Die Industrialisierung der böhmischen Länder

Ein Vorzeigemodell der Habsburgermonarchie


Seminararbeit, 2008

27 Seiten, Note: Gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Böhmen – die „industrielle Nation“ der Donaumonarchie
1.1. Böhmens Stellung innerhalb der Monarchie

2. Ursachen für die Industrialisierung
2.1. Der Markt
2.1.1. Einwohnerentwicklung
2.2. Naturräumliche Begebenheiten und Verkehr
2.2.1. Straßen
2.2.2. Schifffahrt
2.2.3. Eisenbahn
2.3. Agrarische Grundversorgung
2.3.1. Die wichtigsten Erneuerungen
2.2.2. Die „zweite“ Revolution
2.4. Unternehmer und Kapital

3. Die Industrialisierung der einzelnen Sektoren:
3.1. Textilsektor
3.2. Die Montanindustrie
3.2.1. Kohlebergbau
3.2.2. Eisenerzeugung
3.4. Die Zuckerindustrie

4. Schlussbetrachtung

5. Literaturverzeichnis

Tabellenverzeichnis:

Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung der Habsburgermonarchie (Angabe in 1000)

Tabelle 2: Bevölkerungsentwicklung in den böhmischen Ländern und Cisleithanien 1851-1910

Tabelle 3: Bevölkerungsdichte in den böhmischen Ländern 1850/51 – 1910

Tabelle 4: Die zehn größten Städte in den böhmischen Ländern 1851 und 1910

Tabelle 5: Auswahl Anteil der Kronländer am Eisenbahnnetz 1912

1. Böhmen – die „industrielle Nation“ der Donaumonarchie

1526 fielen Böhmen[1], Mähren und Schlesien aufgrund eines Erbvertrages an Österreich, wo sie bis zum Auflösen der Donaumonarchie blieben. Hundert Jahre ist dies jetzt nun beinahe her und es ist nun kaum mehr vorstellbar, dass das heutige Tschechien vor nicht einmal Hundert Jahren die „industrielle Nation“ der Habsburger Monarchie gewesen sein soll, wo sich eine erstaunlich vielfältige Industrielandschaft entwickelte und die eine Vorreiterfunktion für andere Regionen übernahm.

Es war Böhmen, wo 1797 der Startschuss für die industrielle Revolution gegeben wurde, als Johann Josef Leitenberger in seiner Manufaktur in Cosmanos eine englische Spinnmaschine aufstellen ließ. Es war neben dem Wiener Becken und Vorarlberg hauptsächlich Böhmen, von wo sich die Ideen und das Wissen der maschinellen Fertigung zu verbreiten begannen. Kurz: Ganz Böhmen wurde Symbol für den wirtschaftlichen Fortschritt Österreich-Ungarns.

In dieser Arbeit möchte ich die günstige wirtschaftliche Ausgangslage der böhmischen Länder aufzeigen und die Voraussetzung für eine Industrialisierung Punkt für Punkt abhandeln. Behandelt werden die Fragen nach dem Markt und der Nachfrage, wobei die Einwohnerentwicklung und die Bevölkerungsdichte im Zentrum stehen. Anschließend daran wird die verkehrstechnische Erschließung der böhmischen Länder im Mittelpunkt stehen, gefolgt von der Frage nach der agrarischen Grundversorgung als meiner Meinung nach eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen der industriellen Revolution.

Der Schlusspunkt der Voraussetzungen wird den vorhandenen Unternehmern gewidmet, wobei gezeigt werden wird, dass das adelige Element bei Manufaktur- und Fabriksgründungen ein sehr großes gewesen ist.

Abschließend wird ein geraffter Überblick über die wichtigsten böhmischen Industrien geliefert, wozu die Textilbranche, die Montanindustrie und die Glas- und Zuckererzeugung zählten.

Ich möchte hier der Vollständigkeit halber noch erwähnen, dass auf weitere wesentliche Vorraussetzungen der Industrialisierung, wie die Rohstofflage oder das vorhandene Kapital, sowie andere wichtige Industriezweige, nicht oder nur am Rande eingegangen werden kann, da es sonst bei weitem den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Auch auf eine nähere Behandlung der Nationalitätenfrage zwischen Deutschen und Tschechen wird bewusst verzichtet.

