Nicht jedes Buch ist für jeden Adressaten jeden Alters gleich gut geeignet. Das allein zeigt sich in den Altersempfehlungen, die für Kinder- und Jugendliteratur angegeben sind. Dass sich die Präsentation und Art des Schreibens an die möglichen Leser richtet, zeugt von Anpassungen der Autoren und Herausgeber an die unterschiedlichen Leserschaften.
John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“ wird als Buch für Kinder bzw. Jugendliche ab zwölf Jahren empfohlen. Die Entscheidung für diese Altersempfehlung wurde innerhalb des Fischer-Verlages in Gesprächen zwischen Lektorat und Marketing getroffen, und geschah demzufolge ohne Hinzuziehung externer Berater oder Pädagogen. Im Falle von John Boynes Fabel wurden nach Aussage der Programmleiterin folgende Argumente für die Einstufung gefunden: das Thema Holocaust wird in vielen Schulen schon in der 6./7.Klasse behandelt; obwohl der Protagonist erst neun Jahre alt ist und somit die übliche Rechnung „Alter des Protagonisten – zwei Jahre = Lesealter“ entfällt, schätzen sie das Thema und die Erzählweise für Leser ab zwölf Jahren als verständlich ein. Altersangaben für Bücher von Verlagen stellen jedoch nur eine Empfehlung dar, diese fungieren dann als Richtungsangabe für Buchhandel und Käufer. Die Entscheidung, ob das Buch aber tatsächlich für einen konkreten zwölfjährigen Leser geeignet ist, lässt sich verständlicherweise nicht abnehmen.
In dieser Arbeit soll nun herausgearbeitet werden, inwiefern das Buch „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne für Kinder bzw. Jugendliche attraktiv, verständlich und vor allem kind- bzw. jugendgemäß ist. Weiterhin soll der Frage nachgegangen werden, für welche Altersstufe diese so genannte Fabel sowohl thematisch, inhaltlich als auch sprachlich angemessen ist. Es wird nicht alleine genügen, dies anhand einer Textprüfung zu entscheiden, deshalb soll im zweiten Teil der Arbeit die vermeintliche Lesergruppe näher beleuchtet werden. Dass neben dem Text auch die Lesergruppe speziell untersucht werden muss, unterstützt folgendes Zitat: „Wir müssen das Kind kennen, ehe wir vom Kinderbuch sprechen und nicht umgekehrt“.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Methodisches Vorgehen
3. Betrachtung des Textes
3.1 Kind- und Jugendgemäßheit in thematischer Hinsicht
3.2 Kind- und Jugendgemäßheit in inhaltlicher Hinsicht
3.3 Kind- und Jugendgemäßheit in sprachlicher Hinsicht
3.4 Kind- und Jugendgemäßheit auf paratextueller Ebene
3.5 Kind- und Jugendgemäßheit in formaler und gattungsmäßiger Hinsicht
3.6 Kind- und Jugendgemäßheit in normativer Hinsicht
4. Textanalyse
4.1 Kind- und Jugendgemäßheit in thematischer Hinsicht
4.2 Kind- und Jugendgemäßheit in inhaltlicher Hinsicht
4.3 Kind- und Jugendgemäßheit in sprachlicher Hinsicht
4.4 Kind- und Jugendgemäßheit auf paratextueller Ebene
4.5 Kind- und Jugendgemäßheit in formaler und gattungsmäßiger Hinsicht
4.5.1. Erzählsituation
4.5.2 Handlungsstruktur
4.5.3. Zeitstruktur
4.6 Kind- und Jugendgemäßheit in normativer Hinsicht
5. Zwischenfazit
6. Betrachtung der Lerngruppe
6.1. Voraussetzungen
6.1.1. Konzepte der kindlichen Entwicklung
7. Konsequenzen
7.1 Einflüsse der Stufentheorie und der Entwicklungspsychologie auf die Kinder- und Jugendliteratur
7.2 Thema Holocaust in den Bildungsstandards verschiedener Schularten
7.3 Textgeeignetheit und Textattraktivität für die Planung von Unterricht
8. Fazit
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Nicht jedes Buch ist für jeden Adressaten jeden Alters gleich gut geeignet. Das allein zeigt sich in den Altersempfehlungen, die für Kinder- und Jugendliteratur angegeben sind. Dass sich die Präsentation und Art des Schreibens an die möglichen Leser richtet, zeugt von Anpassungen der Autoren und Herausgeber an die unterschiedlichen Leserschaften.
