Bei sich selbst zu Hause sein - Reflexionen zum Phänomen AD(H)S im Lichte körperorientierter Therapiewege


Bachelorarbeit, 2007

49 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

1 Klärung der Problemstellung. Eingrenzung. Erkenntnisinteresse

2 Was ist AD(H)S?
2.1 Symptomatik des AD(H)
2.2 AD(H)S als Krankheit: Das biopsychosoziale Modell zur Entstehung von AD(H)S nach Döpfner et al
2.3 „Generation AD(H)S“? – Daten zur Prävalenz von AD(H)
2.4 AD(H)S als Verhaltensstörung: AD(H)S ist erlerntes Verhalten
2.5 AD(H)S als Zuschreibung: Durch Etikettierungsprozesse produziert?
2.5.1 Das soziologische Konzept des labeling approach
2.5.2 AD(H)S – Ein Etikett?
2.6 Wie kommt es zur Diagnose AD(H)S?
2.7 Innehalten und Zusammenschau: Was ist AD(H)S?

3 Was brauchen Kinder mit AD(H)S-Diagnose? Pädagogische Zielvorstellung für den Umgang mit hyperaktiven Kindern
3.1 Zieldimension: Personale und soziale Integration
3.2 Zieldimension: Risikofaktoren schwächen, protektive Faktoren stärken
3.3 Zieldimension: Neue Lernerfahrungen ermöglichen
3.4 Zieldimension: Die Disposition der Erwachsenen
3.5 Zusammenfassung. Oder: Bei sich selbst zu Hause sein

4 Körperorientierte Therapiewege
4.1 Warum körperorientierte Interventionen?
4.1.1 Körperliche Ausdrucksweisen des AD(H)
4.1.2 Mögliche Effekte psychomotorischer Therapiewege
4.2 Hatha-Yoga: Eine Interventionsmöglichkeit für Kinder mit AD(H)
4.3 Kampfkünste: Sportarten mit therapeutischem Zusatzwert
4.4 Erlebnispädagogische Perspektiven

5 Konsequenzen für den pädagogischen Umgang mit dem Phänomen AD(H)S

6 Bei sich selbst zu Hause sein. Ziel verantwortlicher Pädagogik

Literaturverzeichnis

Erklärung

1 Klärung der Problemstellung. Eingrenzung. Erkenntnisinteresse

„If men define situations as real,

they are real in their consequences“

Thomas-Theorem

Hyperkinetische Störung (HKS), Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) mit Hyperaktivität (ADHS), Attention Deficit Disorder (ADD) with Hyperactivity (ADHD), Minimale cerebrale Dysfunktion (MCD) – allein die verschiedenen Bezeichnungen für ein Phänomen zeigt wie vielfältig und schwer abgrenzbar AD(H)S ist. Allein die Frage, ob bei AD(H)S eine Krankheit vorliegt oder ob es sich vielmehr um ein Syndrom, also ein Bündel von Verhaltensweisen mit gleicher Ursache bzw. in gehäuftem Auftreten, handelt, ist ungeklärt. Im Wesentlichen bezeichnet der Terminus AD(H)S Verhaltensauffälligkeiten wie motorische Unruhe, Konzentrationsschwäche, Unaufmerksamkeit und hohe Ablenkbarkeit, Reizbarkeit und Launenhaftigkeit, gestörte Feinmotorik und Koordinationsschwierigkeiten, erhöhte Sensibilität und distanzloses Verhalten, Überforderung in der Einordnung von außen kommender Reize und Gefühlsausbrüche.

Über die Entstehung der AD(H)S gibt es viele verschiedene – nicht immer valide – Hypothesen. Die Flut von Publikationen zu diesem Thema, die hohe Emotionalität der Diskussion und die Präsenz des Themas in den Medien und der pädagogischen Fachliteratur erscheinen wie ein Dickicht zugespitzter und unversöhnter Positionen.

Dennoch: Die Frage, ob es AD(H)S gibt, kann beantwortet werden: Es gibt Kinder, aber auch Erwachsene, die mit dieser Diagnose belegt werden. Das Phänomen ist deshalb real – und gemäß dem Thomas-Theorem damit in seinen Folgen real. Welche der Herangehensweisen an das Phänomen „richtig“ ist, welche Hypothesen gesichert sind und welche Entwicklung die Forschung nehmen wird, bleibt ungeklärt.

