Schule und christliche Werte

Christliche Werte und ihr Einfluss auf das deutschsprachige Volksschulsystem des Kantons Bern zwischen 1950 und 1995


Diplomarbeit, 1996

154 Seiten, Note: 5.5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

TEIL I\: THEORETISCHE GRUNDLAGEN
EINLEITUNG.
PROBLEMSTELLUNG
ZENTRALE BEGRIFFE
WERTE UND IHRE FUNKTION IN DER BILDUNG
EINIGE PROBLEME BEI DER POLITISCHEN UMSETZUNG VON WERTEN
ANNÄHERUNG AN DIE BEGRIFFE 'CHRISTLICH' UND 'CHRISTLICHE WERTE'
WAS VERSTEHT MAN UNTER 'SÄKULAR' UND 'SÄKULARISIERUNG'?
CHRISTLICHES WERTBEKENNTNIS UND DIE WAHRUNG DER GLAUBENS- UND GEWISSENSFREI­HEIT
WAHRUNG DER GLAUBENS- UND GEWISSENSFREIHEIT BEDINGT EINE CHRISTLICHE AUSRICH­TUNG DER SCHULE
WAHRUNG DER GLAUBENS- UND GEWISSENSFREIHEIT BEDINGT EINE WELTANSCHAULICH FREIE HALTUNG DER SCHULE
DISKUSSION DER BEIDEN BEITRÄGE
UNTERSUCHUNGSINSTRUMENT, UM DEN WANDEL DER PRIORITÄT CHRISTLICHER WERTE NACHWEISEN ZU KÖNNEN

TEIL II UNTERSUCHUNG EINES PRIORITÄTENWANDELS CHRISTLICHER WERTE IN DER
DEUTSCHSPRACHIGEN VOLKSSCHULE DES KANTONS BERN VON 1950 BIS 1995
ZEITRAUM UND MATERIALAUSWAHL DER UNTERSUCHUNG.
KURZER EINBLICK IN DIE SCHULGESCHICHTE DES KANTONS BERN
DIE SCHULGESETZDISKUSSION VON 1950 BIS 1992
DAS SCHULGESETZ VON 1951
DIE VORBERATENDE KOMISSION
DIE DISKUSSION IM GROSSEN RAT\: ERSTE LESUNG.
WAS GESCHAH IM SOMMER 1951?
BERATUNG DES GESETZES ÜBER DIE MITTELSCHULEN IM JAHR 1956
DIE FÄCHERUMBENENNUNG FÜR DEN NEUEN LEHRPLAN 1983
DAS KINDERGARTENGESETZ VON 1982/83
GRUNDSÄTZE ZUR GESAMTREVISION DER BILDUNGSGESETZGEBUNG 1985
DAS VOLKSSCHULGESETZ VON 1991/92
ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT DER UNTERSUCHUNG
DIE LEHRPLÄNE DER PRIMARSCHULE 1951-1996
ALLGEMEINE RICHTLINIEN UND LEITIDEEN
DIE FÄCHERBESCHREIBUNGEN IN DEN LEHRPLÄNEN
DAS FACH RELIGION IM LEHRPLAN
DAS FACH RELIGION IM LEHRPLAN
DER SPRACHUNTERRICHT IM LEHRPLAN
DER REAL- ODER SACHUNTERRICHT IM LEHRPLAN
DER FRANZÖSISCHUNTERRICHT IM LEHRPLAN
DAS FACH SINGEN/MUSIK IM LEHRPLAN
UNTERSUCHUNG AUSGEWÄHLTER LEHRMITTEL VON 1950 BIS 1995
LEHRMITTEL ZUM SPRACHUNTERRICHTE SPRACHBÜCHER.
LEHRMITTEL ZUM SPRACHUNTERRICHTE LESEBÜCHER.
LEHRMITTEL ZUM REAL- ODER SACHUNTERRICHT
SACHLESEBUCH GEOGRAFIE
SACHLESEBUCH GESCHICHTE
SACHLESEBUCH NATURKUNDE
LEHRMITTEL ZUM GEOGRAFIEUNTERRICHT
LEHRMITTEL ZUM NATURKUNDEUNTERRICHT
LEHRMITTEL ZUM FRANZÖSISCHUNTERRICHT
LEHRMITTEL ZUM MUSIKUNTERRICHT
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSWERTUNG DER ERGEBNISSE

TEIL III CHRISTLICHE WERTE IN EINER PLURALISTISCHEN GESELLSCHAFT
BILDUNG UND IDENTITÄT
BILDUNG, WERTEWANDEL ZWEITER ART UND PLURALISMUS
MODELLE ZUR ORGANISATION DER SCHULE IN EINEM WERTPLURALISTISCHEN UMFELD
ZUR UMSETZUNG CHRISTLICHER WERTE IN DER SCHULE
AUSGESTALTUNGSFORMEN CHRISTLICHER WERTEE UMFRAGE UNTER CHRISTLICHEN SCHUL­INSTITUTIONEN
FAZIT DER UNTERSUCHUNG.
DAS CHRISTENTUM ALS EIN MODELL FÜR DAS LEBEN IN EINER PLURALISTISCHEN GESELL­SCHAFT
LITERATURLISTE

ANHANGS DETAILLIERTE ZUSAMMENSTELLUNG DER UMFRAGE UNTER CHRISTLICHEN SCHU­LEN

Vorwort

Diese Arbeit habe ich als Abschlussarbeit des Pädagogikstudiums an der Universität Bern verfasst. Professor Jürgen Oelkers hat sie betreut und mir beim Erarbeiten einen grossen Freiraum gelassen, was ich sehr geschätzt habe. Ich möchte ihm an dieser Stelle herzlich danken.

Die Arbeit am Text war begleitet von grossem persönlichem Interesse, was hier und dort auch erkenn­bar ist. Die Frage, welche Funktion christlichen Werten in der Schule zukommt, beschäftigt mich seit Jahren. Diese Arbeit soll dazu helfen, vom Vermuten zum Wissen zu kommen und Fakten über die Wertgrundlage der Schule aufzudecken.

Einige Hinweise zur Lektüre

Die Arbeit musste wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, was leider öfters im Widerspruch zur Les­barkeit stand. Ich möchte aber einige Hinweise geben, wie die Lektüre angenehmer ist.

a) Wer vor allem am Schulmaterial interessiert ist, dem empfehle ich mit dem Teil II zu beginnen. Dieser Teil ist allgemein verständlich und enthält recht viel Anschauungsmaterial.
b) Der Teil III ist auch einigermassen verständlich, vor allem der Teil, in dem christliche Privatschu­len untersucht werden. Hier ist das Material im Anhang besonders aufschlussreich. Nicht alle Schulen wollten namentlich erwähnt sein, deshalb sind sie nur mit der Referenznummer vermerkt.
c) Am schwersten verdaulich ist sicher der Theorieteil, besonders die Begriffsbestimmung. Hier kann das Verzeichnis wichtiger Fremdwörter gute Dienste leisten. Kapitel 4 ist wieder allgemeiner ver­ständlich.
d) Einige Fremdwörter und Fachbegriffe habe ich gleich auf den nächsten Seiten erklärt, in der Hoffnung, dass das die Lesbarkeit und damit die Motivation erhöht.
e) Ein Indexverzeichnis enthält einige Stichwörter, die die gezielte Suche, zum Beispiel nach Hinwei­sen zu Schulfächern erleichtern.

Auf den Punkt gebracht

Diese Arbeit zeigt, dass die Bedeutung von christlichen Werten in den letzten 50 Jahren deutlich abge­nommen hat und unsere Schule heute nicht mehr christlich ausgerichtet ist. Das wird beim Betrachten des Materials der Primarschule des Kantons Bern deutlich. Nicht nur im Religionsunterricht, sondern in den meisten Fächern, den Lehrplänen, aber auch in der Diskussion im Grossen Rat. Wenn christliche Werte wieder in die Schule hineingetragen werden sollen, kann dies nur im Einverständnis, oder im Auftrag der Eltern stattfinden und Privatschulen bieten bei der Umsetzung mehr Freiraum. Aber auch christliche Privatschulen sind sich nicht mehr sicher, worin ihre christliche Ausrichtung besteht.