„Der Umstand, daß die Literatur sich auf eine bestimmte Konsumentengruppe richtet, bewirkt, daß sie genau auf die Eigenschaften dieser Gruppe Rücksicht nehmen muß. Die für Kinder und Jugendliche herausgegebene Literatur paßt sich somit den Interessen, Bedürfnissen, Erlebnissen, Kenntnissen, dem Lesevermögen usw. ihrer präsumtiven Empfänger an“.[1]
John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“ wird als Buch für Kinder bzw. Jugendliche ab zwölf Jahren empfohlen. Die Entscheidung für diese Altersempfehlung wurde innerhalb des Fischer-Verlages in Gesprächen zwischen Lektorat und Marketing getroffen, und geschah demzufolge ohne Hinzuziehung externer Berater oder Pädagogen. Im Falle von John Boynes Fabel wurden nach Aussage der Programmleiterin folgende Argumente für die Einstufung gefunden: das Thema Holocaust wird in vielen Schulen schon in der 6./7.Klasse behandelt; obwohl der Protagonist erst neun Jahre alt ist und somit die übliche Rechnung „Alter des Protagonisten – zwei Jahre = Lesealter“ entfällt, schätzen sie das Thema und die Erzählweise für Leser ab zwölf Jahren als verständlich ein. Altersangaben für Bücher von Verlagen stellen jedoch nur eine Empfehlung dar, diese fungieren dann als Richtungsangabe für Buchhandel und Käufer. Die Entscheidung, ob das Buch aber tatsächlich für einen konkreten zwölfjährigen Leser geeignet ist, lässt sich verständlicherweise nicht abnehmen.
Bezogen auf das oben genannte Zitat von Klingberg soll in dieser Arbeit herausgearbeitet werden, inwiefern das Buch „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne für Kinder bzw. Jugendliche attraktiv, verständlich und vor allem kind- bzw. jugendgemäß ist. Weiterhin soll der Frage nachgegangen werden, für welche Altersstufe diese so genannte Fabel sowohl thematisch, inhaltlich als auch sprachlich angemessen ist. Es wird nicht alleine genügen, dies anhand einer Textprüfung zu entscheiden, deshalb soll im zweiten Teil der Arbeit die vermeintliche Lesergruppe näher beleuchtet werden. Dass neben dem Text auch die Lesergruppe speziell untersucht werden muss, unterstützt folgendes Zitat: „Wir müssen das Kind kennen, ehe wir vom Kinderbuch sprechen und nicht umgekehrt“.[2]
Gerade das schwierige und sehr emotionale Thema des Buches, der Holocaust, setzt eine genaue Text- und Leserprüfung voraus. Das Thema wird seit der Nachkriegszeit in Kinder- und Jugendbüchern behandelt. Dabei stiegen die Veröffentlichungen um ein Vielfaches an, je länger die darin beschriebene „NS- Zeit“ vergangen war. „Mit den 80er Jahren, vierzig Jahre nach Ende von Krieg und NS-Zeit, setzt also ein wahrer Boom von Kinder- und Jugendbüchern dieses Themas ein“[3]. Neben den in Deutschland geschriebenen Werken stieg auch der Anteil an Übersetzungen; um eine solche handelt es sich auch in diesem Fall.
Neben der Thematik „Judenverfolgung“ steht deren Vermittlung an die Jungleser und Jungleserinnen im Vordergrund der pädagogischen Relevanz. Um die Vermittlung besonders altersgerecht durchführen zu können, muss die zu vermittelnde Botschaft auf den präsumtiven Empfänger abgestimmt werden. Dass dies aber oft nicht der Fall ist, zeigt die Realität nur zu häufig. „So stoßen wir eher auf eine Kinder- und Jugendliteratur mit äußerst geringer oder gar keiner Erziehungsfunktion oder auf eine mit nur geringem Literaturcharakter als auch auf eine solche, die keinerlei Abstimmung auf die präsumtiven Leser aufwiese, also bar jeglicher Kind- und Jugendgemäßheit wäre“[4].