Diese Arbeit geht den Weg durch dieses Dickicht mit einer klaren Akzentuierung: AD(H)S betrifft zunächst einmal die Beobachtung eines bestimmten Verhaltens, das sich auf der körperlichen Ebene manifestiert. Nach einem breiten Zugang zu einer Definition des AD(H)S werden körperorientierte Therapieverfahren in ihrer Relevanz für pädagogisches Handeln im Umgang mit der Diagnose AD(H)S beleuchtet.

Ich stelle in dieser Arbeit zunächst drei verschiedene Herangehensweisen an eine Definition von AD(H)S vor. Die Darstellung und Reflexion der jeweiligen Definitionsweise ist wichtige Grundlage für die im zweiten Schritt entworfene pädagogische Zielvorstellung für den pädagogischen Umgang mit hyperaktiven Kindern. Theoretisch gestützt wird diese Vorstellung vom Konzept der Normalisation nach Montessori und sozialisationstheoretischen Bezügen. Mein Interesse gilt in einem dritten Schritt kind- und körperorientierten Interventions- und Begegnungs-möglichkeiten mit dem Phänomen AD(H)S. So stelle ich im Kapitel 4 zum einen eine Begründung für körperorientierte Therapieverfahren dar und zum anderen drei exemplarische, pädagogisch relevante, Begegnungsmöglichkeiten mit dem Phänomen AD(H)S. Zum Ende ziehe ich aus den gewonnenen Einsichten pädagogische Konsequenzen: Wie kann Pädagogik verantwortlich auf das Phänomen AD(H)S reagieren?

2 Was ist AD(H)S ?

2.1 Symptomatik des AD(H)S

Das Kürzel AD(H)S bezeichnet eine meist chronische psychische Störung, die vor dem Alter von 6 Jahren und in mehreren Lebensbereichen des Kindes, also z.B. in Kindergarten und Familie u.U. in unterschiedlicher Intensität auftritt. Nach Döpfner et al. 2000 u.a. kann von AD(H)S gesprochen werden, wenn die Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Aktivität sich als mindestens über sechs Monate hin stabil erweist und in einem Ausmaß auftritt, das zu einer Fehlanpassung des Kindes an die Umwelt führt und das dem Entwicklungsstand des Kindes nicht angemessen ist.[1]

Die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV definieren die Kriterien für die Diagnose „Hyperkinetische Störung“, die je nach Gewichtung der beim Kind festgestellten Symptome differenziert wird (vgl. Döpfner et al. 2000, 2f). Die Symptome können sich zurück entwickeln und zeigen sich bei Jugendlichen häufig nicht mehr in diagnosenotwendiger Anzahl und/oder Kombination (partielle Remission). Nach Skrodzki 2001b, 29 verschwindet die Hyperaktivität sogar „meist in der Pubertät oder reduziert sich so weit, dass sie nicht mehr auffällig ist“.

Die Aufmerksamkeitsstörung bleibt allerdings weiter bestehen. Häufig ist AD(H)S schwer abzugrenzen und erfordert eine Differentialdiagnose, die andere körperliche und psychische Störungen, sowie Entwicklungsstörungen ausschließt. Die wenigsten der gezeigten Verhaltensweisen sind an sich pathologisch. Sie gehen in ihrem Ausmaß und ihrer Intensität aber weit über den Durchschnitt hinaus (vgl. Wender 1976, 10). Neben den Kernsymptomen Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität (im Sinne einer motorischen Überaktivität) und Impulsivität treten weitere, komorbide Störungen auf, die für die Entwicklung des Kindes Risikofaktoren darstellen: Oppositionelle Störung des Sozialverhaltens, affektiv-emotionale (v.a. depressive) Störungen, Lern- bzw. Teilleistungsstörungen (vgl. Döpfner et al. 2000, 7ff.) wie Legasthenie und Dyskalkulie. Nach Altherr 1993, 12 gehören zu diesen sekundären Störungen auch die Distanzlosigkeit im Umgang mit anderen Menschen, die zu Ablehnung und u.U. sozialer Isolation führen können. Auch sei eine „kognitive Beeinträchtigung (...) üblich, die sich besonders auf die schulische Leistungsfähigkeit auswirkt.

