Eine bekannte deutsche Sozialorganisation wirbt derzeit mit dem Slogan „In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?“. Für den Soziologen stellt sich jedoch eher die Frage „In was für einer Gesellschaft leben wir?“. Denn erst wenn wir sicher zu sagen vermögen, wie unsere moderne Gesellschaft überhaupt beschaffen ist, macht es aus soziologischer Sicht Sinn, auf der Grundlage des ermittelten Ist-Zustandes Vorschläge zu dessen Verbesserung zu formulieren. Unglücklicherweise handelt es sich bei der menschlichen Gesellschaft um einen äußerst komplexen Untersuchungsgegenstand, weshalb bis zum heutigen Tage (leider) keine allgemeingültige Theorie zu deren Erklärung entwickelt werden konnte. Verschiedene Autoren haben unterschiedliche Aspekte der Gesellschaft als besonders prägend und erwähnenswert erachtet, weshalb heute eine Vielzahl sogenannte „Gesellschaftstheorien“ existiert, die allesamt auf ihre Weise versuchen, die zentralen Elemente, Probleme und Wirkungsweisen des Phänomens Gesellschaft herauszuarbeiten. Dabei wird der Aspekt von Gesellschaft, der als zentral angesehen wird, in vielen Fällen auch gleichzeitig zum Namensgeber der Theorie, weshalb solche Erklärungsansätze Titel wie „Erlebnisgesellschaft“, „Kommunikationsgesellschaft“, „Weltgesellschaft“, „Informationsgesellschaft“ oder „Multioptionsgesellschaft“ tragen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Einen vielbeachteten Erklärungsansatz der modernen Gesellschaft stellt das von dem deutschen Soziologen Ulrich Beck entworfene Konzept der sogenannte „Risikogesellschaft“ dar, das er 1986 in seinem gleichnamigen Buch erstmals vorgestellt hat. Ziel dieser Arbeit ist es, die zentralen Merkmale der Risikogesellschaft herauszuarbeiten und prägnant darzustellen, um dem Leser auf diese Weise einen Überblick über Becks relativ komplexe Gegenwartsdiagnose zu verschaffen. Darüber hinaus soll erläutert werden, in welchem Kontext die Risikogesellschaft im Hinblick auf Becks Gesamtwerk zu verstehen ist. Der dritte und letzte Punkt dient zur Darstellung eventueller Schwächen und Probleme des Konzepts der Risikogesellschaft. Dazu soll exemplarisch auf die Kritik der beiden deutschen Soziologen Rainer Geißler und Richard Münch eingegangen werden. In einem abschließenden Fazit sollen dann noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit komprimiert dargestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Das Konzept der Risikogesellschaft
1.1 Zu den Risiken moderner Gesellschaften
1.2 Interpretation, Definition und Anerkennung von Risiken
1.3 Zur Verteilung von Modernisierungsrisiken - Soziale Gefährdungslagen
1.4 Individualisierung in der Risikogesellschaft
1.5 20 Jahre später: von der Risiko- zur Weltrisikogesellschaft
2. Kontext: von der Ersten zur Zweiten Moderne
3. Zur Kritik an Ulrich Becks Theorie
3.1 Rainer Geißlers Vorwurf der Verschleierung sozialer Ungleichheitsverhältnisse
3.2 Kritische Würdigung bei Richard Münch
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Eine bekannte deutsche Sozialorganisation wirbt derzeit mit dem Slogan „In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?“.[1] Für den Soziologen stellt sich jedoch eher die Frage „In was für einer Gesellschaft leben wir?