2. Methodisches Vorgehen
In dieser Arbeit soll dargestellt werden, für welche Altersstufe das Buch „Der Junge im gestreiften Pyjama“ geeignet ist - oder ob es der Altersempfehlung ab zwölf Jahren gerecht wird. Laut Klingberg gibt es drei Methoden zum Studium der Adaption in der für Kinder und Jugendliche produzierten Literatur. Man vergleicht entweder Stichproben aus Erwachsenentexten mit Kinder- und Jugendliteraturtexten, oder man vergleicht Stichproben aus Texten des ungefähr gleichen Typs, welche vom gleichen Autor zur ungefähr selben Zeit zum Teil für Kinder und Jugendliche und zum Teil für Erwachsene geschrieben worden sind. Ich habe mich für die dritte Option entschieden und untersuche das Buch so, wie ein Berater vorgehen würde, wenn er einen Text, der ursprünglich nicht für junge Leser geschrieben wurde, zu einer Ausgabe für diese umarbeiten würde.[5] Um das möglichst detailliert entschlüsseln zu können, werde ich in einem ersten Schritt ein Prüfraster erstellen, mit dessen Hilfe eine Textanalyse durchgeführt wird. Die im Prüfraster auftretenden Kategorien basieren hauptsächlich auf Hans-Heino Ewers Schriften zur „Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung“.
Bevor das Prüfraster erstellt werden kann, müssen meines Erachtens zunächst einige Begriffe definiert werden. Spricht man laut Ewers von dem Begriff Kind- und Jugendgemäßheit, so kann man diese als eine Art Eigenschaft von Kinder- und Jugendliteratur sehen. Er sieht Kind- und Jugendgemäßheit als eine relationale Bestimmung eines zweistelligen Relationsbegriffes. Der Text wird als Ganzes oder besondere Merkmale des Textes werden auf den präsumtiven kindlichen bzw. jugendlichen Leser bezogen und je nachdem als angemessen oder unangemessen qualifiziert[6]. Ewers erläutert Kind- und Jugendgemäßheit mithilfe der beiden Termini „Textverständlichkeit“ und „Textattraktivität“. Den Begriff der Textverständlichkeit entwickelte Norbert Groeben und definierte ihn wie folgt: „das Vorliegen einer vollständigen oder zumindest partiellen Gleichheit von Verarbeitungsmöglichkeiten (auf der Leserseite) und Verarbeitungsanforderungen (von der Textseite her)“[7].
Ewers behauptet, dass die Botschaft eines Textes auf dessen Leser abgestimmt werden muss. Für die Kinder- und Jugendliteratur bedeutet dies, dass der Text mit all seinen Textmerkmalen und –elementen an die Fähigkeiten der kindlichen bzw. jugendlichen Leser angeglichen werden sollte. Diese werden an der Dekodierfähigkeit des Lesers gemessen und sollten dessen sprachlichen, kognitiven und literarischen Verarbeitungsmöglichkeiten entsprechen. Die Botschaft muss vom Leser erkannt und rezipiert werden können.
Textattraktivität bezieht sich auf Interessen, Vorlieben und Bedürfnisse der Leser[8]. Auch Maria Lypp, die ein Buch über die „Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur“ geschrieben hat, sagt, dass Kinderliteratur eine Grenze der Einfachheit wahren muss, genauer gesagt darf die Sprache, die Darstellungsweise und das Sujet einen bestimmten Grad der Komplexität nicht überschreiten[9].
Die Kind- bzw. Jugendgemäßheit von Kinder- und Jugendbüchern lässt sich unter anderem, angelehnt an Ewers, in sechs Kategorien darstellen, mit und an denen gezeigt werden kann, ob der Text Rücksicht auf die Leser hinsichtlich ihres Alters nimmt.
Im zweiten Teil der Arbeit soll die vermeintliche Leserschaft hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Konsequenzen, die das Buch dadurch mit sich bringt, untersucht werden.
3. Betrachtung des Textes
3.1 Kind- und Jugendgemäßheit in thematischer Hinsicht
Als erstes soll der Text hinsichtlich seiner textinternen Merkmale untersucht werden.