Ein Buch zu schreiben ist etwas eher unnatürliches, da in einer wissenschaftlichen Arbeit der Bezug zur Praxis nicht einfach herzustellen ist. Ich würde es deshalb schätzen, auf das, was ich hier erarbeitet habe, einige Reaktionen zu erhalten. Meine Adresse lautet:

Daniel Kummer

Einige wichtige Begriffe Akzentuierung: Betonung.

Bezugs- oder Bedeutungsrahmen: Regeln, die zum Beispiel ein Spiel oder das Zusammenleben sinnvoll gestalten.

Curriculum: im englischen Sprachraum Lehrplan oder Lernprogramm.

deduktiv/Deduktion: hergeleitet/Herleitung aus hö­heren Werten. Wenn alle Menschen sterben und ich ein Mensch bin, werde ich auch sterben. Emanzipation/emanzipatorisch: verselbständigen, Verselbständigung oder Eigenständigkeit in der Er­ziehung, so dass Kinder eigenständig entscheiden können, was für Werten sie folgen wollen. empirisch: an der Erfahrung ausgerichtet und nicht an der Theorie (theoretisch) oder am Text (hermeneu­tisch).

Entitäten: Erscheinungsformen. erörtern: ausführen, erklären. eruieren: herausbringen, ermitteln. explizit: ausdrücklich, deutlich.

Genese: Entstehung, Entwicklung.

Glaubens- und Gewissensfreiheit: Die Freiheit den eigenen Glauben auch öffentlich zu bezeugen und ge­mäss des eigenen Gewissens zu leben.

Hermeneutik: Lehre von der Schrift- oder Textaus­legung.

Homogenität: Gleichartigkeit.

Hypothese: Annahme, Vorentwurf für eine Theorie. Identifikation: Gleichsetzung, Feststellung der Iden­tität.

Identität: Das, was eine Person eine Einheit sein lässt, was die Persönlichkeit ausmacht. Wesens­einheit.

illegitim: unrecht, ungesetzlich.

Imitation: (minderwertige) Nachahmung. implizit: inbegriffen, eingeschlossen.

Indoktrinieren: (ideologisch) beeinflussen, durch­dringen.

Initiation: Aufnahme, Einweihung, Einführung. interkulturell: aus verschiedenen Kulturen zu­sammengesetzt.

Interpretation: Auslegung, Erklärung. irrelevant: bedeutungslos.

Konsens: gemeinsames Einverständnis, Einwil­ligung.

Konzeption: Entwurf, Anordnung.

Kruzifixstreit: Streit um die Frage, ob in Schul­zimmern ein Kruzifix (Kreuz mit dem gekreuzigten Christus) aufgehängt werden darf, oder ob das gegen die Glaubens- und Gewissensfreiheit verstösst.

laizistisch/Laizismus: weltanschauliche Richtung, die die radikale Trennung von Kirche und Staat for­dert.

normativ: massgebend, als Richtschnur dienend. objektivieren: verallgemeinern, allgemeingültig be­gründen.

Orientierungswerte: Werte, die der Orientierung dienen. Wer gesund einkaufen will, wird zum Bei­spiel standfest an der Schokoladenaktion vorbeige­hen, da der Wert der Gesundheit höher steht als Spar­samkeit.

Pluralismus: ungeordnetes Nebeneinander ver­schiedener Wertauffassungen.

Präferenz: Bevorzugung.

Prämisse: Voraussetzung.

prioritär/Priorität: vorrangig, erstrangig; Vorrang. Relation: Beziehung, Verhältnis. säkular: weltlich, hier: nicht-christlich. Säkularisierung: Verweltlichung, hier: Ent-Christli- chung.

Segregation: Absonderung einer Bevölkerungs­gruppe, Rassentrennung.

Selektion: Auswahl

Synodalrat: Leitungsgremium der evangelisch-refor- mierten Kirche

Verständigungsrahmen: Die Rahmenbedingungen oder Regeln, die gelten müssen, damit wir uns ver­ständigen können. Wer zur Begrüssung den Fuss hin­hält, hindert die Verständigung, da er die Rahmenbe­dingungen missachtet.

Weltanschauung: die Grundüberzeugungen be­züglich dem, wie die Welt aufgebaut ist und was wertvoll ist.

Wert: Bedeutung, Wichtigkeit.

Wertewandel: Wandel der Wichtigkeit bestimmter Gegenstände, Themen oder Verhaltensweisen. Z.B. ist Fitness heute ein wichtigerer Wert als vor 50 Jah­ren. Durch diesen Wertewandel verändert sich das Verhalten: Männer, auch Frauen, quälen sich in Fit­nesszentren ab.

Wertrahmen: Die wichtigsten Werte, die meinem Leben Sinn und Ausrichtung geben.

Teil I: Theoretische Grundla­gen

Einleitung

In verschiedenen neuen Lehrplänen1 wird wieder ver­mehrt Werterziehung und nicht länger nur, wie vor allem in den 70er-Jahren, Wissensvermittlung in der Schule betont. Diese Tendenz wird auch von der kan­tonalen Erziehungsdirektorenkonferenz bestätigt und unterstützt. In einem Dossier zur Primarschul­entwicklung in der Schweiz wird dem Lehrer explizit zugestanden, dass er Werte und Ziele in den Unter­richt einbringen kann:

"Wer als Lehrer inmitten breiter Stoffkataloge und eines pluralistischen Wertangebotes an ein paar wichtige Ziele und Werte stark glauben kann, ist belastbarer. Das wiederum setzt eine Schule vor­aus, welche eine solche Ziel- und Wertgewichtung erlaubt und fördert" (HELLER 1986, 131).

Ein Artikel über die Weltkonferenz der Lehrer bestä­tigt diese Richtung:

"Die Vorstellung von neutralem Lehrverhalten ist absurd, weil alles Lehren wertgeladen ist. Selbst wenn Neutralität möglich wäre, würde sie den In­teressen der Schüler zuwiderlaufen: Die Schüler würden allein gelassen in einer Welt, welche von vielfältigen und widersprüchlichen Wert­angeboten geprägt ist Erziehende müssen mo­dellhaft in ihrem Wissen, in ihren Fertigkeiten und Einstellungen die Werte vorleben, wie sie in der Menschenrechtserklärung niedergelegt sind" (SLZ 1. Dez. 1988).

Diese Neuorientierung bestätigen verschiedene neue Autoren, wie zum Beispiel LEMKE (1993) und PAL­MER (1991), die sich kritisch mit der Stellung von (religiösen) Werten in der Schule auseinandersetzen.

Wenn die Schule wieder bewusster von Werten be­stimmt werden soll, drängt sich die Frage auf, welche Werte hierbei leitend sein sollen und diese Frage hal­te ich für entscheidend, auch wenn davon meistens nicht die Rede ist, wenn die Forderung nach Wertver­mittlung geäussert wird. Dass für eine gelingende Erziehung ein gewisser Wertkonsens entscheidend wichtig ist, bestätigt zum Beispiel die Arbeit von HENSEL (1981) mit dem Titel 'Wert- und Orientie­rungsprobleme in ihrer Bedeutung für Schule und Er­ziehung'. Er sagt, dass verschiedene grundlegende Fertigkeiten von der Schule zu begrenzt vermittelt werden. Viele Schulberater sprechen von einer soge­nannten 'Unerzogenheit' der Schüler. Das Verhalten der Kinder sei vielfach desorientiert und desorgani­siert. Dies lässt auf Erziehungsunsicherheit der Eltern schliessen. Mit dem Schuleintritt kommen sie noch einmal in eine solche Situation der Unsicherheit. Auch die Schule ist bezüglich der Frage 'Erziehung wie?' und 'Erziehung wozu?' verunsichert. Die Erzie­hungsziele scheinen in Schule und Elternhaus glei­chermassen diffus zu sein. HENSEL kritisiert, dass man aus Angst vor einem Schuldogmatismus nicht bereit sei, einen gewissen Wertkonsens zu schaffen, obschon dies für die Erziehung der Kinder und Ju­gendlichen unabdingbar sei. Schulberatung müsse daraufhinarbeiten, dass Eltern ihre Erziehungs­aufgabe wieder bewusster wahrnehmen. Ebenso müs­sen Lehrer für ihre Wertvorstellungen sensibilisiert werden und Ermutigung erfahren, Wertorientierung zu vermitteln. Nur so können Erziehung und Wert­bindung wieder zur reinen Instruktion hinzukommen. Lehrer und Eltern müssten sich an einem Minimal­konsens bezüglich Werteinstellungen, die für das Ge­mein- und Individualwohl nützlich erscheinen, orien­tieren. Auch hier sehen wir also die klare Forderung nach Wertvermittlung durch die Schule. FRITSCH & KOTZDON (1990) versuchen in ihrem Buch aufzu­zeigen, dass das Finden einer gemeinsamen Wert­grundlage in einer pluralistischen Gesellschaft ein grundlegendes Problem darstellt.