1.1. Böhmens Stellung innerhalb der Monarchie

Die böhmischen Länder hatten eine Fläche von nicht ganz 80.000 km², was etwa einem Achtel der gesamten Monarchie (676.615 km²) entsprach. Damit war es knapp vor Galizien (78.000 km²) die größte Region Cisleithaniens. Zusammengesetzt war es aus dem Königreich Böhmen (Prag), der Marktgrafschaft Mähren (Brünn) und dem Herzogtum Ober- und Niederschlesien (Troppau). Die wirtschaftliche Leistung der Sudentenländer war beeindruckend, 1880 kam etwa 64 % der industriellen (mechanischen) Produktion aus ihrer Region, darunter 93,8 % der Schwarzkohlenförderung, 83,5 % der Gusseisenerzeugung, 75 % der Baumwollwaren, 80 % der Wollwaren, 75 % der chemischen Industrie und 92 % der Glaserzeugung.

Der Industrialisierungsprozess begann in den späten 1850er Jahren, doch schon zuvor konzentrierten sich große Teile der mechanischen Produktion auf die böhmischen Ländern, dabei jedoch vorerst hauptsächlich auf die deutschsprachigen Gebiete im Nordosten Böhmens und Mährens bis hin zum Teschener Schlesien, sowie auf die Städte Prag und Brünn. Für die erste vorwiegend auf die deutschsprachigen Gebiete beschränkte Industrialisierung gibt es diverse Gründe. Erstens war die karge Landschaft im Norden kaum für Landwirtschaft geeignet, ganz im Gegensatz zu den fruchtbaren Gegenden im Zentralraum oder Süden des Landes, wo überwiegend die tschechischsprachige Bevölkerung lebte. Während also die Bewohner im Norden schon seit jeher einer anderen Tätigkeit nachgingen bzw. nachgehen mussten, war in den ertragreicheren Gebieten dafür keine Notwendigkeit gegeben.

Zweitens war es nun kein Zufall, dass diese Randgebiete deutsch besiedelt waren, denn dies geschah im Zuge der „deutschen Ostsiedelung“ im Hochmittelalter und ist damals bewusst von den Obrigkeiten gesteuert worden, die sich durch mehr Land und Untertanen einen Machtzuwachs versprachen. Oft wurden so genannte „Anwerber“ in die damaligen dicht besiedelten Regionen des heutigen Deutschlands (Bayern, Franken, Schwaben und auch Schlesien) geschickt, um neben Bauern, die den bis dahin ungenutzten Boden roden und bestellen sollten, auch Handwerker, Kaufleute und Bergleute ins Land zu holen, um die wirtschaftliche Lage der Randgebiete zu verbessern, was wiederum mehr Reichtum für den Landesherrn bedeutete. So wurde etwa die Textilindustrie oft bewusst von den Obrigkeiten gefördert, weil wie gesagt in der kargen Landschaft außer Hanf kaum etwas wuchs. Eine dieser Familien war das Adelsgeschlecht der von Redern, die vor allem den Zuzug flämischer Leinenweberfamilien forcierte und damit Reichenberg im 16. Jahrhundert in ein Zentrum der Leinen- und Tuchmacherei verwandelte.[2] Bauern bekamen hingegen neben dem versprochenen Land auch viele Privilegien zugesprochen, wobei die versprochene Aufhebung der Leibeigenschaft jedoch am wichtigsten gewesen sein dürfte. Abgesehen von der persönlichen Freiheit, wurden eine zeitweilige Aufhebung der Abgabenpflicht sowie eine dörfliche Selbstverwaltung versprochen.

Die Bergleute, die neue Techniken und Werkzeuge von ihrer alten Heimat mitbrachten, siedelten sich vor allem um die Silberminen von Kuttenberg und Iglau an, wobei gerade erstere bald zu einer der größten und reichsten Städte Böhmens aufstieg und in seiner Bedeutung nur mehr von Prag übertroffen wurde.[3] Kaufleute und Handwerker wurden in den neugegründeten Siedlungen und Städten angesiedelt, wiewohl einige von ihnen auch nach Prag oder Brünn weiterzogen.[4]

Die Basis für Industrie und Gewerbe wurde also schon im ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit gelegt, wobei als Beispiel hier zwar Reichenberg angeführt ist, doch dasselbe gilt auch für andere Regionen und Städte der böhmischen Länder. Die lange Tradition des Gewerbes begünstigte später sicher – neben einer Vielzahl an anderen Faktoren – die frühe Industrialisierung dieser Regionen, die Böhmen insbesondere ab den 1850er Jahren zu einer der fortschrittlichsten Regionen, wenn nicht vielleicht auch sogar zu der fortschrittlichsten der Donaumonarchie machte.

