7.

49 Ebda, S. 22

50 Hiltrud Gnüg: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, S. 122.

51 Alexander Puschkin: Der steinerne Gast, S. 23.

52 Ebda, S. 27.

53 Nikolaus Lenau: Don Juan, S. 893.

54 Bbda, S. 894.

55 Hiltrud Gnüg: Don Juan. Bin Mythos der Neuzeit, S. 89.

56 Nikolaus Lenau: Don Juan, S. 897.

57 Hiltrud Gnüg: Don Juan. Bin Mythos der Neuzeit, S. 190-193.

58 Ebda, S. 192f.

59 Ödön von Horváth. Don Juan kommt aus dem Krieg, S. 13.

60 Hiltrud Gnüg: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, S. 97.

61 Ebda, S. 174.

62 Ebda, S. 185.

63 Erich Wolfgang Skwara: Nachbemerkung.

64 Vgl. Erich Wolfgang Skwara: Tagebuch zur Probe. Pest in Siena (In der Folge zit. als PiS), Klappentext.

65 August Obermayer: Erich Wolfgang Skwara: Pest in Siena, S. 312.

66 Ebda.

67 Hans Sahl: Lust – Don Juans Trost.

68 Ebda.

69 Ebda.

70 Ebda.

71 Joseph P. Strelka: Nachwort, S. 115.

72 Ebda.

73 Ebda, S. 118.

74 Saskia Schulte: Don Juan stirbt nicht.

75 Robert Streibel: Der Untote.

76 Ebda.

Ende der Leseprobe aus 130 Seiten

Details

Titel
Don Juan - Zeitgenössische literarische Gestaltungen und persönliche Assoziationen um 2000
Hochschule
Karl-Franzens-Universität Graz
Note
3
Autor
Jahr
2003
Seiten
130
Katalognummer
V136433
ISBN (eBook)
9783640430468
ISBN (Buch)
9783640430475
Dateigröße
11734 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Juan, Zeitgenössische, Gestaltungen, Assoziationen
Arbeit zitieren
Ines Maurer (Autor:in), 2003, Don Juan - Zeitgenössische literarische Gestaltungen und persönliche Assoziationen um 2000, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136433

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