Spezifische Verzögerungen in der motorischen sowie der sprachlichen Entwicklung sind überproportional häufig zu finden. Begleitende Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten und motorische Koordinationsprobleme sind weit verbreitet.“ Die sozialen Schwierigkeiten und die Unfähigkeit das eigene Verhalten zu verstehen und/oder zu verändern, führen zu einem erniedrigten Selbstwertgefühl beim Kind. Zu diesem Aspekt und zur stärker körperorientierten Symptomatik des AD(H)S mehr in Kapitel 4.1.1.

2.2 AD(H)S als Krankheit: Das biopsychosoziale Modell zur Entstehung von AD(H)S nach Döpfner et al.

Das von Döpfner et al. postulierte biopsychosoziale Modell (vgl. Döpfner et al. 2000, 15) zur Entstehung von AD(H)S ist einem medizinischen Paradigma verpflichtetet und kann den gegenwärtigen medizinischen common sense (vgl. Bundesärztekammer 2005) vertreten.

Das biopsychosoziale Modell geht auf der neuropsychologischen bzw. biochemischen Ebene davon aus, dass aus einer genetischen, den Hirnstoffwechsel verändernden, Disposition heraus (unter eventueller Beteiligung allergischer Reaktionen auf Nahrungsmittelzusätze und/oder erworbener Hirnschädigungen) eine Störung der Selbstregulation des Menschen entsteht, die wiederum die hyperkinetischen Kernsymptome verursacht. Dieses hyperkinetische Verhalten beeinflusst die Interaktionssituationen des Kindes mit seiner Umwelt (Eltern, Erziehern und Gleichaltrigen) negativ, was schließlich in Kombination mit ungünstigen familiären und/oder schulischen Bedingungen zu komorbiden Symptomen führen können, die ihrerseits wieder zu negativen Interaktionen führen (vgl. Döpfner et al. 2000, 15). Die Forschergruppe identifiziert verschiedene Risikofaktoren für einen negativen Verlauf der Krankheit und ebenso protektive Faktoren, die die Remission der Symptome im Entwicklungsverlauf begünstigen (vgl. ebd., 16ff). Nach Döpfner et al. 2000, 9ff entsteht das klinische Bild der Hyperkinetischen Störung durch die Wechselbeziehung psychosozialer und biologischer Faktoren, wobei den biologischen Faktoren eine größere Mächtigkeit zugewiesen werden kann (vgl. ebd., 2000, 16).

Dieser Definitionsansatz von AD(H)S steht exemplarisch für ein medizinisches Paradigma, das die ernstzunehmende fachwissenschaftliche Diskussion zum Thema AD(H)S prägt: Das Verhalten des Kindes wird auf neurologische, also biologische Gründe zurück geführt, innerhalb der medizinischen Sphäre untersucht und bewertet. Das Kind, wird zum Objekt medizinischer Methoden und Settings, das Verhalten des Kindes wird, zumindest scheinbar, reduziert auf beobachtbare „harte“ Fakten. Die Frage nach dem Sinn des Verhaltens, die Wahrnehmung von Verhalten als Ausdruck der inneren Wirklichkeit der Person, unterbleibt.

2.3 „Generation AD(H)S“? – Daten zur Prävalenz von AD(H)S

AD(H)S ist nach Skrodzki 2001b, 29 und anderen „die häufigste kinderpsychiatrische Diagnose“. Nach Angaben der Bundesärztekammer 2005b sind „etwa 3-5% (300.000 - 500.000) der Kinder und Jugendlichen in Deutschland (…) von AD(H)S betroffen“. Dabei sind Jungen „gegenüber Mädchen zwei- bis viermal häufiger betroffen“, wobei bei Mädchen häufiger die Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität zu finden ist.

Zur Frage, ob AD(H)S in den letzten Jahren zugenommen hat, positioniert sich die Bundesärztekammer 2005b wie folgt:

„Verschiedene Untersuchungen weisen aus, dass AD(H)S in den letzten Jahren keinesfalls zugenommen hat. Allerdings ist die Wahrnehmung des Phänomens in Medien und Gesellschaft deutlich gestiegen und hat daher mancherorts zu dem Eindruck geführt, dass AD(H)S häufiger geworden sei; eventuell weisen heutzutage mehr Kinder mit AD(H)S eine psychosoziale Beeinträchtigung auf, weil sie einerseits höheren Leistungsanforderungen (z.B. Schule) genügen müssen und es gleichzeitig an manchen äußeren Strukturhilfen (z. B. kompetente Erziehung) mangelt. Genauere Untersuchungen dazu stehen noch aus.“