Fragt man nach dem Thema eines Buches, welches für Kinder und Jugendliche attraktiv sein soll, muss man zunächst einmal klären, was Kinder- und Jugendliteratur thematisieren soll. Wie auch bei der Klärung des Inhaltes steht der präsumtive Leser mit seinem Kenntnisstand, seinen Interessen und Bedürfnissen im Vordergrund. Ewers spricht davon, dass in einem ersten Schritt Themen hinsichtlich ihrer Nähe bzw. ihrer Ferne vom präsumtiven Leser und seiner Lebenswelt klassifiziert werden müssen. Im nächsten Schritt wird dann untersucht, inwieweit die Themen das Interesse des Lesers wecken, und ob die Bedürfnisse befriedigt werden[10]. Dass eine Abgrenzung zwischen dem Inhalt und dem Thema einer Geschichte gemacht wird, ist aus dem Grund wichtig, weil Themen von abstrakter, ideeller Natur sind. Diese können deshalb auf unterschiedliche Weise veranschaulicht werden und themengleiche Werke weisen nicht zwangsläufig auch denselben Inhalt auf.[11] Wie bereits in der Einleitung gesagt, gibt es seit Kriegsende unzählige Bücher, die sich mit dem Thema Holocaust auseinander gesetzt haben. Das Thema ist bei vielen gleich, die Unterschiede bestehen in der Wahl des Inhaltes (zum Beispiel bietet die Perspektive Täter oder Opfer unterschiedliche Inhalte).
Bei der Themenwahl sollte der Autor, wenn er Literatur für Kinder und Jugendliche schreibt, Rücksicht auf den vermeintlichen Leser nehmen. Jedoch ist die Kinder- und Jugendliteratur nur in einem geringeren Maß dazu genötigt, da Kindheit und Jugend auch Themen der Allgemeinliteratur darstellen.[12]
3.2 Kind- und Jugendgemäßheit in inhaltlicher Hinsicht
Bei der Wahl eines Inhaltes für einen Text kann sich der Autor an der Kind- und Jugendgemäßheit orientieren und sich leiten lassen. Untersucht man Texte hinsichtlich ihrer Inhalte, muss man immer zwei widersprüchliche Qualitäten messen. Zum einen kann den Lesern der Inhalt bereits vertraut sein; sie finden dann zwar einen leichten Zugang zum Text, es besteht aber die Gefahr, dass das Interesse durch das bereits Bekannte nicht geweckt wird. Zum anderen kann der Inhalt fremd sein, was in der Regel einen eher schwierigeren Zugang, wenn nicht gleich keinen Zugang, bietet.
Diese Einschätzung in Vertrautheit bzw. Fremdheit lässt sich sehr gut mit dem Begriff der „Alterität“ beschreiben. Diese lässt sich wie folgt definieren: „[…] thematische Alterität, die den Grad der Erkennbarkeit und Vertrautheit (respektive Fremdheit) der im Text dargestellten Objektwelt, Sozialbeziehungen und inneren Welt beschreibt“[13].
Es gilt den zu analysierenden Text hinsichtlich des Inhaltes auf Kenntnisstand, Lebenserfahrung, Neigungen, Interessen, Wünsche und Begehren des präsumtiven Lesers zu untersuchen.
„Eine Form der Adaption […] besteht darin, daß der Autor Kinder und Jugendliche in größerem Ausmaß Hauptpersonen der Handlung sein lässt, als es in der Erwachsenenliteratur üblich ist“[14].
Analysiert man Texte bezüglich Kind- und Jugendgemäßheit in inhaltlicher Hinsicht, sind die von den allgemeinliterarischen Konventionen abweichenden kinder- und jugendliterarischen Weisen der Inhaltsgestaltung zu untersuchen.
3.3 Kind- und Jugendgemäßheit in sprachlicher Hinsicht
Wie schon erwähnt, ist es auch bei der Sprachwahl des Autors von Bedeutung, ob der Text primär für Kinder und Jugendliche oder für Erwachsene geschrieben wurde. Denn besonders auf der sprachlichen Ebene muss Rücksicht auf den Leser und sein Sprachvermögen und -wissen genommen werden. Nach Ewers können diese Einschränkungen die Morphologie (z.B. Meidung des Passivs, sparsamer Gebrauch bestimmter Wortarten wie des Adjektivs), die Syntax (Satzlänge, mehr parataktische als hypotaktische Satzkonstruktionen), die Redeformen (Meidung der indirekten Rede, der erlebten Rede) und die Semantik (Orientierung aus dem begrenzten Wortschatz der Altersgruppen, Meidung von Fremdwörtern und Begriffen aus Fachsprachen) betreffen[15]. Um die sprachliche Begrenzung des Textes „Der Junge im gestreiften Pyjama“ für Kinder und Jugendliche zu untersuchen, soll dieser aber in Hinsicht auf Bernhard Engelens Überlegungen untersucht werden. Engelen hat sich in seinen Aufsätzen zur Kinderliteratur auch mit der Sprache und der Syntax in Kinderbüchern befasst. Um den Text einem Schwierigkeitsgrad zuzuordnen, werde ich folgende Aspekte an einem Kapitel exemplarisch näher untersuchen: 1. mittlere Satzlänge, 2. Häufigkeit von hypotaktischen und parataktischen Sätzen, 3. referierte Rede und 4. Verwendung von Infinitivsätzen. Diese vier Kriterien reichen meines Erachtens aus, um einen groben Überblick über die sprachliche Beschaffenheit des Textes zu erhalten.