SCHMID (1995) hat in seiner Abschlussarbeit mit dem Titel 'Glaube und Erziehung' untersucht, wie die religiöse Fragestellung in der erziehungswissen­schaftlichen Diskussion zu Beginn der 60er-Jahre weitgehend verschwand und nun in neuer Form wie­der aufgegriffen wird. Mich interessiert die An­schlussfrage, ob man dieses Verschwinden religiös­christlicher Themen auch in der Volksschule feststel­len kann. Wenn ein Thema verschwindet, hängt das ganz allgemein damit zusammen, dass in den Prioritä­ten der Werte eine Veränderung stattgefunden hat. Im von SCHMID untersuchten Fall wird die Bedeutung religiöser Werte und damit auch religiöser Themen anders eingeschätzt, und das fuhrt dazu, dass religi­öse Werte zum Beispiel als veraltet oder nur noch als privat bedeutungsvoll eingestuft werden.

In meiner Arbeit frage ich nach der Bedeutung christ­licher Werte fur die Volksschule des Kantons Bern im Zeitraum von 1950 bis 1995. Lässt sich hier in den letzten Jahrzehnten ein Wandel der Funktion und Be­deutung christlicher Werte feststellen, so wie SCHMID ihn fur die erziehungswissenschaftliche Diskussion nachgewiesen hat?

Bei der Bearbeitung dieser Frage stellten sich ver­schiedene grundsätzliche Problemkreise, die ich hier kurz vorstelle, um sie dann weiter hinten eingehender zu behandeln. Wenn ich die Bedeutung christlicher Werte fur die Schule untersuchen will, stellen sich folgende Fragen:

a) Was soll unter christlichen Werten verstanden werden?

b) Wie können christliche Werte in den Schulmate­rialien nachgewiesen werden?

Verschiedene namhafte Pädagogen betrachten es als unmöglich, 'das Christliche' oder auch nur 'christliche Werte' zu bestimmen. So hält zum Beispiel KAUF­MANN (1991) in einem Aufsatz zur Zukunft christli­cher Erziehung fest:

"Was ist das Christliche an der christlichen Erzie­hung? Das Christliche ist keine Eigenschaft der Christen, es ist kein christliches Handeln, das man nach irgendwelchen objektiven Gesichtspunkten beschreiben könnte. Es ist auch sehr schwierig, das Christliche an der Erziehung im Sinne wis­senschaftlicher Beschreibung und Beobachtung festzustellen. Es ist dem letztendlich entzogen, weil es ein Geschenk Gottes ist, und das ist un­sichtbar. Es wird zeichenhaft von Fall zu Fall sichtbar, aber es lässt sich nicht beobachten, fest­stellen, fixieren, so wie man meint, an äusseren Merkmalen feststellen zu können, wer und wie et­was ist" (KAUFMANN 1991, 105).

Trotz dieser Worte, die 'das Christliche' einem wis­senschaftlichen Zugang praktisch entziehen wollen, habe ich versucht, einen Zugang zu finden, der fur meine Fragestellung geeignet ist. Es ist zwar sicher wahr, dass sich das Eigentliche der christlichen Erzie­ hung nicht umfassend nachweisen lässt, aber ich habe fur meine Arbeit einen Zugang über christliche Werte gewählt, da dieses Vorgehen zumindest eine Annäherung an das Thema ermöglicht. So werden christliche Werte einerseits als Rahmen fur den Un­terricht und andererseits als Entscheidungskriterien bei der Stoffauswahl eine Rolle spielen. Es kann so m. E. eine brauchbare Objektivierung fur meine Fra­gestellung gefunden werden. Wie diese konkret aus­sieht, werde ich weiter hinten ausfuhren. Die beiden Konkretisierungsformen christlicher Werte (Bezugs­rahmen, Stoffselektionsfunktion) habe ich in ver­schiedenen Schuldokumenten gesucht und so einen historischen Verlauf der Entwicklung von 1950 bis heute nachgezeichnet. Ich habe mich auf die Schulge­setze und ihre Diskussion im Grossen Rat des Kan­tons Bern, die Lehrpläne und einzelne Lehrmittel aus der deutschsprachigen Volksschule des Kantons Bern beschränkt. Dieses Material hat einen Rahmen erge­ben, der mir fur eine Lizentiatsarbeit angemessen er­schien. Als Kontrolluntersuchung habe ich ver­schiedene christliche Schulinstitutionen befragt, um herauszufinden, welche Bedeutung dort christlichen Werten zukommt. Abschliessend beschäftigt mich die Frage, welche Bedeutung christliche Werte in der Schule der Zukunft noch haben können.

Eine grosse Einschränkung muss hier gemacht wer­den. Spannend wäre naturlich vor allem die prakti­sche Umsetzung christlicher Wertvorstellungen im konkreten Unterricht. Eine empirische Untersuchung in dieser Breite entzieht sich aber meinen Möglich­keiten und deshalb beschränke ich mich auf den ge­nannten Zugang und die angegebenen Dokumente. Gerade wenn es um die Diskussion der Bildungs­grundlagen geht, muss sich die Diskussion im Nor­malfall auf die schriftlich festgehaltenen Absichten beschränken, da das konkrete Handeln eines Lehrers immer einen gewissen Spielraum braucht, der gesetz­lich nicht zu sehr reglementiert werden darf. Lehr­mittel und auch Lehrpläne geben aber sicher einen gewissen Bedeutungs- oder Bezugsrahmen, in dem die Schule stattfindet, und sind damit zumindest ein wichtiger Faktor bei der Wertbeeinflussung der Schu­le. Dass die Schule durchaus einen wertvermittelnden und damit normierenden Beitrag in der Erziehung leistet, hat UMBACH (1981) in seinem Aufsatz 'Die Schule als Einflussfaktor bei der Entwicklung von Werten im Erziehungsprozess' aufgezeigt.

Noch einige knappe Hinweise zu Literatur und Quel­len, die sich mit ähnlichen Themen ausein­andersetzen. Die Diskussion der 'laizistischen Schu­le' ist in Frankreich immer wieder ein Thema gewe­sen, auf das ich aber nicht weiter eingehen kann. Es stellt sich dort besonders die Frage, ob die laizistische Bewegung nur gegen den Einfluss der Kirche oder auch gegen den Einfluss des Christentums im allge­meinen gekämpft hat. Jüngere Vertreter der Bewe­gung betonen, dass ihre Bemühungen nicht gegen christliche Wertvorstellungen gerichtet seien, solange diese Werte nicht durch die Machtpolitik der Kirche eingebracht werden. In Deutschland ist mit dem gan­zen Kruzifixstreit und der Arbeit verschiedener päd­agogischer Gruppen in den letzten Jahren die Frage nach christlichen Werten für die öffentliche Schule wieder zum brisanten Thema geworden. Dies ob­schon ERLINGHAGEN (1972) bereits in den 60er- und 70er-Jahren die vollständige Säkularisierung der Schule konstatiert hat und eine Säkularisierung bis heute meistens als nicht-umkehrbarer Prozess ver­standen wird. In England sind in den letzten Jahren einige Publikationen erschienen, die vor allem das Verhältnis christlicher Werte zur Staatsschule thema­tisierten. In den USA ist durch die zunehmende Be­deutung christlicher Privatschulen eine Fülle an Ma­terial vorhanden, das sich mit der Umsetzung christli­cher Werte im Schulalltag auseinandersetzt. Ver­schiedene wissenschaftliche Arbeiten tangieren zum Teil meine Fragestellung, und ich gehe hier kurz auf einige ein. Wie verschiedene Werte und pädago­gische Konzepte den Entstehungsprozess von Lehr­plänen beeinflussen und welche systemischen Prozes­se dabei ablaufen, hat zum Beispiel HOPMANN (1988) analysiert. Dabei ging es ihm nicht um die Frage, welche Rolle explizit christliche Werte in die­sem Prozess gespielt haben. Er stellte das Wissen von Formen, Funktionen und Folgen staatlicher Lehrplan­arbeit für allgemeinbildende Schulen dar, das zur Er­klärung ihrer gegenwärtigen, primär organisa­torischen Struktur, beitragen kann.