Folgt man dieser Bestandsaufnahme, entsteht ein Fragehorizont, der den medizinischen Fokus in einen soziologischen und pädagogischen überführt und der handlungsweisend sein muss für die Suche nach einem pädagogisch verantworteten Umgang mit Kindern, die Symptome des AD(H)S zeigen: Warum ist das Interesse der Öffentlichkeit am Phänomen AD(H)S heute besonders groß – gab es den „Zappelphillip“ doch schon vor langer Zeit? Welche Gründe gibt es für die (angebliche) Zunahme an inkompetenter Erziehung? Wie ist dieses Phänomen in die Problemlagen einer individualisierten Gesellschaft einzuordnen? Schließlich: Welches sind die sozialen und kulturellen Faktoren, die das Auftreten von AD(H)S begünstigen? Wird die in der Öffentlichkeit so präsente Diagnose vielleicht häufiger vergeben als es angemessen und fachwissenschaftlich vertretbar ist? Ist die Diagnostik wirklich valide oder verweben sich in die medizinische Diagnose HKS pädagogische und soziale Phänomene? Ist AD(H)S vielleicht nicht nur eine medizinische, sondern auch eine pädagogische Diagnose, die nicht unbedingt das gleiche meint? Und: Unterliegt diese pädagogische Diagnose vielleicht häufiger subjektiven Bedingungen und Etikettierungsprozessen als es gut wäre?

Diese Anfragen legen nahe, auch von anderer Seite her zu fragen, was AD(H)S ist.

2.4 AD(H)S als Verhaltensstörung: AD(H)S ist erlerntes Verhalten

Nach Petermann 1995, 23 ist die Hyperkinetische Störung die am häufigsten diagnostizierte Verhaltensstörung. AD(H)S wird als eine externalisierte Störung verstanden, in deren Rahmen das Kind durch sein nach außen und auf andere gerichtetes Verhalten sich selbst in seiner Entwicklung und anderen schadet (vgl. ebd. 20). Aus einer entwicklungsbedingten Störung differenzieren sich Verhaltensweisen aus, die als sekundäre Symptome begriffen werden können. Diese erlernten Verhaltensweisen verhindern Erfolgserlebnisse und beschränken die Handlungsalternativen des Kindes auf ein hyperaktives, impulsives und unaufmerksames Verhalten. Die mit diesem Verhalten gemachten konkreten Erfahrungen des Kindes mit Erziehern und Gleichaltrigen werden generalisiert und so auf viele Alltagssituationen und Personen übertragen: Das „gestörte“ Verhalten wird verstärkt und stabilisiert sich.

Betrachtet man in dieser Weise AD(H)S lerntheoretisch als Verhaltensstörung, kann davon ausgegangen werden, dass ausgehend von einer Störung der Körperfunktion (z.B. des Hirnstoffwechsels) gestörtes Verhalten das Ergebnis eines im Verlauf der Sozialisation erworbenen und durch psychosoziale Risikofaktoren begünstigten Lernprozesses ist. Für die Suche nach einem pädagogisch verantworteten Umgang mit AD(H)S ist festzuhalten, dass eine Verhaltensstörung prinzipiell durch neue Lernerfahrungen aufhebbar ist.

Benkmann 1992, 17 betont einen weiteren Aspekt des Begriffs der Verhaltensstörung. So bezeichnet würden Verhaltensweisen, die in signifikanter Weise von den normativen Umwelterwartungen abwichen und dabei sowohl den Toleranzbereich der relevanten Bezugsgruppe überschritten als auch das Wohlbefinden der an der Interaktion beteiligten Personen einschränkten. Bemerkenswert daran ist, die Abhängigkeit einer Diagnose Verhaltensstörung vom konkreten sozialen Kontext mit den normativen Erwartungen und Toleranzbereichen der Erziehenden und der Gleichaltrigen. Deutlich wird, dass das Prädikat „gestört“ in einem nicht unerheblichen Maße subjektiven Bedingungen unterliegt und nicht ausschließlich aus dem objektiven Verhalten des Kindes abgeleitet werden kann. So geht es im Eigentlichen um die soziale Akzeptanz des kindlichen Verhaltens.

Die Betrachtung von AD(H)S als erlerntes Verhalten erweitert die bereits beschriebene medizinische Definition des Phänomens und eröffnet so einen weiteren Zugang zur Problematik. Die Frage nach der Ätiologie wird hier lerntheoretisch und somit verhaltenspsychologisch beantwortet.