„Für das Jugendbuch ergibt sich daraus die Folgerung, daß nicht nur der Inhalt der geistigen Fassungskraft des Kindes angemessen sein muß, sondern vor allem die Sprache des Jugendbuches aus der Sprachwelt - eben der Kindermundart - des jungen Menschen gespeist sein muß. Das ist der Sinn der Forderung, daß die Sprache des Jugendbuches kindertümlich und jugendgemäß sein müsse.“[16]
3.4 Kind- und Jugendgemäßheit auf paratextueller Ebene
Nun sollen die textexternen Merkmale in Form von äußeren und formalen Gegebenheiten untersucht werden.
Für diese erste Kategorie habe ich das Werk Paratext von Gerard Genette hinzugezogen, da dieser den Begriff Paratext in meinen Augen am treffendsten definiert.
Genette bezeichnet die Gesamtheit der Signale, die die literarische Botschaft bzw. den literarischen Text begleiten, als Paratext. Diesen unterteilt er in die beiden Kategorien Peritext und Epitext. Der Peritext umfasst alles, was sich im Umfeld des Textes befindet. Signale für den Peritext sind Titel, Vorwort, Kapitelüberschriften, Anmerkungen und auch buchmediale Signale wie Schrifttype, Schriftsatz, Buchgestaltung, Illustrationen, Einband und Schutzumschlag. Der Epitext umfasst alle Signale, die außerhalb des Buches zu finden sind und begleitend zu seiner Publikation ausgesendet werden[17]. Unterschieden wird beim Paratext zwischen dem auktorialen Paratext, der auf den Autor, dem verlegerischen Paratext, der auf den Herausgeber und dem allographischen Paratext, der auf Dritte zurückgeht. Aufgrund einer Untersuchung der einzelnen Gebiete des Paratextes lässt sich herausfinden, in welche Richtung die Kommunikation mit dem Leser geht. Es stellen sich die Fragen, ob nur die kindlichen und jugendlichen Leser oder eher die Erwachsenen angesprochen werden, oder ob der Paratext beide Parteien gleichermaßen anspricht.
Die Titelei wird von Genette unterteilt in Titel, Untertitel und Gattungsangabe, wobei es im kinder- und jugendliterarischen Horizont sinnvoller erscheint, die letzte Position um die Adressatennennung und den Gebrauchshinweis zu ergänzen[18].
Ein weiteres Untersuchungsmerkmal stellt der Bucheinband dar, welcher, laut Genette, zum verlegerischen Paratext zählt. Näher betrachtet wird dabei der Schutzumschlag in seiner Gestaltung und der Text, den er enthält. Weitere Signalbereiche, die von beiden Teilkommunikationen in Anspruch genommen werden können, sind die Vor- bzw. Nachrede und die Kapitelüberschriften. Von zentraler Bedeutung für die Kind- und Jugendgemäßheit sind Illustrationen. Sie können ein Erkennungszeichen für Kinder- und Jugendbücher sein. Als letzte Merkmale des verlegerischen Peritextes sind Einbandmaterialien, Typographien und die Papiersorte zu nennen. Der auktoriale und verlegerische Epitext sind für meine Buchuntersuchung weniger relevant und werden deswegen nicht weiter beachtet.
3.5 Kind- und Jugendgemäßheit in formaler und gattungsmäßiger Hinsicht
Als erstes stellt sich mir bei diesem Punkt die Frage, wie eine Botschaft, die an Kinder und Jugendliche gerichtet ist, strukturiert sein muss, damit sie vom Empfänger eines bestimmten Alters aufgenommen, verarbeitet und verstanden werden kann. Die Botschaft eines Textes durchzieht den gesamten Text und ist verantwortlich für seinen stetigen Weiterlauf. Deshalb sind formale und strukturelle Aspekte in beträchtlichem Maße verantwortlich für die Verständlichkeit und die Attraktivität eines kinder- und jugendliterarischen Textes[19]. Um das formale und strukturelle Potential eines Textes herauszuarbeiten, muss man sich die Verwendung des allgemeinliterarischen Repertoires ansehen. Diese literarischen Bauformen und Techniken findet man bei Martinez und Scheffel und ihrer „Einführung in die Erzähltheorie“. Angelehnt an diese beiden Autoren werde ich die Erzählsituation, die Handlungsebenen und die Zeitstruktur beschreiben. Anhand dieser formalen Aspekte soll überprüft werden, inwieweit der Text formal an kindliche Leser angepasst ist.