TANNER & TANNER (1990) untersuchen in ihrem Buch 'History of the School Curriculum' meine Fra­gestellung nicht, sondern grenzen sich sogar klar von einem Zugang, der religiöse Themen aufgreift, ab und sagen, dass es nicht ihr Ziel sein könne, den Einfluss des Christentums auf die Schule zu betrachten. In der umfassenden Untersuchung von KLIEBARD (1987) mit dem Titel ‘The Struggle for the American Curri­culum 1893-1958' wird eine Fülle von verschiedenen und zum Teil gegensätzlichen Vorstellungen zu Schulkonzepten vorgestellt, die sich im historischen Verlauf der Debatte bis zur Bedeutungslosigkeit hin gegenseitig neutralisiert haben. Er hat erkannt, dass es ganz verschiedene Reformbewegungen mit spezifi­schen Programmen und Vorgehensweisen gegeben hat. In seinem Buch versucht er herauszuschälen, wie die verschiedenen ideologischen Positionen aussehen und wie sie einander unterstützen und widersprechen.

Die Geschichte des amerikanischen Curriculums lässt sich, so seine These, verstehen als eine Interaktion zwischen den dominantesten Interessengruppen, die im Lehrprogramm ihr Werkzeug zum Ausdruck ihrer Anliegen und Verfolgen ihrer Ziele sahen. Die ent­scheidenden Faktoren in diesen Reformversuchen sind die Leiter der pädagogischen Gruppen und die dazugehörende Interessengruppe.

Problemstellung

Obschon institutionell bereits mit der Verfassung von 1832 respektive dem Schulgesetz von 1835 der Ein­fluss der Kirche auf das Schulwesen im Kanton Bern praktisch unterbunden worden ist, wirken christliche Werte, so meine These, doch immer wieder auf die Schulorganisation und die Selektion der Bildungs­inhalte ein. Deshalb vermute ich, dass auch im Zeit­abschnitt von 1950 bis 1995 immer noch christliche Wertvorstellungen eine gewisse Rolle spielen:

These 1 :

Christliche Werte wirken auch im Zeitraum von 1950 bis 1995 nachweisbar auf Dokumente (Schulgesetzdiskussion und Gesetzestexte, Lehrplan und Lehrmittel) der deutschsprachi­gen Volksschule des Kantons Bern.

Als zweite Hypothese vermute ich einen Prioritäten­wandel, konkret ein Abnehmen der Bedeutung christ­licher Werte für die Volksschule des Kantons Bern im angegebenen Zeitraum. Dieser Bedeutungsverlust christlicher oder institutionell-kirchlicher Werte in unserer Gesellschaft lässt sich als sogenannter 'Säku­larisierungsprozess' beschreiben. Deshalb werde ich diesen Begriff in meiner Untersuchung auch verwen­den, obschon die eigentliche, institutionelle Säkulari­sierung im Kanton Bern bereits 1832/35 vollzogen wurde.

These 2:

In den untersuchten Dokumenten lässt sich nachweisen, dass die Bedeutung christlicher Werte in den letzten 50 Jahren im Schulwesen des Kantons Bern abgenommen hat, was sich mit dem Begriff der sogenannten Säkularisie­rung beschreiben lässt.

Eine Hauptschwierigkeit besteht darin, christliche Werte erkennen und empirisch nachweisen zu kön­nen. Ich habe hierzu eine Form der Objektivierung gewählt, die m. E. relativ unumstritten und doch nicht trivial ist, sondern einen klaren Nachweis zulässt. Der Einfluss christlicher Werte wird dann sichtbar, wenn Ausdrücke mit eindeutig christlichem Hintergrund verwendet werden (mit der Absicht, einen christli­chen Bedeutungs- oder Bezugsrahmen für den Er­ziehungsprozess oder auch für die Ausrichtung ein­zelner Fächer herzustellen) oder wenn Themen und Inhalte behandelt werden, die explizit mit der christli­chen Religion zu tun haben. Grundsätzlich gilt, dass das, was als entscheidend wichtig erachtet wird, meistens auch in irgendeiner Form erwähnt wird.

Was nicht erwähnt wird, entspricht entweder ganz dem gesellschaftlichen Konsens oder ist nur für den privaten Bereich des Lebens entscheidend oder gene­rell nicht (mehr) entscheidend. Gerade religiöse The­men sind seit 1800 nicht mehr einfach so normaler Bestandteil des öffentlichen Lebens, und mussten, wenn sie Einfluss auf die Schule nehmen sollten, meistens gerechtfertigt werden.

These 3:

Christliche Werte lassen sich vor allem an zwei Auswirkungen nachweisen:

a) Sie sollen einen mehr oder weniger be­wussten Bedeutungs- oder Bezugsrahmen für das Handeln geben und stellen dadurch Fak­ten in einen wertenden und erzieherischen Kontext.

b) Sie wirken selektionierend auf die Stoff­auswahl, indem sie dafür sorgen, dass gewisse Themen und Ziele eine höhere Priorität er­halten als andere. Ihre Wirkung lässt sich folglich an der Auswahl bestimmter Themen (zum Beispiel christlich-kirchlichen Inhalts) nachweisen.

Bei der Untersuchung ist insbesonders auch auf das Fehlen solcher Bezüge und Inhalte zu achten, da die­ses Fehlen umgekehrt auf eine tiefe Bedeutung christ­licher Werte hinweist. Eine Komplikation sei hier schon erwähnt: In gewissen, vorwiegend liberalen Kreisen gilt es gerade als Kennzeichen wahrer Christ­lichkeit, wenn man seine Überzeugungen nicht expli­zit erwähnt, sondern vor allem durch seine Werke deutlich werden lässt.

Zentrale Begriffe und ihr theo­retisches Umfeld

Da ich danach frage, welche Funktion christliche Werte in der deutschsprachigen Volksschule des Kantons Bern haben, beginne ich mit der Diskussion des Wertbegriffs und der Funktion von Werten in der Bildung. Wissen begegnet uns in der Welt nicht aus­gewählt und geordnet, sondern wir müssen es nach bestimmten Kriterien auswählen und ordnen. Wer bildet, setzt Prioritäten, entscheidet, was als 'geeig­netes' Wissen gelten soll. Je weniger selbstverständ­lich in einer Gesellschaft grundlegende Werte sind, desto bewusster und besser muss eine Auswahl als 'allgemeingültig' oder 'wissenschaftlich' gerechtfertigt werden, da sie nicht mehr im eigentlichen Sinn des Wortes 'selbstverständlich' ist. Gerade hier stellt sich die Frage, was als Wertgrundlage dienen kann, um eine Basis für eine gesellschaftliche Auseinanderset­zung zu erhalten.