Ich möchte nun aus soziologischer Perspektive nach dem Phänomen AD(H)S fragen. Das ist notwendig, weil zum einen z.B. durch Benkmann auf die normativen Erwartungen der Bezugsgruppe – gleichsam der Verkörperung der Gesellschaft im Leben des Kindes – verwiesen wird und weil zum anderen zahlreiche Indizien in der öffentlichen Diskussion um das Phänomen AD(H)S auf das Vorhandensein von Etikettierungsprozessen hinweisen.

2.5 AD(H)S als Zuschreibung: Durch Etikettierungsprozesse produziert?

2.5.1 Das soziologische Konzept des labeling approach

Etikettierung „befasst sich mit dem Prozess der Situationsdefinition

durch die soziale Umwelt sowie

mit dessen Auswirkungen auf das Selbstkonzept und

die Identität des bzw. der Betroffenen“ (Stiksund 1991, 6)

Das labeling approach ist eine Perspektive, die auf das Phänomen der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit blickt. Ihr Grundgedanke ist, dass abweichendes Verhalten keine Qualität aktuell gezeigten Verhaltens ist, sondern dass die Bezeichnung „deviant“ vielmehr von sozialen Institutionen (z.B. Kindergarten und Schule) in Gestalt von Akteuren (z.B. der Erzieher und Lehrer) gleichsam als Etikett auf die gesamte Person eines sich verhaltenden Akteurs „aufgeklebt“ wird. Verhalten wird immer anhand gesellschaftlich gültiger Normen bewertet. Normen sind im Sinne des interaktionistischen Paradigmas, dem das labeling approach zuzurechnen ist, nicht objektiv vorgegeben, sondern werden in der Interaktion von Akteuren immer wieder neu vereinbart bzw. von normativ Mächtigen gesetzt. Normen sind die Regeln dieser Interaktion, sie bestimmen die Definition und die Interpretation der Situation.

Das Wissen um diese Regeln, an denen gezeigtes Verhalten gemessen wird, gehört zu einem pragmatischen Alltagswissensbestand, der prinzipiell allen zugänglich ist. Es wird jedoch nicht nur das konkrete und im Moment objektiv beschreibbare Verhalten bewertet. Auch die subjektiven, aus dem Alltagswissen abgeleiteten Annahmen über die Motivation dieses Verhaltens sind Gegenstand einer generalisierenden Interpretation.

Die subjektiven Mutmaßungen des normativ Mächtigen werden zum Teil des bewerteten Verhaltens – auch und gerade dann, wenn es in der objektiven Wirklichkeit dazu keine Entsprechung gibt.

„Vertreter des labeling approach betonen, daß die formelle Etikettierung als ‚deviant’ für die davon Betroffenen die Versetzung in einen niedrigeren Status bedeutet (...). Sie beschreiben, wie die erfolgreiche Zuschreibung des Attributs ‚deviant’ zur Unterstellung anderer unerwünschter Attribute führt, die angeblich damit verbunden sind “ (Trabandt 1975, 40). Zur vollzogenen Etikettierung gehört die Veröffentlichung der Typisierung: Andere Interaktionspartner erfahren von der Verhaltensinterpretation durch den normativ Mächtigen. Die Interaktionssituationen des Akteurs und seine Handlungsspielräume verändern sich durch diese veröffentlichte Etikettierung, denn alle weiteren Handlungen erscheinen von nun an in einer neuen Perspektive: Die Wahrnehmung und die Bewertung des Verhaltens verändert sich generell und setzt so die Objektivität von Verhaltensbeobachtung weiter herab.

Der Akteur übernimmt im Laufe weiterer Interaktionsprozesse die Zuschreibung in sein Selbstbild: Es kommt zu einer Anpassung des Verhaltens an dieses neue deviante Selbstbild („selffullfilling prophecy“).