“. Denn erst wenn wir sicher zu sagen vermögen, wie unsere moderne Gesellschaft überhaupt beschaffen ist, macht es aus soziologischer Sicht Sinn, auf der Grundlage des ermittelten Ist-Zustandes Vorschläge zu dessen Verbesserung zu formulieren. Unglücklicherweise handelt es sich bei der menschlichen Gesellschaft um einen äußerst komplexen Untersuchungsgegenstand, weshalb bis zum heutigen Tage (leider) keine allgemeingültige Theorie zu deren Erklärung entwickelt werden konnte. Verschiedene Autoren haben unterschiedliche Aspekte der Gesellschaft als besonders prägend und erwähnenswert erachtet, weshalb heute eine Vielzahl sog. „Gesellschaftstheorien“[2] existiert, die allesamt auf ihre Weise versuchen, die zentralen Elemente, Probleme und Wirkungsweisen des Phänomens Gesellschaft herauszuarbeiten. Dabei wird der Aspekt von Gesellschaft, der als zentral angesehen wird, in vielen Fällen auch gleichzeitig zum Namensgeber der Theorie, weshalb solche Erklärungsansätze Titel wie „Erlebnisgesellschaft“, „Kommunikationsgesellschaft“, „Weltgesellschaft“, „Informations-gesellschaft“ oder „Multioptionsgesellschaft“ tragen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Einen vielbeachteten Erklärungsansatz der modernen Gesellschaft stellt das von dem deutschen Soziologen Ulrich Beck entworfene Konzept der sog. „Risikogesellschaft“ dar, das er 1986 in seinem gleichnamigen Buch erstmals vorgestellt hat. Ziel dieser Arbeit ist es, die zentralen Merkmale der Risikogesellschaft herauszuarbeiten und prägnant darzustellen, um dem Leser auf diese Weise einen Überblick über Becks relativ komplexe Gegenwartsdiagnose zu verschaffen. Darüber hinaus soll erläutert werden, in welchem Kontext die Risikogesellschaft im Hinblick auf Becks Gesamtwerk zu verstehen ist. Der dritte und letzte Punkt dient zur Darstellung eventueller Schwächen und Probleme des Konzepts der Risikogesellschaft. Dazu soll exemplarisch auf die Kritik der beiden deutschen Soziologen Rainer Geißler und Richard Münch eingegangen werden. In einem abschließenden Fazit sollen dann noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit komprimiert dargestellt werden.
Die Risikogesellschaft – Konzept, Kontext und Kritik
1. Das Konzept der Risikogesellschaft
1.1 Zu den Risiken moderner Gesellschaften
Aus der Benennung von Becks Konzept geht bereits hervor, dass die Komponente des Risikos einen zentralen Platz in dessen Gegenwartsdiagnose einnimmt. Tatsächlich sieht Beck im Risiko das kennzeichnende Merkmal unserer heutigen Gesellschaft. Unter dem Begriff ist folgendes zu verstehen: „Risiko bedeutet die Antizipation der Katastrophe. Risiken handeln von der Möglichkeit künftiger Ereignisse und Entwicklungen, sie vergegenwärtigen einen Weltzustand, den es (noch) nicht gibt. [...] Risiken sind immer zukünftige Ereignisse, die uns bevorstehen, uns bedrohen. Aber da diese ständige Bedrohung unsere Erwartungen bestimmt, unsere Köpfe besetzt und unser Handeln leitet, wird sie zu einer politischen Kraft, die die Welt verändert.“[3] Ein Risiko ist also die Erwartung eines in der Zukunft eintretenden (negativen) Ereignisses, wodurch bereits unser gegenwärtiges Handeln beeinflusst wird. Nun muss man sich an dieser Stelle natürlich die Frage stellen, warum gerade dieses Phänomen kennzeichnend für die moderne Gesellschaft sein soll. Schließlich kannten auch die Menschen früherer Epochen das Risiko als eine handlungsbestimmende Größe. Beck sieht jedoch gravierende Unterschiede zwischen den Risiken unserer heutigen Zeit und denen früherer Gesellschaften:[4]
- Ein Unterschied besteht darin, dass die Risiken der heutigen Gesellschaft auf moderne Ursachen zurückzuführen sind, weshalb sie auch als Modernisierungs- oder Zivilisationsrisiken bezeichnet werden. Sie sind ein pauschales Produkt (oder anders ausgedrückt: eine Nebenfolge) des industriellen Fortschritts. Sie werden nicht intentional hervorgebracht, sondern wachsen in dem Maße, in dem auch unsere technische Entwicklung fortschreitet.