Zum Wertbegriff

Allgemein haben Werte die Funktion, Dinge und Sachverhalte, aber auch unser Denken und Handeln zu ordnen. Sie helfen uns, Prioritäten zu setzen, die uns Unterschiede in der Bedeutsamkeit verschiedener Handlungen, Gegenstände oder Wissensinhalte auf­zeigen, so dass wir 'Wichtiges' von 'Unwichtigem' un­terscheiden können. Sie helfen uns, Handlungen oder Ideen für unsere Lebensführung unterschiedlich zu gewichten und so gewissen Ideen oder Inhalten den Vorzug zu geben. Die Brockhausenzyklopädie bestä­tigt diese erste Charakterisierung:

"...durch Schätzung und Abwägung entstandenes

Übereinkommen zwischen Menschen über das ih-

nen Zu- bzw. Abträgliche; ...Die breite Skala fak­tischer Bewertungen und theoretischer Be­wertungsmöglichkeiten stellt das Wertesystem ei­ner Gesellschaft dar. Aus dem Wertesystem erge­ben sich Orientierungs- und Handlungsmasstäbe, Normen, die wiederum zur Grundlage von Bewer­tungen dienen" (Brockhaus Enzyklopädie Bd. 24, Ausgabe 1994, 8 Iff).

Diese Definition versteht Werte als Übereinkommen zwischen Menschen, das heisst, dass sie ein Produkt sozialer Interaktion und dadurch grundsätzlich hinter­fragbar sind. Wir leiten, wie BARUZZI (1981) in ei­nem Aufsatz mit dem Titel 'Werte und Normenbil­dung' dargestellt hat, aus Werten Normen ab, die un­ser Denken und Handeln leiten. Das bedeutet, dass wir zwei Dinge tun:

a) Wir wählen bestimmte Werte aus und betrachten sie als verbindlich.
b) Wir geben damit gewissen Werten einen höheren Stellenwert als anderen und gewinnen durch sie Orientierung.

Diese Bewertung nehmen wir als einzelne und als ganze Gesellschaft vor. VOSSENKUHL (1981) un­terscheidet in seinem Aufsatz 'Werte und Hand­lungen' verschiedene Kategorien von Werten. Es ist gemäss seinen Ausführungen üblich, gewisse Werte, wie zum Beispiel 'Patriotismus' oder 'Wohlstand', als vor-wissenschaftliche, aus einer sozialen und histo­rischen Genese heraus zu begreifende Entitäten zu verstehen. Ebenso geläufig ist es, sittliche Werte, wie z. B. 'Gerechtigkeit', unabhängig von ihrer Genese als vernünftige Normen auszulegen. Werte dieser Art ha­ben den Charakter von Prinzipien, von rechtferti­genden Instanzen, die selbst nicht weiter zu recht­fertigen sind. Eine dritte Kategorie von Werten ent­steht durch eine individuelle Sozialisation, wie zum Beispiel das Erbringen von sportlichen Leistungen. Daneben gibt es Werte, die die Funktion von Mitteln haben, wie zum Beispiel der Wert des Geldes. Diese Unterscheidung verschiedener Kategorien von Wer­ten ist nach VOSSENKUHLje nach Gesellschaft verschieden.

In dem Zusammenhang betrachte ich eine weitere Unterscheidung für zentral. HAAS (1989) untersucht in seiner Arbeit 'Die Entwicklung der Demokratie in der Darstellung von Schulgeschichtsbüchern der Bundesrepublik Deutschland' und hält fest, dass eine historische Darstellung immer von Werten geleitet ist. Ich finde es hier aber wichtig zwischen Werten, die normierenden Aussagen dienen und Werten, die lediglich einen bestimmten Bedeutungsrahmen für die Betrachtung geben zu unterscheiden. Im ersten Fall spreche ich von expliziten Wertungen im zwei­ten Fall von impliziten Wertungen. Gerade implizi­te Wertungen tauchen durch den Bedeutungs- oder Wertrahmen, der in einer Gesellschaft oder einem be­stimmten Wissensbereich als selbstverständlich be­trachtet wird, oft gar nicht bewusst auf. Man kann nicht Werte zur Begründung heranziehen, sie also als normativ voraussetzen und sie gleichzeitig in Frage stellen, sonst entzieht man der eigenen Argumenta­tion die Grundlage. Implizite Wertungen können, vor­ausgesetzt, dass sie bewusst sind, entweder offenge­legt werden oder aber bewusst verschwiegen werden, um so die Wertvoraussetzungen nicht weiter begrün­den zu müssen. Jede Begründung hat Grenzen, wie ALBERT (1968) klar aufgezeigt hat. Ein solches Verdecken von impliziten Werten geschieht in Lehr­mitteln zum Beispiel dann, wenn Fakten in einen Wertkontext gestellt werden, der eine bestimmte Weltanschauung bevorzugt. Die Entwicklungs­dimension spielt z. B. in Biologielehrmitteln der Volksschule des Kantons Bern keine Rolle, obschon sich die Evolutionstheorie in der Wissenschaft längst etabliert hat. Das wird aber nicht gesagt, auch nicht begründet, sondern gehört zu den impliziten, vermut­lich aber sehr wohl bewussten Wertungen des Lehr­mittels.

Für das Verständnis des sogenannten 'Wertewandels', der weiter hinten thematisiert wird, und für die politi­sche Auseinandersetzung in Bildungsfragen, ist be­sonders die Unterscheidung in verschiedene Wertebe­nen zentral, da es u.a. diese verschiedenen Bedeu­tungsebenen sind, die die gesellschaftlichen Gruppen in ihren Schulvorstellungen unterscheiden. OLDE- MEYER (1981) spricht in diesem Zusammenhang von Orientierungswerten, auf die wir Bezug neh­men und die wir als 'vernüftig' oder 'einleuchtend' be­trachten. NEWBIGIN (1985) zeigt, dass, ausser in wissenschaftlich normierten Bereichen, verschiedene Orientierungswerte, meist kulturspezifisch einer Ge­sellschaft einen Verständigungsrahmen geben. Wie unterschiedlich diese Orientierungswerte sein kön­nen, wird im folgenden Beispiel deutlich:

"Fast unmittelbar nach meiner Ankunft in Indien wurde ich bei einem Busunfall so schwer verletzt, dass ich für zwei Jahre ausser Gefecht gesetzt war. Wie soll man das 'erklären'? Der indische Pastor sagte: 'Es ist Gottes Wille.' Ein Hindu hätte gesagt: 'Das Karma des früheren Lebens hat Sie eingeholt.' In einigen Kulturen wäre die Erklä­rung, ein Feind hätte mich mit einem Fluch belegt. Wenn ich nun als ein 'aufgeklärter' Europäer ge­sagt hätte, es seien die Bremsen gewesen, die nicht in Ordnung waren, wäre das - für die ande­ren - überhaupt keine Erklärung gewesen. Es wäre einfach nur eine andere Darstellung des Sachverhaltes gewesen, der einer Erklärung be­durft hätte. Von einer 'Erklärung' sprechen heisst, von diesem letztgültigen Bezugsrahmen, von Massstäben und Voraussetzungen zu sprechen, die einen Sinn im Leben erkennen lassen. 'Erklärung' greift nur innerhalb eines angenommenen Bezugs­rahmens, der selbst keiner Erklärung bedarf' (NE- WBIGIN 1985, 20f).

Wenn man von 'Wertewandel' oder einer Umwertung der Werte spricht, ist damit gemäss OLDEMEYER (1981) ein Wechsel dieser Orientierungswerte ge­meint. Das bedeutet, dass bestehende Orientie­rungswerte zunehmend irrelevant werden und für eine stichhaltige Begründung nicht mehr herangezo­gen werden. Sie scheinen für die Lebensorientierung nicht mehr von Bedeutung zu sein. Von einem Verge­hen alter und einem Entstehen neuer Werte zu spre­chen, ist aber m. E. unzutreffend, da die alten Werte immer noch in Nischen weiterleben und dort überlie­fert werden, und zu einem späteren Zeitpunkt mögli­cherweise wieder ins Zentrum der Gesellschaft rücken. Umwertung der Werte soll deshalb eher als Veränderung der Bewertung von Werten, als Wandel ihrer Einordnung in der Werthierarchie verstanden werden. Was sich ändert, ist die Präferenz, die Rang­ordnung der Werte.