2.5.2 AD(H)S – Ein Etikett?

Im Blickwinkel des labeling approach erscheinen die Erziehenden als institutionell Mächtige am devianten Verhalten entscheidend beteiligt. Den Alltagswissensbeständen von Erziehenden ist deshalb besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Aus ihnen, den anerkannten, jedoch nicht reflektierten Wissensbeständen über den Umgang mit Kindern, deren Wesen und Motivation und dem „Normalsein“, speisen sich Erwartungen an Kinder, die normativen Charakter haben und die die Interaktion bestimmen. Ein AD(H)S-Kind erfüllt diese Erwartungen zu einem großen Teil nicht, sein objektives Verhalten irritiert den Erziehenden. Dieser interpretiert und bewertet das Verhalten und vergibt u.U. das Etikett AD(H)S bzw. hyperaktiv. Im pädagogischen Umgang tritt zunehmend das objektiv beobachtbare Verhalten in den Hintergrund. Subjektive Annahmen treten gleichberechtigt hinzu.

Diese Annahmen bestimmen die Reaktion der Erziehenden und damit die Interaktionssituationen zwischen AD(H)S-Kind und Pädagogen. AD(H)S ist keine objektiv messbare Erscheinung, sondern eine Bezeichnung, die innerhalb eines bestimmten sozialen Kontextes Gültigkeit hat (vgl. Hillenbrand 1999, 65). Im Verlauf des Sozialisationsprozesses übernimmt das Kind das ihm durch die interaktiven Reaktionen vermittelte Etikett in sein Selbstverständnis.

Die Diagnose AD(H)S kann demnach ein gezeigtes hyperaktives Verhalten des Kindes auf dessen ganze Person wie auch auf die Gesamtheit des kindlichen Verhaltens generalisieren und somit im Interaktionsprozess wiederum hyperaktives Verhalten erzeugen. In gewisser Weise erschafft sich AD(H)S also selbst.

2.6 Wie kommt es zur Diagnose AD(H)S?

Für Döpfner et al. 2000, 38 steht im Zentrum der Diagnostik die „Exploration der Eltern, des Kindes/Jugendlichen und der Erzieher/Lehrer“. Die dabei erhobenen Informationen sind die Grundlage einer eventuellen Diagnose AD(H)S. Standardisierte Fragebögen für die Eltern, das Kind und die Erzieher bzw. Lehrer, Testverfahren zu Entwicklungsstand und Intelligenz sowie neurologische Untersuchungen haben nach Döpfner et al. 2000, 38 nur optionalen Charakter. Dabei ist mit Eisert 1981, 261 festzustellen, dass der „Kliniker (...) gezwungen (ist), da, wo es nicht um neurologische und physiologische Daten geht, diagnostische Schlüsse aus Informationen vorwiegend anderer und einem sehr beschränkten, oft nicht typischen Verhaltenssegment zu ziehen, das ihm das Kind in der Klinik (oder der Sprechstunde – hkr) bietet.“ Dem Arzt stehen also vorwiegend die Berichte der Eltern, Pädagogen und Kinder zur Verfügung, die der Arzt mit den Diagnosekriterien nach ICD-10 und DSM-IV abgleicht und anhand derer er eine Diagnose stellt.

Die Interpretation der im Gespräch erhobenen Informationen geschieht jedoch nicht nur anhand objektiver Kriterien: Der Arzt bedient sich in seiner Diagnostik wohl auch an Alltagstheorien (vgl. Eisert 1981, 276), die gezeigtes Verhalten interpretieren und als Eigenschaft dem Kind zuschreiben. In der kinderärztlichen Praxis wird so die Komplexität des AD(H)S reduziert.

Ein weiter kritischer Aspekt des Diagnoseprozesses bei AD(H)S ist, dass die Aussagen der Eltern und Lehrer bereits durch subjektive Wertungen geprägt sind, deren Gewordensein in einem ärztlichen Interview jedoch nicht zur Diskussion stehen. Wohl werden nach den Leitlinien von Döpfner et al. 2000 vielfältige Sektionen im differentialdiagnostischen Interesse abgefragt: Die Erträglichkeitsschwelle der Erwachsenen, die realen Bedingungen in Schule und Elternhaus und nicht zuletzt die Beweggründe des Kindes, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, können jedoch in der Form des Interviews nicht thematisiert werden. Risikofaktoren und Aspekte einer provozierenden Umwelt können im Interview nicht erhoben werden. Der Diagnostiker ist mit vielfältigen normativen Wirklichkeitskonstruktionen konfrontiert, die eine objektive Diagnostik unmöglich zu machen scheinen.