Wirtschaftlich jedoch waren nicht alle Regionen Böhmens begünstigt, denn die frühe Industrialisierung bis zu den 1860er Jahren war zum größten Teil auf die vorwiegend deutschsprachigen Grenzbezirke von Nordwestböhmen bis nach Nordmähren und dem Teschener Schlesien sowie auf die Landeshauptstädte Prag und Brünn konzentriert. Dabei entwickelten sich neben der klassischen Textil- und Bergbauindustrie auch andere typisch deutschböhmische Leicht- und Konsumgüterindustrien, wie etwa die Glas-, Porzellan-, Papier-, Musikinstrument- und Spielzeugherstellung.

Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verlagerte sich der Schwerpunkt des Industrialisierungsprozesses in Böhmen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in Mähren, in die inneren tschechischsprachigen Landesteile. In der Schwerindustrie war zwar immer noch das deutsch- österreichische Kapital (vor allem der Wiener Banken), entscheidend, aber der Aufstieg der tschechischen Unternehmertätigkeit in der Nahrungsmittelindustrie, im Maschinenbau und in der Elektrotechnik war überraschend schnell und erfolgreich.

2. Ursachen für die Industrialisierung

2.1. Der Markt

Ein vorhandener Markt mit einer dazugehörigen Nachfrage ist vielleicht der Hauptmotor für das Entstehen einer Industrie. Ein Unternehmer hat immer das Ziel vor Augen, Gewinn zu machen und sichere Nachfrage garantiert ihm das. Garant für einen Markt sind natürlich viele Einwohner und darüber hinaus eine relativ hohe Bevölkerungsdichte, da dadurch ein Abnehmen der Waren sichergestellt wird.

2.1.1. Einwohnerentwicklung

a) Einwohnerentwicklung bis 1850

1754 betrug die Gesamtbevölkerung der Länder der böhmischen Krone 3.013.134, vor dem Verlust des Großteils an Schlesien ganze 3.809.000. Die Dichte lag bei 38,2 Einwohnern/km².

Um 1790 verzeichnete man schon 4,5 Millionen Einwohner, das entsprach etwa einen Fünftel der Gesamtmonarchie (22 Mio.). 1848 lebten 6.788.916 Menschen in den Sudetenländern, was einem Zuwachs von mehr als ein Drittel oder knappe 0,67 % pro Jahr bedeutete. Der Anteil an der Gesamtbevölkerung der Monarchie (31 Mio.) hat sich dabei nur unwesentlich geändert.[5] Dieses Wachstum war beträchtlich, wiewohl das benachbarte Königreich Sachsen einen jährlichen Zuwachs von 1,39% verzeichnete.[6]

Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung der Habsburgermonarchie (Angabe in 1000)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Bruckmüller, Sozialgeschichte, S. 288.

Wie in der Tabelle ersichtlich, verzeichneten die böhmischen Länder den größten Bevölkerungszuwachs, wobei es jedoch generell in den nördlichen und östlichen Teilen der Monarchie zu einer höheren Bevölkerungszunahme als in den südwestlichen Gebieten kam. Dafür findet der Sozialhistoriker Bruckmüller folgende 3 für die jeweiligen Regionen unterschiedlichen Ursachen: Erstens ist sie zum Teil sicher noch auf die theresianisch-josephinische Kolonisation zurückzuführen, zweitens auf eine schnelle industrielle Entwicklung (besonders der böhmischen Länder) und drittens spielt eventuell auch das unterschiedliche Heiratsverhalten eine Rolle: In den Alpenländer war ein höheres Heiratsalter und niedrigere Kinderzahlen üblich, während in Galizien, der Bukowina aber auch im östlichen Ungarn ein niedrigeres Heiratsalter und viele Kinder üblich waren.[7]

b) Einwohnerentwicklung 1851-1914

1851 lebten in der Cisleithanischen Reichshälfte 17,9 Mio. Menschen, in den böhmischen Ländern 6,7 – also ein knappes Drittel. Dieser Anteil blieb, wie aus der folgenden Tabelle ersichtlich, bis zum Beginn des Erstens Weltkrieges relativ konstant.