Werte und ihre Funktion in der Bildung

Auch in der Schule geschieht eine Bewertung des Stoffes und der Erziehungsziele, obschon gerade das in der ganzen Wertdiskussion meistens verschwiegen wird14. Wenn man zum Beispiel nach dem Stellen­wert eines 'nationalen' respektive eines 'internationa­len Identitätsgefühls' für den Schüler fragt, wird es zwei Gruppen geben, die sich zwar im Anliegen der 14 Siehe z.B. LEMKE 1993, der eine Rückkehr zum Bildungsauftrag der Schule und damit auch eine Rückkehr zum Wert- und nicht nur Wissensver­mittlungsauftrag fordert.

Wertvermittlung treffen, aber bezüglich der Stellung der Werte ganz verschiedene Vorstellungen haben. Unter 'Identitätsgefühl' verstehe ich, dass man ent­weder die Bedeutung der nationalen Identität als Schweizer in den Vordergrund stellt, oder dann mehr betont, dass die ganze Welt miteinander verbunden ist und darin unsere Identität begründet werden soll. Keine der beiden Gruppen wird behaupten, derje an­dere Wert sei völlig unwichtig. Diejenigen, die das 'nationale Identitätsbewusstsein' in den Vordergrund stellen, werden sagen, dass ein internationales Ver­bundenheitsgefühl und Verständnis sicher auch wich­tig sei, dass man aber zuerst ein nationales Bewusst­sein brauche, bevor man sich mit anderen Positionen auseinandersetzen könne. Diejenigen, die das inter­nationale Identitätsbewusstsein in den Vordergrund stellen, werden sagen, dass nationales Bewusstsein auch wichtig sei, aber das sei ohnehin schon im Kind vorhanden und man müsse deshalb vor allem lernen, was es heisst Bürger der gemeinsamen Welt zu sein. Zwei Dinge werden an diesem Beispiel sichtbar. Bei­des, nationales und internationales Identitätsbewusst­sein sind Werte. Beide Gruppen können engagiert Wertvermittlung fordern, und dennoch meinen sie da­mit nicht das gleiche. Je nach Position wird man na­tionale oder internationale Identität für wichtiger hal­ten. Der eine Wert wird im Rahmen des anderen Wertes begründet, quasi aus dem höheren hergeleitet. Der tiefere ist als Wert nur ein Mittel zum höheren Wert. Ich möchte die eine Position aus diesem Bei­spiel kurz belegen, um dessen Aktualität anhand von Schulmaterial aufzuzeigen. Das Anliegen, Kinder zu Bürgern der einen Welt zu erziehen, wurde 1988 durch das Forum 'Schule für eine Welt' (Autorenkol­lektiv) in einem Lernzielkatalog für alle Fächer kon­kretisiert. In diesem Katalog werden Lernziele aufge­listet, die das Kind zu einem Selbstbild führen sollen, in dem es sich als Bürger der einen Welt sieht und auch entsprechend handelt. Zugrunde liegen vier Leitideen, die dann injedes Fach in Form von Richt­zielen, Grobzielen und Teilzielen auf die Unterricht­sebene hinuntertransformiert werden. Die vier Leitideen lauten wie folgt:

"Leitidee 1: Das Wahrnehmen der eigenen Teil­habe und Teilnahme an der einen Welt. Leitidee 2: Das Bilden von Urteilen als Mitglied der einen Welt. Leitidee 3 : Das Treffen von Entscheidungen als Mitglied der einen Welt. Leitidee 4: Das Aus­üben von Einfluss als Mitglied der einen Welt" (Schule für eine Welt 1988, 37f).

Diese vier Leitideen werden konkretisiert in Richt­zielen. Leitidee vier führt zum Beispiel zu folgenden Richtzielen:

"Richtziel 16: Der Schüler übt Einfluss aus durch Entscheidungen bezüglich seines Lebensstils. Richtziel 17: Der Schüler übt Einfluss aus durch die Wahl seines zukünftigen Berufes. Richtziel 18: Der Schüler übt Einfluss aus durch soziale Aktionen. Richtziel 19: Der Schüler hat Einblick in die Einflussmöglichkeiten politischer Tätigkei­ten. Richtziel 20: Der Schüler übt Einfluss aus durch sein eigenes Benehmen" (ebd., 48f).

Ich betrachte dies als gutes Beispiel dafür, wie sich Wertsetzungen in Lehrmitteln oder Lehrplänen kon­kretisieren können und auch Auswirkungen auf die konkrete Gestaltung des Unterrichts und die Auswahl der Themen haben.

Wenn nun in einer Gesellschaft ein bestimmtes und mehr oder weniger einheitliches Wertgefüge besteht, kann man davon ausgehen, dass daraus entsprechen­de Normen abgeleitet werden. KLAFKI (1975) kon­kretisiert das für die Erziehung:

"In allen Gesellschaften und Kulturen werden im­mer bestimmte Normen vertreten oder einge­halten, sogenannte sozio-kulturelle Normen. Sie werden durch verschiedene Sozialisationsvor­gänge an neu eintretende Mitglieder oder die nachwachsende Generation übermittelt. Eine be­sondere Form der Sozialisation ist die Erziehung" (KLAFKI 1975, 17).

In der Schule stellt sich die Frage, welche Werte handlungsleitend und so normativen Charakter haben sollen und wer diese Werte wie bestimmen soll. Ich betrachte zuerst die historische Diskussion dieser Frage und wende mich dann der politischen Umset­zung zu. Solange die Schule mehr oder weniger un­umstritten in kirchlichen Händen war, war durch die christlichen Orientierungswerte im Prinzip auch der Wertrahmen der Schule klar. In dem Moment, in dem der Staat der Kirche ihr Bildungsrecht streitig mach­te, begann die Diskussion darüber, welche Werte für die Schule gelten sollen. Das verlangt nach HOP­MANN (1988) grundsätzlich eine Ver­waltungsstruktur, da der Staat nur so seine Standards durchsetzen kann. Die Frage nach den Bildungs­grundlagen wurdeje nach Möglichkeit der öf­fentlichen Mitsprache zum gesellschaftlichen Thema, das durch eine argumentative Diskussion bestimmt wurde. Kirche und Staat fingen an, darüber zu strei­ten, welche Werte in der Schule prioritär sein sollen. Da auch für die staatlich geführte Erziehung ein Wertrahmen notwendig erschien, wurde dieser Wert­rahmen zuerst in der Diskussion des 'Bildungsideals' thematisiert. In diesem 'Bildungsideal' sollten nicht nur einzelne Werte festgehalten werden, sondern die Werte als deduktives Gefüge von obersten Werten hergeleitet und damit gerechtfertigt werden. WENI- GERs Bildungsideal setzt sich aus den folgenden sie­ben Werten zusammen: "gut, edel, tüchtig, tapfer, fromm, christlich, deutsch" (WENIGER 1930, 34. hier: HOPMANN 1988, 110). Noch in den 60er-Jah- ren war man der Auffassung, dass für die Erzie­hungsarbeit ein gemeinsames Bildungsideal entschei­dend wichtig sei. Ein Bildungsideal stellt "ein System von Werthaltungen der möglichen Bildungsinhalte dar. So zeigen die Bildungsideale im Gegenständlichen zwar eine bunte Mannigfal­tigkeit, dajedes einem andern Bildungszweck und einer anderen Kulturlage zugeordnet ist. In ihrer inneren Struktur aber gehören sie einer der Wer­tebenen zu, die sich in ewiger Ordnung überein­ader aufbauen,je nachdem sie den technisch-wirt­schaftlichen, den vital-nobilistischen, den geistig­ästhetischen oder den sittlich-religiösen Werten den beherrschenden Einfluss im Bildungsganzen geben" (EGGERSDORFER 1960, 404).