Im Diagnoseprozess von AD(H)S liegt in den Explorationen ein hohes Potential für Etikettierungsprozesse. Es kommt auf die Selbstreflexionsfähigkeit von Arzt und Erziehenden an, das eigene Normverständnis und die eigene Erträglichkeitsschwelle kritisch zu hinterfragen und der Etikettierungsgefahr nicht zu erliegen. Sinnvoll erscheint ein empathisch verstehender, Sinn suchender und (re-)konstruierender Zugang zum Verhalten des Kindes und die Bereitschaft zur Selbstreflexion der Erwachsenen.

„Die Exploration des Kindes/Jugendlichen bezieht auch die Verhaltensbeobachtung des Kindes/Jugendlichen während der Exploration und während anderer Untersuchungen (...) sowie seine psychopathologische Beurteilung mit ein.“ (Döpfner et al. 2000, 39).

Eisert 1981 weist jedoch darauf hin, dass das hyperkinetische Verhalten des Kindes gerade in Untersuchungssituationen nicht auftritt, denn „in der für es neuen Situation verhält sich das Kind nicht hyperaktiv, Mutter und Kind gehen nicht wie gewohnt miteinander um“ (ebd, 258). Die Identifikation der das hyperkinetische Verhalten provozierenden Faktoren unterbleibt im ärztlichen Diagnoseprozess, es scheint sogar, dass die Einzelzuwendung durch den Diagnostiker das hyperkinetische Verhalten beruhigt und reguliert. Beobachtbar wird hyperkinetisches Verhalten häufig erst in der Gruppensituation: „Daher sind Beobachtungen im realen Umfeld des Alltags, wie zu Hause oder in der Schule, diagnostisch wesentlich bedeutsamer“ (Altherr 1993, 13), diese unterbleiben jedoch häufig aus unterschiedlichen Gründen.

Das Diagnoseverfahren, wie es Döpfner et al. 2000 in den Leitlinien für die kinderpsychiatrische Praxis entwerfen, ist – trotz aller kritischen Anmerkungen – sicher idealtypisch. Die geringe Anzahl qualifizierter Kinder- und Jugendpsychiater und die damit verbunden langen Warte- und Anfahrtszeiten legen jedoch die Vermutung nahe, dass die Diagnose häufig auch vom Kinder- oder Hausarzt gestellt wird, der nicht nur eine eingeschränkte Diagnosefähigkeit, sondern zudem auch kaum die Möglichkeit zu qualifizierter Therapieberatung hat.

Wenke 2006, 65 verweist ebenfalls auf die mangelhafte Diagnostik, die den medizinischen Standart nicht erfülle, und merkt kritisch an, dass die medizinische Methodik das falsche Instrumentarium zur Identifikation von im psychosozialen Bereich liegenden Merkmalen der AD(H)S sei.

Kiphard 1983/1995, 234 weist darauf hin, dass die hirnorganischen Störungen des AD(H)S (bzw. MCD) mit kinderneurologischen Mitteln häufig nicht nachweisbar seien und MCD „gern als Verlegenheitsdiagnose benützt (wird), um eine ganze Reihe kindlicher Auffälligkeiten zu erklären.“

Die Krankheitsdiagnose AD(H)S ist in der Öffentlichkeit sehr präsent, viele Menschen im pädagogischen Kontext verwenden die Zuschreibung „hyperaktiv“ aus ihrem Alltagwissensbestand heraus. Auch die starke Verbreitung an Ratgeberliteratur und die mediale Diskussion zu unterschiedlichen Therapiekonzepten schaffen einen Markt für dieses Krankheitsbild, das als Deutemuster der medizinischen Sphäre eine wichtige soziale Funktion hat: Der Besuch der kinderärztlichen bzw. jugendpsychiatrischen Sprechstunde kann als Akt der Renormalisierung des irritierenden kindlichen Verhaltens wahrgenommen werden. Die ärztliche Sprechstunde ist ein Darstellungsraum für das belastende Problem, das vor dem Arzt – anders als vor anderen Personen - nicht verschwiegen werden muss.

Um die scheinbar objektiven und durch die ärztliche Autorität gesicherten medizinischen Deutungs- und Handlungsroutinen nutzen zu können, wird dem Verhalten des Kindes der Status Krankheit zugeschrieben. Das Kranksein wird zu einer Normalität, die subjektiv positiver bewertet werden kann, als das Eingeständnis der eigenen Ohnmachterfahrung mit dem Kind, die wohl Anlass für die Konsultation eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist.