Von einer formalen Akkommodation ließe sich sprechen, wenn eine reduzierte Verwendung des allgemeinliterarischen Repertoires nachzuweisen wäre.[20]
Jedes schriftlich verfasste Werk lässt sich einer bestimmten Gattung zuordnen. Bereits im Paratext erfährt man, dass „Der Junge im gestreiften Pyjama“ eine Fabel ist. Die typische Fabel besitzt einen dreigliedrigen Aufbau, beginnend mit der Ausgangssituation, die die Handelnden kurz vorstellt und auf die spezielle Konfliktsituation hinlenkt. Die Konfliktsituation bietet die Gegenüberstellung zweier konträrer Verhaltensweisen, wobei eine der anderen unterlegen ist. Der dritte Punkt ist die Lösung, in der das Ergebnis berichtet wird. Zum Schluss wird dann meistens noch ein Lehrsatz, das so genannte „Epimythion“, hinzugefügt. Das „Epimythion“ ist ein Merk- oder Lehrsatz, diese „Lehre“ oder „Moral“ kann helfen, die Aussageabsicht der Fabel zu erschließen.[21]
Anhand der literarischen Bauformen und Techniken, die vermeintlich auf den Leser abgestimmt sind, lässt sich die Gattung der Geschichte einer bestimmten kinder- und jugendliterarischen Variation der allgemeinliterarischen Gattung zuordnen. So lassen sich zum Beispiel Romane unter anderem in Kinder- und Jugendromane einteilen. Dies geschieht aufgrund einer Reduktion des jeweils gattungsspezifischen Formenrepertoires. Ewers behauptet, dass mit der Wahl der jeweiligen kinder- und jugendliterarischen Gattungsvariante die formale bzw. strukturelle Kind- und Jugendgemäßheit garantiert ist.[22] Inwieweit die vorliegende Fabel anhand ihrer Form an Kinder und Jugendliche angenähert ist und ob eine gattungsmäßige Akkommodation vorliegt, soll im späteren Teil der Arbeit überprüft werden. Allgemein lässt sich die gattungsmäßige Anpassung an Kinder und Jugendliche wie folgt definieren:
„Unter gattungsmäßiger Akkommodation sind die aus Gründen der Anpassung an den präsumtiven Leser vorgenommen Modifikationen des allgemeinliterarischen Gattungssystems zu verstehen. Diese Modifikationen können zur Ausdifferenzierung kinder- und jugendliterarischer Gattungsvarianten wie zur Herausbildung reiner kinder- und jugendliterarischer Gattungen führen“.[23]
3.6 Kind- und Jugendgemäßheit in normativer Hinsicht
Die eigentliche Bezugsgröße für den hier zu erörternden Aspekt der Kind- und Jugendgemäßheit bezeichnet Ewers nach Wayne C. Booth als Ausdruck des letztendlich geltenden Wertungsstandpunktes. Demzufolge muss herausgefunden werden, ob und in welchem Maße die in dem literarischen Werk definitiv geltenden Normen mit den Wertungen der präsumtiven Leser konform gehen.[24] Gelingt es dem Autor, sich selbst voll und ganz von seinen Interessen zu lösen und nur im Interesse der kindlichen bzw. jugendlichen Leser zu schreiben, liegt eine Kind- und Jugendgemäßheit in normativer Hinsicht vor. Es spräche dann nicht der Autor durch den Erzähler, sondern der Autor würde in einem Fall von normativer Kind- und Jugendgemäßheit dem Kind bzw. Jugendlichen seine „Stimme“, sein literarisches Talent und seine Formulierungs- und Gestaltungskunst leihen. Es ist also eine Rollendichtung erforderlich, in der sich der Autor wertungsmäßig gänzlich zurückhält.[25]
4. Textanalyse
Die unter Punkt drei erarbeiteten Aspekte ergeben zusammen ein Prüfraster, mit dessen Hilfe nun das Buch „Der Junge im gestreiften Pyjama“ untersucht werden soll. Bevor dies geschieht, erfolgt hier eine kurze Inhaltsangabe der Geschichte.