- Schon seit ihrem Beginn ging die Industrialisierung mit Nebenfolgen einher. Zu nennen sind hier bspw. ein verstärktes Armuts- und Gesundheitsrisiko breiter Bevölkerungsteile. Heutige Nebenfolgen des technischen Fortschritts zeichnen sich jedoch durch die Globalität ihrer Bedrohung aus; eine Eigenschaft, die denen früherer Epochen fehlte. So haben die heutigen Risiken eine neue Qualität angenommen, denn sie sind nicht mehr an den Ort ihrer Entstehung gebunden. Im Gegenteil: „Ihrem Zuschnitt nach gefährden Sie das Leben auf dieser Erde, und zwar in all seinen Erscheinungsformen.“[5]
- Eine weitere Differenz ist darin zu sehen, dass die damaligen Gefährdungen sinnlich wahrnehmbar waren, d. h. Armut usw. stellten konkret erfahrbare Risiken dar. Dem stehen die Risiken unserer heutigen Zeit gegenüber, die größtenteils in latenten Formen auftreten, sich also einer eindeutigen Wahrnehmung entziehen und in ihrem Kern meist unsichtbar bleiben.
Die Risiken unserer Zeit unterscheiden sich also stark von denen der Antike und des Mittelalters, aber auch von denen der frühen Industrialisierung. Ein Blick auf die oben genannten Unterschiede sollte ausreichen, um zu erkennen, welche Risiken es sind, die Beck als kennzeichnend für die heutige Gesellschaft ansieht und denen er den Status zuspricht, unser Handeln nachhaltig zu beeinflussen: es sind in erster Linie ökologische Gefährdungen, bspw. die zunehmende Verschmutzung der Gewässer und der Luft, die steigenden Giftgehalte in den Nahrungsmitteln und die ständige atomare Bedrohung (sowohl durch die Lagerung von Nuklearabfällen als auch durch mögliche Unfälle in Kernkraftwerken) sowie die mit ihnen verbundenen Folgen (Waldsterben, Artensterben, Volkskrankheiten etc.).[6]
1.2 Interpretation, Definition und Anerkennung von Risiken
Zu einem Risiko in dem beschriebenen Sinne wird eine Gefährdung jedoch nicht allein dadurch, dass sie „objektiv“ besteht. Wegen des vorher dargestellten Sachverhalts der eingeschränkten Wahrnehmbarkeit von Modernisierungsrisiken sind diese in besonderem Maße „offen für soziale Definitionsprozesse“,[7] weshalb dem Prozess der Deutung eine herausragende Stellung einnimmt. Oder anders ausgedrückt: „Ins Zentrum rücken mehr und mehr Gefährdungen, die für die Betroffenen oft weder sichtbar noch spürbar sind [... und] die der Wahrnehmungsorgane der Wissenschaft bedürfen – Theorien, Experimente, Meßinstrumente [sic] –, um überhaupt als Gefährdungen sichtbar, interpretierbar zu werden.“[8] In der Risikogesellschaft obliegt die Aufgabe der Deutung von Risiken also v. a. der Wis-senschaft, in erster Linie den Naturwissenschaften. Sie bestimmen bspw., welche Stoffe als gefährlich für Tier, Umwelt und Mensch einzustufen sind und bis zu welchen Belastungsgrenzen sie als hinnehmbar erscheinen. Dadurch kommt ihnen eine gesellschaftlich-politische Schlüsselposition zu.[9]