Bereits zehn Jahre später wird die Bedeutung des Bil­dungsideals im gleichen pädagogischen Lexikon ganz anders eingeschätzt. Die Funktion des Bildungsideals oder die Bedeutung von Bildungszielen sei weit über­schätzt worden:

"Ihr Fehlen wird als die eigentliche Ursache des (behaupteten) heutigen Erziehungsversagens be­trachtet. ... Je allgemeiner die Zielvorstellung for­muliert wird, desto inhaltsleerer, formaler und nichtssagender ist sie und verfehlt genau den Zweck, dessentwegen sie erfunden wurde, näm- lieh bei der Erziehung konkrete Hilfe zu leisten. Wenn es für alle Mensehen sehliesslieh nur ein einziges Bildungsideal geben kann, wird es völlig unbrauehbar. Dies gilt für solehe Formeln wie 'der edle Menseh', die harmonisehe Persönliehkeit, aber aueh für solehe, nur seheinbar konkrete, wie 'Lebensgestaltung in Christus', 'Naehfolge Christi'" (ERLINGHAGEN 1970, 186).

Primär ist das System von Werten und Bildungs­inhalten nieht das Bildungsideal. Die eigentliehen Ziele des Unterriehts ergeben sieh aus ganz prakti- sehen Überlegungen. Diese Kritik wird von KLAFKI (1975) geteilt und erweitert. Begriffe wie 'Bil­dungsideale', 'Mensehenbilder' und 'Leitbilder' ent- spreehen dem Selbstverständnis unserer Gesellsehaft insofern nieht mehr, als wir uns nieht mehr auf ein Leitbild einigen können. Zudem haben sie die Ten­denz, dass sie den einzelnen in seinen Entseheidungs- mögliehkeiten radikal begrenzen und ihn auf be­stimmte Inhalte, Verhaltensformen oder Normvor­stellungen festlegen. Genau dieser Problematik wer­den wir in den Leitideen der Lehrpläne wieder begeg­nen. Aueh im Lehrplan von 1996 wird noeh versueht, allgemeine Erziehungsvorstellungen festzuhalten, die einen Wertrahmen geben sollen, der der Erziehungs­arbeit eine Ausriehtung gibt. Hinzu kommt, dass der sehulisehe Unterrieht wieder stärker als um 1970 her­um, als Wertvermittlungsprozess verstanden wird. Sehule soll erziehen und bilden. Diese Stoss- riehtungen sind beide im neuen Lehrplan des Kantons Zürieh enthalten. Im Kapitel 6 'Sonstiges' wird festge­halten:

"Erziehung dureh Unterrieht: Der Erziehungs- und Bildungsauftrag werden im Unterrieht nieht ge­trennt, sondern beide Ziele werden bewusst ge­meinsam angestrebt. ... Dadureh, dass sie (die Lehrer, Anm. D.K.) bereit sind, ihre Werthal­tungen offen darzulegen, kann das Bedürfnis naeh Wertorientierung geweekt werden. Gleiehermas- sen haben die Lehrkräfte an der öffentliehen Sehule jedoeh die Pflieht, bei der Bespreehung kontroverser Fragen aueh andere Siehtweisen und Wertungen aufzuzeigen" (ERZIEHUNGSDIREK­TION DES KANTONS ZÜRICH 1991, 18).

Hier werden offensiehtlieh Wertvermittlung und Wis­sensvermittlung bewusst beide als Aufgaben der Sehule betraehtet. Wenn aber Werte vermittelt wer­den sollen, und zwar explizit und nieht nur dadureh, dass dureh die Stoffauswahl ein wertmässiger Rah­men gegeben wird, stellt man zureeht die Frage naeh der Auswahl dieser Werte. Gemäss SCHWENKs (1993) Darlegungen zum Begriff der normativen Päd­agogik, gibt es keine wissensehaftliehe Bestimmung der 'entseheidenden Werte', aueh wenn dies in Form von 'allgemeinen Pädagogiken' noeh und noeh ver­sueht worden ist:

"Wasjedoeh in der Vergangenheit als 'allgemeine Pädagogik' vorgelegt wurde, oder, etwas weniger anspruehsvoll, als 'Erziehungslehre', das ist, was die darin vorgetragenen konkreten Handlungs­anweisungen betrifft, trotz aller behaupteten, aber gar nieht einlösbaren Ableitung aus obersten Prä­missen, ... nieht viel mehr als der von dem jewei­ligen Standpunkt aus vorgenommene Versueh ei­ner Systematisierung des gerade aktuellen Be­stands gesellsehaftlieh akzeptabler pädagogiseher Normen, 'edle Popularität', wie DILTHEY (1958, 60) ironiseh anmerkte" (SCHWENK 1993, 1194f).

Aus diesem Grund muss die Wertfrage Gegenstand einer öffentliehen Diskussion sein:

"Diese gesellsehaftliehe Auseinandersetzung um die Erziehungsnormen und damit um die Kon­kretisierung des Erziehungsbegriffs wird unter breiter öffentlieher Beteiligung geführt; keines­wegs wird sie den Erziehungswissensehaftlern al­lein überlassen. Ihren Niedersehlag findet sie in den nahezu tagtäglieh in den publizistisehen Me­dien erseheinenden Meldungen zu Einzelfragen von Erziehung und Bildung. Wahlen können ge­wonnen werden oder verloren gehen, Regierungen stürzen gelegentlieh über Normenkonflikte, wel- ehe die Erziehung betreffen, über die Frage bei­spielsweise, wie man es mit dem weiterführenden Sehulwesen halten soll. Aueh die Erziehungs- wissensehaftler sind an der gesellsehaftliehen Auseinandersetzung um die Normfragen von Er­ziehung und Bildung beteiligt, dureh die Vorlage erziehungswissensehaftlieher Saeh- und Norm­analysen, aber aueh dureh das Einbringen eigener normativer Optionen, wie das in einer demokrati- sehen Gesellsehaftjajedermann zusteht" (SCHWENK 1993, 1194).

Falls diese Beiträge wissensehaftlieh sein sollen und zugleieh von den Autoren normativ verstanden wer­den, besteht eine gewisse Spannung zur Aussage von Max WEBER (siehe zum Beispiel KRECH & WAG­NER 1994), dass Wissensehaft gemäss ihrem Selbst- Verständnis keine normativen Aussagen machen kann. Hier haben wir ein erstes Problem bei der poli­tischen Umsetzung von Werten. Wir werden gerade in den Grossratsdiskussionen verschiedene Fragen zum politischen Rahmen der Schule eingehender be­trachten. Auf den nächsten Seiten sollen einige The­men theoretisch beleuchtet werden.

Einige Probleme bei der politi­schen Umsetzung von Werten

Werte werden der Schule zum Beispiel im Zweck­artikel des Schulgesetzes zugrundegelegt und sollen von dort her Lehrplan und Lehrmittel in ihrer Aus­richtung prägen. Wie die allgemeine Wertausrichtung der Schule sein soll, wird in der öffentlichen Diskus­sion via Vernehmlassungsverfahren eruiert und dann im Parlament im Zweckartikel in einer knappen For­mulierung festgehalten. Der Zusammenhang von Ge­setz, Lehrplan und Lehrmittel kann rein organisa­torisch wie folgt beschrieben werden: Der Lehrplan ist eine Umsetzung des Schulgesetzes und der darin festgelegten Rahmenbedingungen. Diese Rahmenbe­dingungen werden in den allgemeinen Leitideen und den Fachbestimmungen konkretisiert. Ausgehend vom Lehrplan werden darauf abstützende Lehrmittel ausgearbeitet, die den Unterricht prägen sollen. Die­ser Prozess wird theoretisch als deduktiver Prozess verstanden. Das heisst, dass aus allgemeineren Wert­vorgaben konkretere Werte abgeleitet werden. Dass das alles andere als einfach ist und deshalb ein gros­ser hermeneutischer Spielraum bestehen kann, möch­te ich kurz aufzeigen. Gerade der Auswahlprozess macht ein Begründungs- und Rechtfertigungsver­fahren nötig, denn bei einer öffentlichen Angelegen­heit, wie es die staatliche Bildung ist, erwarten wir, dass Handeln, wenn zwar öfters nicht bewusst von Gesetzen oder Prinzipien geleitet, so doch zumindest im Nachhinein durch Prinzipien rechtfertigbar ist.