Inhaltsangabe:
Das Buch „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne handelt von einem neunjährigen Jungen namens Bruno. Der Junge und seine Familie ziehen im Jahr 1942 aufgrund einer Beförderung seines Vaters von Berlin ins ferne „Aus-wisch“. Es gibt dort niemanden zum Spielen und neben ihrem Haus steht ein großer, langer und hoher Zaun. Anfangs findet Bruno es in „Aus-wisch“ schrecklich, aber dann lernt er nach einiger Zeit den polnischen Jungen Schmuel kennen. Sie entwickeln eine enge Freundschaft. Die Jungen können sich aber nur durch einen Zaun unterhalten, da Bruno auf der einen Seite lebt und Schmuel auf der anderen, wo alle Menschen die gleiche gestreifte Kleidung tragen. Als Schmuels Vater auf einmal verschwunden ist, bietet Bruno seine Hilfe an und kriecht unter dem Zaun durch auf die andere Seite. Die beiden Jungen werden in eine Kammer geführt und sterben Hand in Hand.
4.1 Kind- und Jugendgemäßheit in thematischer Hinsicht
Thema der Erzählung ist, meines Erachtens, die Kindheit zur Zeit des Holocausts. Die Sicht auf den Bezug zum Holocaust bleibt jedoch dem erwachsenen bzw. jugendlichen Leser vorbehalten. Dem kindlichen Leser wird an keiner Stelle explizit verständlich und deutlich gemacht, um welche Rahmenbedingungen es sich eigentlich handelt. Der Leser wird, wie Bruno, auch im Dunkeln und Ungewissen gelassen, was sich neben dieser Freundschaft zwischen Bruno und Schmuel tatsächlich abspielt. Bruno wird als Junge dargestellt, der keine Ahnung hat, was sich in seinem Land zu dem Zeitpunkt des Wohnortwechsels ereignet. Er weiß noch nicht einmal, was sein Vater, der immer eine phantastische Uniform trägt, eigentlich von Beruf ist.[26] Den erwachsenen Lesern ist es möglich, zwischen den Zeilen zu lesen, aber den kindlichen Lesern bleiben, genau wie Bruno, alle Vorgänge rätselhaft und unverständlich. Diese Darstellung zeigt, dass das Thema als fern vom präsumtiven Leser und seiner Lebenswelt eingestuft werden kann.
Das Thema Holocaust beeinflusst und interessiert Kinder als präsumtive Leser eher nicht, da sie persönlich von den Vorgängen und Auswirkungen dieser Zeit vermutlich noch nichts gehört haben. Es ist also unzweifelhaft die Auffassung des Autors, dass sich die kindlichen Leser mit diesem Thema auseinandersetzen sollen. Hier könnte Boyne in die Kritik geraten, da er als Ire einen ganz anderen Blick und eine andere Verbindung zu dem Thema Holocaust hat als zum Beispiel ein deutscher Staatsbürger. Das Thema Holocaust ist ein für Deutschland schwieriges und trauriges Thema, gerade deshalb bedarf es bei Kindern einer besonderen Aufbereitung dieser Zeit und einer Auseinandersetzung mit dem Thema. Da Boyne nie genau sagt, um welche Zeit es sich handelt und er durch Bruno den Leser unwissend lässt, bleibt dieses Verständnis und die Auseinandersetzung nur den Lesern vorbehalten, die über ein gewisses Hintergrundwissen verfügen und mit den von Boyne gewählten Wörtern, wie „Furor“ für Führer und „Aus-Wisch“ für Auschwitz, etwas anfangen können. Man könnte Boyne zugute halten, dass er jegliche Grausamkeiten, Beschimpfungen, Handlungen der Soldaten, Geschehnisse und Beschreibungen nicht detailliert und explizit darstellt. „Eine Erzählung kann bei einem Kind möglicherweise ein Schreckenserlebnis hervorrufen, während ein Erwachsener die Episode nicht gleich stark erlebt. Der Autor adaptiert sich, indem er solche Passagen vermeidet“.[27] Gerade dies zeugt wiederum für eine Kindgemäßheit, doch leider bleibt es meistens auch bei dem Unverständnis auf Seiten dieser kindlichen Leser und auch bei den meisten Erwachsenen ruft die Erzählung ein Schreckerlebnis und Schauderhaftigkeit hervor.