Diese Offenheit bei der Festlegung von Risiken führt dazu, dass eigene Werte und Interessen in den Prozess der Risikodefinition einfließen können. Deshalb gibt es in der Risikogesellschaft auch keine einheitlichen Interpretationen von Gefährdungen. Stattdessen stehen sich zahlreiche divergierende Definitionen der verschiednen Risiken gegenüber, die stark nach dem sozialen/kulturellen Standort und den Interessen der jeweiligen Wissenschaftler bzw. ihrer Auftraggeber variieren. Es kommt zu einer konfliktvollen Pluralisierung und Definitionsvielfalt von Zivilisationsrisiken, zu einer „Überproduktion von Risiken, die sich teils relativieren, teils ergänzen, teils wechselseitig den Rang ablaufen. Jeder Interessenstandpunkt versucht sich mit sich mit Risikodefinitionen zur Wehr zu setzen und auf diese Weise Risiken, die ihm selbst ins Portemonnaie greifen, abzudrängen.“[10] Es kommt also zu einer gewissen Instrumentalisierung des Risikos, wenn bspw. große Unternehmen versuchen, mit dem Verweis auf andere Risikoproduzenten von ihren selbst geschaffenen Gefährdungen abzulenken. Das macht es laut Beck auch nahezu unmöglich, einen alleinigen Akteur für ein bestimmtes Risiko verantwortlich zu machen. In der Risikogesellschaft gibt es daher keinen individuellen Schuldigen: Jeder ist verantwortlich und auch wieder keiner.[11]
Zusammenfassend lässt sich hierzu also sagen, dass in der Risikogesellschaft nur das zum Risiko werden kann, was von den dafür vorgesehenen Definitionsinstanzen – das sind in besonderem Maße die Naturwissenschaften in Verbindung mit Politik und Wirtschaft – auch als solches definiert wird. Dabei stehen sich zahlreiche verschiedene Interpretationen von Risiken gegenüber, die häufig miteinander in Konkurrenz stehen. Ob ein Risiko innerhalb einer Gesellschaft auch wirklich zu einer handlungsbestimmenden Größe wird, hängt letztendlich aber auch davon ab, ob es von der Bevölkerung anerkannt wird. Wie schon bei der Definition spielen auch bei diesem Anerkennungsprozess soziokultureller Standort und Interessenlage eine große Rolle, in diesem Fall jedoch nicht die der Definitionsinstanzen, sondern die der übrigen Gesellschaftsmitglieder.[12]
[...]
[1] http://diegesellschafter.de/index.php?z1=1245241452&z2=6e83a44498a5a4794dac3dd2fce6416e& (Zugriff 18.06.2009)
[2] Zahlreiche Soziologen bezeichnen Konzepte wie die Risikogesellschaft, welche (lediglich) die Beschaffenheit heutiger bzw. moderner Gesellschaften beschreiben und zu erklären versuchen, jedoch nicht als Gesellschaftstheorien, sondern als Gegenwartsdiagnosen (z. B. Uwe Schimank und Ute Volkmann), als Gesellschaftsbegriffe bzw. Konzepte moderner Zeitdiagnosen (z. B. Georg Kneer, Armin Nassehi und Markus Schroer) oder als Gesellschaftskonzepte (z. B. Armin Pongs).
[3] Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt am Main 2007. S. 29.
[4] Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main 1986. S. 28 f.
[5] ebd., S. 29.
[6] Vgl. Beck 1986, a. a. O., S. 28 ff.
[7] ebd., S. 30.
[8] ebd., S. 35.
[9] Dies wird von Beck durchaus kritisch betrachtet. Die Durchschnittswerte von Schadstoffen (bspw. von Blei), die in bestimmten Regionen festgestellt und häufig als unbedenklich eingestuft werden, sagen noch lange nichts aus über die tatsächliche Belastung des Einzelnen. Hier liegt nach Becks Ansicht ein elementarer Fehler im Umgang mit Risikomessungen vor. Diese sollten nicht rein in naturwissenschaftlichen Kategorien stattfinden, sondern auch und vor allem beim einzelnen Menschen ansetzen.
[10] Beck 1986, a. a. O., S. 40.
[11] Vgl. Beck 1986, a. a. O., S. 40 ff.
[12] Vgl. ebd., S. 45.
- Arbeit zitieren
- Michael Neureiter (Autor:in), 2009, Ulrich Becks "Die Risikogesellschaft". Besprechung des Konzeptes, Kontext und Kritik in der Analyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136787