Vergangenheit als Erlebte Wirklichkeit

Zu Stil und Sprache in Hermann Lenz‘ Roman „Neue Zeit“


Hausarbeit, 2007

13 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Entfremdung von der Vergangenheit

2 Vergangenheit Erleben
2.1 Subjektivität der Erzählung: Eugen Rapp als Vermittler
2.1.1 Die Figur Eugen Rapp
2.1.2 Eugen Rapp als Verbindung verschiedener Bevölkerungsgruppen
2.1.3 Eugen Rapp als sympathischer Antiheld
2.2 Authentizität der Erzählung: Die Sprachliche Ausgestaltung des Romans
2.2.1 „Schreiben, wie man ist“
2.2.2 „Erinnerung so darstellen, wie man sie erlebt hat“
2.3 Vermittlung von Zeitgeschehen
2.3.1 Spannung zwischen Innerlichkeit und Außenwelt
2.3.2 Zeitgeschichte als Rahmen

3 Der Roman als Geschichtsquelle

4 Zur Behandlung der Schoah in „Neue Zeit“

5 Literaturverzeichnis

1 Entfremdung von der Vergangenheit

Unsere heutige Gesellschaft hat sich in hohem Maße der Pflege und Vermittlung der Vergangenheit verschrieben. Die Geschichte, insbesondere die jüngere Geschichte, wird als maßgeblich für die Identität der westlichen Gesellschaft und für die Gestaltung der Gegenwart und die Entwicklung der Zukunft angesehen. Daher wird enormes Gewicht auf historisches Wissen und dessen Vermittlung gelegt, sei es in Bild, Ton oder Schrift, in Historienfilmen, in Dokumentationen, im Geschichtsunterricht.

Doch dieser starken Tendenz zur Erhaltung und zum Verständnis der Vergangenheit, stellt sich ein immenses Problem entgegen: nie zuvor hat sich die Welt so schnell verändert wie heute. Zwar gab es zu jeder Zeit Entwicklungen, Erfindungen und maßgebliche gesellschaftliche Errungenschaften, doch das tägliche Leben ist sich von Generation zu Generation weitestgehend gleich geblieben.

Heute hingegen können wir uns nur schwer vorstellen, das Leben unserer Eltern- oder gar Großelterngeneration zu führen, insbesondere wenn diejenige Generation in Zeiten etwa eines Krieges gelebt hat. Für den Großteil der Bevölkerung Europas ist ein Krieg, soviel er davon auch wissen mag, etwas Abstraktes, etwas, von dem der Großvater ab und an berichtet, oder das man in erschreckenden Berichten aus weit entfernten Ländern im Fernsehen sieht. Der Zustand Krieg ist uns völlig fremd.

Und um so mehr gilt dies für so ungeheure, unvorstellbare und hoffentlich völlig einzigartige Ereignisse wie den 2. Weltkrieg oder die Schoah. Doch gerade hier ist wirkliches, tiefgehendes Verständnis, das über bloßes Wissen hinausgeht, besonders wichtig. Wir müssen verstehen, wirklich verstehen, was vorgefallen ist, um es anderen weiter vermitteln zu können und eine Wiederholung zu vermeiden. Doch wie kann man einem Menschen, der viele Jahrzehnte von diesen Ereignissen entfernt ist, etwas derartiges verständlich machen?

2 Vergangenheit Erleben

Einer, der sich mit dieser Frage in seinem literarischen Werk ausführlich beschäftigt hat, ist Hermann Lenz. Sein erklärtes Ziel war es immer, die Vergangenheit so darzustellen, wie sie sich aus seiner Sicht ereignet hat, wobei „Zeitgeschichte nicht in abstrakten Zusammenhängen erfaßt, sondern in ihren konkreten Auswirkungen als erlebte Wirklichkeit sichtbar gemacht“ wird[1]. Besonders deutlich wird dies in seinem autobiographischem Roman „Neue Zeit“, der Lenz‘ Erlebnisse als Soldat während der Jahre 1938 bis 1945 beschreibt, erzählt von einem weitestgehend neutralen Erzähler aus der Sicht des Eugen Rapp, der Hermann Lenz in vielen seiner Romane „vertritt“[2].

2.1 Subjektivität der Erzählung: Eugen Rapp als Vermittler

Peter Handke schreibt in seiner hervorragenden Rezension zu diesem Roman: „Das Kriegsbuch von Hermann Lenz ist das erste dieser Art, wo der Zweite Weltkrieg nicht in eine Vorzeit verschwindet, als eine letztlich doch besonnte Vergangenheit, sondern so atemberaubend gegenwärtig wird wie Kriege für meine ‚unerfahrene‘ Generation sonst nur in den Träumen.“[3] Um diesen Effekt zu schaffen, bedient sich Hermann Lenz einer simplen, doch nicht minder eindrucksvollen Methode: er setzt seinen Protagonisten als Vermittler des Geschehens ein. Indem Eugen Dreh und Angelpunkt des Romans ist, wird der Text sehr subjektiv, der Leser sieht das Geschehen aus Eugens Sicht, ohne jedoch auf dessen Gedanken und Gefühle beschränkt zu sein. Sein Charakter, der zugleich weitestgehend auch der Charakter des Autors ist, seine Haltung seine Sichtweise prägen die ganze Erzählung. Um so wichtiger ist also die Frage: Wer ist dieser Eugen Rapp? Wer ist dieser Mensch, den wir durch die Kriegsjahre hindurch begleiten?