4.2 Kind- und Jugendgemäßheit in inhaltlicher Hinsicht
Bei diesem Punkt stellt sich die Frage, inwieweit sich der Autor bei der Wahl seines Inhaltes von der Kind- und Jugendgemäßheit hat orientieren und leiten lassen. Die Fabel handelt von Bruno, einem neunjährigen Berliner, der mit seiner Familie von Berlin in das weit entfernte „Aus-wisch“ ziehen muss. Die Wahl der Hauptperson zeugt von Berücksichtung des Interesses der Empfänger, da Autoren in der Kinder- und Jugendliteratur in größerem Ausmaß Kinder bzw. Jugendliche als Hauptpersonen auswählen.[28] Selbstverständlich ist jeder Umzug in die Fremde für Kinder schwer, doch es stellt sich sehr bald heraus, dass es in dieser „Fremde“ keine Spielgefährten für Bruno gibt und er sich neben einem Lager befindet, in dem zwar Gleichaltrige sind, er allerdings - durch einen Zaun getrennt - nicht die Möglichkeit hat, mit ihnen zu spielen. Bruno, als selbsternannter Entdecker, macht sich auf eine Entdeckungsreise und lernt den Jungen Schmuel aus Polen kennen. Es entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden Jungen, die aber an Grenzen stößt. Die beiden Jungen können sich nur heimlich treffen, und immer steht der Zaun zwischen ihnen. Es gibt in dem Sinne kein richtiges Spielen, da die beiden sich nur unterhalten können. Der angesprochene Leser hat es im ersten Moment mit Erlebnissen und Erfahrungen eines Protagonisten zu tun, der zu seinesgleichen zählt. Viele Kinder erleben schon früh Umzüge in fremde Städte, dieser Inhalt gilt als lesernah und – vertraut. Betrachtet man also nur die Inhalte Freundschaft und Umzug in die Fremde, kann von einer stofflich-inhaltlichen Kindgemäßheit die Rede sein. Auch die dargestellte familiäre Situation, Streit mit Geschwistern und Unverständnis auf Seiten der Eltern für die Tätigkeiten der Kinder, sind den kindlichen Lesern bereits vertraute Inhalte. Viele Kinder- und gerade Jugendbücher thematisieren solchartige Familiendarstellungen.
[...]
[1] Klingberg, Göte (1973), S. 92
[2] Gorschenek, Margarete/Rucktäschel, Annamaria (1979), S. 110
[3] Dahrendorf, Malte (1999), S. 19
[4] Ewers, Hans-Heino (2000), S. 199
[5] Vgl. Klingerg, Göte (1973), S. 93 f.
[6] Vgl. Ewers, Hans-Heino (2000), S. 200
[7] Groeben, Norbert (1982), S. 160
[8] Vgl. Ewers, Hans-Heino (2000), S. 200 f.
[9] Vgl. Lypp, Maria (1984), S. 9
[10] Vgl. Ewers, Hans-Heino (2000), S. 222
[11] Vgl. Ewers, Hans-Heino (2000) S. 221
[12] Vgl. ebd. S. 224
[13] Maiwald, Klaus (2001), S. 72
[14] Ewers, Hans-Heino (2000), S. 219
[15] Vgl. ebd. S. 211
[16] Ewers, Hans-Heino (2000) S. 181
[17] Vgl. Genette, Gerard (1989), S. 10 ff.
[18] Vgl. ebd. S. 60
[19] Vgl. Ewers, Hans-Heino (2000), S. 214
[20] Vgl. ebd. S. 214
[21] Vgl. http://members.aol.com/litwiss/Fabeln.htm
[22] Vgl. Ewers, Hans- Heino (2000), S. 215
[23] Ebd. S. 216
[24] Vgl. ebd. S. 225
[25] Vgl. Ewers, Hans- Heino (2000) S. 226
[26] Vgl. Boyne, John (2007), S. 11
[27] Klingberg, Göte, (1973), S. 95
[28] Vgl. Klingberg, Göte, (1973) S. 95
- Arbeit zitieren
- Marlena Börger (Autor:in), 2008, Holocaust in der Jugendliteratur der Moderne. Didaktische Überlegungen zu John Boynes "Der Junge im gestreiften Pyjama", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136530
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.