Der Besuch beim Arzt entlastet zudem von dem durch die Umwelt, vertreten durch andere (Groß-)Eltern, Erzieher und Lehrer, aufgebauten Druck, der auch dazu führt, dass Eltern, die den Facharzt aufsuchen, bereits eine Diagnosevermutung mitbringen. Dem Arzt wird die Aufgabe zugetragen, die von den Eltern (und ihren sozialen Bezugspersonen) bereits gestellte Diagnose AD(H)S zu bestätigen. Dem medizinischen Fachmann gilt der Anspruch, die Diagnose der medizinischen Laien zu autorisieren. Die ärztliche Diagnose AD(H)S bzw. HKS gibt den Erziehenden Handlungsvollmacht zurück, ohne jedoch auf die zugrundeliegenden gesellschaftlichen und subjektiven Normalitätsvorstellungen korrigierend einzuwirken.

Ein Kind, das AD(H)S-Symtome zeigt, ist vielfältigen kränkenden, die Identität bedrohenden Einflüssen ausgesetzt, die sich durch die festgeschriebene medizinische Diagnose verstärken. Das Kind erlebt in der Ablehnung durch Lehrer und Mitschüler hohe soziale Belastungen, die häufig auftretenden Teilleistungsstörungen und die damit verbundenen schlechten Schulleistungen stellen eine weitere Belastung dar. Das Kind bemerkt die negativen Reaktionen auf sein Verhalten, ist alleine jedoch nicht in der Lage sein Verhalten zu verändern: Auch das AD(H)S-Kind macht die Erfahrung der Handlungsohnmacht. Das ungewohnte medizinische Setting hat eine zusätzlich verunsichernde Wirkung auf das Kind. Die Umwelt signalisiert dem Kind mit AD(H)S-Symtomen: „So wie du bist, bist du nicht in Ordnung“.

Zugleich schränkt die Diagnose AD(H)S die Handlungsvollmacht des Kindes weiter ein: Das kindliche Verhalten wird als krank bewertet und ist damit der Macht des Kindes enthoben und seiner biologisch-physiologischen Verfasstheit überantwortet. „Ich bin krank“ wird zur Selbstzuschreibung, die selbstgesteuerte Verhaltensregulation verhindert.

Ein solcher Prozess der Identitätsbildung unter dem Stigma der Krankheit AD(H)S stellt einen Eingriff in die Mächtigkeit des Kindes dar und ist für die Persönlichkeitsentwicklung bzw. die Ausbildung eines tragfähigen Selbstkonzepts schädigend. Das Kind erfährt so den Primat der Orientierung an einem gesellschaftlich anerkannten Lebensstil und an gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen, die als wichtiger erachtet werden als die Entfaltung der Person. In diesem Sinne ist der Diagnoseprozess von AD(H)S kontraproduktiv.

Zusammenfassend kann zum Diagnoseprozess angemerkt werden, dass hier verschiedene, auch deviante, Verhaltensweisen des Kindes zu einem Störungsbild zusammengefasst werden. Das Hyperkinetische Syndrom fungiert als Interpretationsfolie, die das kindliche Verhalten deutet und bewertet. Angezeigt scheint stattdessen ein empathischer, von Respekt vor dem Kind geprägter Umgang mit dem wahrgenommenen irritierenden Verhalten. Eine pädagogisch verantwortete Diagnose muss sich um eine möglichst objektive Wahrnehmung des real existierenden Kindes bemühen. Der Diagnoseprozess muss sich von der Defizitorientierung hin zu einem Suchen nach den Ressourcen des Kindes entwickeln.

[...]


[1] Aus Gründen der Vereinfachung nenne ich das Phänomen AD(H)S. Gemeint ist damit der Symptomkomplex nach ICD-10 und DSM-IV, in der Diktion Döpfners et al. die Hyperkinetische Störung (HKS)

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Details

Titel
Bei sich selbst zu Hause sein - Reflexionen zum Phänomen AD(H)S im Lichte körperorientierter Therapiewege
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
49
Katalognummer
V138153
ISBN (eBook)
9783640459155
ISBN (Buch)
9783640458820
Dateigröße
620 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hause, Reflexionen, Phänomen, AD(H)S, Lichte, Therapiewege
Arbeit zitieren
Heike Kellner-Rauch (Autor:in), 2007, Bei sich selbst zu Hause sein - Reflexionen zum Phänomen AD(H)S im Lichte körperorientierter Therapiewege, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138153

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