Tabelle 2: Bevölkerungsentwicklung in den böhmischen Ländern und Cisleithanien 1851-1910

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur, Gesundheits- und Fürsorgewesen in Österreich 1750-1918, Wien 1978, Tabelle 3.

Der Bevölkerungszuwachs betrug in den böhmischen Ländern von 1851-1910 knappe 60 %. Dies ist in dem Sinne erstaunlich, weil gerade Böhmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von großen Abwanderungswellen betroffen war. 1857-1869 emigrierten 260.000 Menschen, von 1870-1880 weitere 120.000. Diese hohen Verluste, vielerorts bedingt durch einen Mangel an Vollarbeitsstellen,[8] konnte Böhmen nur durch einen Geburtenüberschuss ausgleichen, was eine gleichmäßige Bevölkerungsentwicklung garantierte. Der Geburtenüberschuss resultierte aus einer gleich bleibenden Geburtenziffer und einer sinkenden Sterberate, wiewohl die Sterblichkeit in einigen Jahren bedingt durch Krisen und Kriege (1855, 1866, 1872/73) überdurchschnittlich hoch war.

Faktoren für ein Sinken der Sterberate waren die bessere medizinisch-hygienische Versorgung (vor allem ab den 1890er-Jahren) einerseits und die Fortschritte im landwirtschaftlichen Sektor andererseits, die eine bessere Ernährungslage boten. Dies kam aber zuerst und hauptsächlich nur Personen mittleren Alters zu Gute, denn die Säuglingssterblichkeit blieb bis in die 1870er Jahre, wo sie erstmalig auf unter 200 ‰ gesenkt werden konnte, konstant bei 250-300 ‰, wobei die Sterblichkeit der unehelich geborenen Kinder noch bei 400 ‰ lag.[9]

[...]


[1] So gesagt Heinrich Benedikt, zit. nach: Herbert Hassinger, Die Anfänge der Industrialisierung in den böhmischen Ländern (Bohemia 2), Oldenburg 1961, S. 179.

[2] Stadt Augsburg, Liberec, http://www2.augsburg.de/index.php?id=231 [01.09.08].

[3] Kuttenberg wurde im 15. Jahrhundert das „Opfer“ der Hussitenkriege, wo es mehrmals von Hussiten geplündert und gebrandschatzt wurde, was zu einem großen Abwandern der Bevölkerung – meist Deutsche – führte.

[4] Heinrich Appelt, Deutsche Ostsiedlung im Mittelalter und Neuzeit (Studien zum Deutschtum im Osten ), Böhlau 1972.

[5] Vgl. Zahlen: Arnošt Klima, Die Länder der böhmischen Krone 1648-1850. Band 4 von Wolfram Fischer ua. (Hg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 4, Stuttgart 1993, S. 688-719, hier S. 694-696.

[6] Durchschnitt von 1790-1871, aus Hubert Kiesewetter, Industrialisierung und Landwirtschaft, Sachsens Stellung im regionalen Industrialisierungsprozess Deutschlands im 19. Jahrhundert, Köln-Wien 1988.

[7] Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, München 1985, S. 287.

[8] Karl M. Brousek, Die Großindustrie Böhmens, 1848-1918 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 50), München 1987, S. 171f.

[9] Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Österreichische Geschichte, hrsg. von Herwig Wolfram), Wien 1995, S. 208f und 261; sowie Franz Mathis, Unter den Reichsten der Welt – Verdienst oder Zufall? Österreichs Wirtschaft vom Mittelalter bis heute, Innsbruck 2007, S. 85.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Die Industrialisierung der böhmischen Länder
Untertitel
Ein Vorzeigemodell der Habsburgermonarchie
Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck  (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte)
Veranstaltung
Ohne Urbanisierung kein Industrialisierung
Note
Gut
Autor
Jahr
2008
Seiten
27
Katalognummer
V137931
ISBN (eBook)
9783640464692
ISBN (Buch)
9783640461844
Dateigröße
514 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Industrialisierung, Länder, Vorzeigemodell, Habsburgermonarchie
Arbeit zitieren
Elisabeth Mayr (Autor:in), 2008, Die Industrialisierung der böhmischen Länder, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/137931

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