2.1.1 Die Figur Eugen Rapp

Dieser Stuttgarter Eugen Rapp ist in erster Linie ein sehr leiser Mensch. Zwar geht er mit offenen Augen durch seine Zeit, sieht und erkennt die Entwicklungen durchaus, ahnt schon sehr früh, dass es Krieg geben und er in das Geschehen hineingezogen werden wird (vergl. 45, 58, 88)[4], und baut daher einen vehementen inneren Widerstand gegen das Hitlerregime auf, doch äußert sich dieser lediglich in versteckten Handlungen und in seinen Empfindungen, so freut es ihn etwa „arg“ (vergl. 16), als er erfährt, dass Treutlein Hanni, eine Mitstudentin, die im Verlauf des Romans zur zentralen Figur für Eugen wird, „Halbjüdin“ ist. Dies und einige kritische Gespräche mit Personen, von denen Eugen weiß, dass sie ihm ähnlich gesinnt sind (vergl. 48f, 122, 142), machen seinen Widerstand aus. Statt aktiv gegen die erkannten Mißstände vorzugehen – „Was aber nützte es, wenn Eugen seine Meinung ehrlich sagte? Das brachte ihn nur in Gefahr, änderte aber nichts.“ (129) - verlegt er sich darauf, von der Zeit und den Ereignissen um sich Abstand zu gewinnen, indem er sich etwa in Erinnerungen oder in „eine andre Heimat, dort, in Wien, um neunzehnhundert“ (62) flüchtet. Seine extreme Passivität, die stellenweise geradezu in Pessimismus umschlägt, lässt Eugen den Ereignissen beinahe ungerührt entgegenstehen: “Es geschehen lassen, weil dir, wie bekannt, nichts anderes übrigbleibt“ (285) bzw. „ohnmächtig sein und gelähmt bleiben, darauf läuft‘s für dich hinaus.“(81). Immer seinen Leitsatz „au net schlecht“[5] auf den Lippen, läßt Eugen sich durch die Jahre 1938 – 45 schleppen, „so wie er es als einer gewohnt war, der mittappte, hinter den anderen hertaumelte, stolperte und abwesend war im Geheul vor dem Angriff“ (240), immer in der Hoffnung verletzt oder gefangen genommen zu werden.

Diese Eigenschaften, die ihn zum stillen Beobachter machen, sind essentiell für Ton und Wirkung des vorliegenden Romans. Doch eignet sich Eugen, dieser sehr eigenwillige Mensch überhaupt dazu, uns, den späteren Generationen, die Vergangenheit näherzubringen?

2.1.2 Eugen Rapp als Verbindung verschiedener Bevölkerungsgruppen

Zunächst ist zu Eugen zu sagen, dass er, ein Stuttgarter aus bescheidenen Verhältnissen - der Vater ist Volksschullehrer - jedoch mit guter Bildung, Student und schließlich Schriftsteller, 1938 25 Jahre alt (vergl. 53), und damit im besten Soldatenalter, zu einer Bevölkerungsgruppe gehört, die vom Krieg zumeist weitestgehend verschont blieb, „während Bauernknechte, Zimmerleute, niedere Beamte sterben und verrecken mußten.“ (256). Doch aufgrund der Tatsache, dass er sich, mehr oder minder freiwillig an die Ostfront schicken läßt und dort bleibt – es bieten sich ihm mehrere Gelegenheiten zur Verbesserung seiner Lage, die Eugen jedoch ablehnt (vergl. 179f) - läßt ihn vom Intellektuellen zum einfachen Soldaten werden. Verschärft wird seine Situation, dadurch dass er sich mit einer „Halbjüdin“ anfreundet, und damit immerhin zu einem Mitbetroffenen der Schoah wird, denn an der Front läßt ihn die Sorge um Hanni nie los.

[...]


[1] Birgit Graafen, Konservatives Denken und modernes Erzählbewußtsein im Werk von Hermann Lenz, Frankfurt am Main 1992, S. 160

[2] Hermann Lenz, Leben und Schreiben, Frankfurt am Main 1986, S.23

[3] Peter Handke, Der Krieg ist nicht vorbei; in: Helmut und Ingrid Kreuzer (Hrsg.): Über Hermann Lenz, Dokumente seiner Rezeption (1947-1979), München 1981, S. 136

[4] Alle Seitenangaben in Klammer beziehen sich auf: Hermann Lenz; Neue Zeit, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1975

[5] Vergl. Hans-Martin Gauger: Zum Stil von Hermann Lenz, in: Rainer Moritz (Hg.): Begegnung mit Hermann Lenz; Künzelsauer Symposium, Tübingen 1996, S. 130

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Details

Titel
Vergangenheit als Erlebte Wirklichkeit
Untertitel
Zu Stil und Sprache in Hermann Lenz‘ Roman „Neue Zeit“
Hochschule
Universität Augsburg
Veranstaltung
Proseminar: Schreiben nach Auschwitz
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
13
Katalognummer
V138218
ISBN (eBook)
9783640467877
ISBN (Buch)
9783640467501
Dateigröße
434 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hermann Lenz, Neue Zeit, Schreiben nach Auschwitz, Schoah, Vergangenheitsbewältigung
Arbeit zitieren
Andrea Soprek (Autor:in), 2007, Vergangenheit als Erlebte Wirklichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138218

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