In diesem Begründungsprozess tauchen verschiedene Problemkreise auf, die ich kurz erörtern möchte: a)

Begründungsprobleme (siehe LEMKE 1993, 1016­1028), b) Konsensprobleme, c) Deduktionsprobleme (siehe BRUMLIK 1993, 535-543), d) Selektionspro­bleme.

a) Je pluralistischer eine Gesellschaft wird, desto schwieriger lassen sich allgemeine Werte oder Nor­men für die Erziehung begründen. Rational begrün­den lassen sich Normen ohnehin nur bis zu einem ge­wissen Punkt. Anjenem Punkt kommt man in das von ALBERT (1968, 13) so benannte Münchhausen- Trilemma. Man hat drei Möglichkeiten: Entweder bricht man die Begründungskette an irgendeinem Punkt ab, oder man macht einen Zirkelschluss, oder die Argumentation wird unendlich weitergeführt. Werte sind somit nicht letztlich rational begründbar.
b) Selbst wenn Normen, zum Beispiel der Zweck­artikel im Schulgesetz, gegeben sind, erfordertjeder ableitende Begründungsschritt einen Deutungs­vorgang, der einen Konsens erfordert oder wiederum in Frage gestellt werden kann.
c) Deduktionsprobleme entstehen deshalb, weil eine Begründung von Lernzielen aus höheren Zielen nicht in einem logischen System bleiben kann, sondern mit empirischer Einschätzung verbunden ist. Eine Mög­lichkeit der Begründung ist die Deduktion aus höhe­ren Prinzipien. Aus einem Obersatz und einem damit verbundenen Untersatz (z. B. einer empirischen Fest­stellung) kann man eine weitere Folgerung ziehen. So lässt sich aus der Aussage: 'Alle Menschen sind sterblich' und der empirischen Aussage 'Ich bin ein Mensch' die logische Folgerung ziehen: 'Ich bin sterb­lich.' In der pädagogischen Diskussion der 60er-Jahre wurde zunehmend klarer, dass es in vielen Fällen sehr schwierig ist, Konkretisierungen allgemeiner Aussagen zu machen, vor allem sind diese Schlüsse nicht logische Schlüsse, da sie sonst eindeutig wären. Zum Beispiel glaubte man lange Zeit den Begriff der 'Toleranz' aus dem Wesen der christlichen Lehre ab­leiten zu können. Heute wird das aber zunehmend be­zweifelt und der Toleranzbegriff historisch eher dem Konzept der Aufklärung zugeordnet. Deshalb ver­wendet man in d) der Lehrplanentwicklung nicht ein de­duktives Begründungsverfahren, sondern ein Ver­fahren, das auch Schlussregeln inhaltlicher Art zu­lässt. Ein Beispiel für ein inhaltliches Kriterium ist die Annahme, dass die meisten Menschen in dem Land geboren sind, dessen Staatsbürgerschaft sie be­sitzen. Die Begründung von Erziehungszielen wird deshalb eher als hermeneutisches Verfahren gesehen, das keinen harten Kriterien gerecht werden kann, da eben nicht formallogische, sondern nur substantielle Begründungen möglich sind.

Schliesslich ergeben sich d) Selektionsprobleme, da auch hier wieder ein Konkretisierungsvorgang, ein Deutungsvorgang stattfinden muss, über welche In­halte nun welche Ziele am besten erreicht werden können.

Zu den theoretischen Schwierigkeiten, Wertgrundla­gen auszuhandeln, die für das Erziehungsgeschehen leitend sein sollen, kommt die Schwierigkeit, politi­sche Prozesse fair zu gestalten. Auf die Frage, wie politische Prozesse zur Erarbeitung von Bildungs­grundlagen gestaltet werden sollen, hat unter anderen WENIGER (1952) einen prägenden Vorschlag ge­macht. Sobald Erziehung und Bildung öffentlich sind, spielt nicht mehr nur die Weltanschauung der Eltern oder der Lehrer hinein, sondern auch die der Öf­fentlichkeit, wie sie sich durch das staatspolitische Mächtespiel konkretisiert. Wie und inwieweit der Staat überhaupt auf den Bereich der Bildung und Er­ziehung Einfluss nehmen soll, ist ein kontroverses Thema, seit der Staat seinen Einfluss auf das Schuls­system verstärkt hat. Weil der Staat die Glaubens­und Gewissensfreiheit garantieren will, muss die staatliche Schule von allen besucht werden können, ohne dass dabei die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Schüler oder Lehrer verletzt wird. Es geht für die staatliche Volksschule darum, in einem öffentlichen Selektionsprozess den Wertrahmen für die Schule zu bestimmen, der von der Mehrheit bevorzugt und durch den die Minderheit in ihrer Glaubens- und Ge­wissensfreiheit nicht verletzt wird. Nach WENIGER (1952) kommt die Gesellschaft nur durch einen Pro­zess des kämpferischen Aushandelns zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen zu einem Kom­promiss bezüglich der Wertgrundlagen. Er spricht von einem 'Kampf der Bildungsmächte'. Er verwen­det diesen Begriff im Zusammenhang mit der Lehr­planerarbeitung des Staates für die allgemeine Volks­schule.

Noch bis tief ins 19. Jahrhundert glaubte man an einen richtigen und zeitlosen Lehrplan. Erst durch die staatliche Organisation der Schule und dem damit verbundenen Einfluss verschiedener Gesell­schaftsgruppen mit unterschiedlichen Wertprioritäten kam es zu Lehrplandiskussionen. Diese Diskussion um den Lehrplan und damit implizit um die 'wahren' Erziehungswerte hatte verschiedene Phasen. Zuerst ging es darum, den Einfluss der Kirche auf die Schule zu reglementieren. Als dies bewerkstelligt war, galt die Lehrplanarbeit lange Zeit als Aufgabe der Exper­ten. HOPMANN (1988) beschreibt, wie viele Päd­agogen gegen Ende des letzten Jahrhunderts in Deutschland dem Einfluss des Staates auf den Lehr­plan eher skeptisch gegenüberstanden.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts stritten vor allem die Lehrer und der Staat miteinander um den Lehrplan. WENIGER war einer der ersten, der die Lehrplanent­wicklung als gesellschaftlichen Prozess verstand. Er verstand ihn erstmals als gellschaftlichen Wertkon­flikt und versuchte Wege aufzuzeigen, um diesen Konflikt auf faire Art zu lösen. Nach WENIGER be­steht folgendes Problem:

"Der Lehrplan gibt an, was im Unterricht gelten soll, und so muss jeder Faktor des geistigen Le­bens, jede Gruppe der Gesellschaft, jede Anschau­ung, die dauernd und in der Breite auf die Jugend innerhalb von Lehre und Schule wirken will, ver­suchen, Anerkennung und Stellung in den gelten­den Lehrplänen zu erhalten. Jede geistige Be­wegung oder Richtung ist erst dadurch als Bil­dungsmacht auf die Dauer anerkannt und gesi­chert, dass ihren Bildungszielen eine Stellung im Lehrplan eingeräumt wird. Der Kampf um den Lehrplan ist nicht, wie es manchmal scheint, ein Streit um die besten Methoden des Unterrichts 21 Zum Beispiel gestand SCHLEIERMACHER dem Staat nur eine subsidiäre Funktion zu: Solange "es darauf ankommmt, eine höhere Potenz der Ge­meinschaft und des Bewusstseins derselben zu stif­ten, kommt der Staat rechtmässigerweise dazu, ein­en tätigen Anteil an der Erziehung des Volkes zu nehmen." Sei nun der Staat "an der Grenze seines Berufes angekommmen", so müsse er "... die Erziehung, die er so lange verwaltet hat, in die Hände des Volkes zurückgeben" (SCHLEIER­MACHER 1814, 166 hier: HOPMANN 1988, S. 82) oder um die Auswahl und Verteilung eines gege­benen Stoffes, sondern ein Kampf geistiger Mäch­te..." (WENIGER 1930, 22; hier HOPMANN, 107).

Dieser 'Kampf geistiger Mächte' ist ein Streit um Werte und vor allem um deren Priorität in der Schule, wie ich das oben am Beispiel des 'nationalen Identi­tätsgefühls' aufgezeigt habe. Immer wieder hat es den Versuch gegeben, diesen Streit durch wissenschaftli­che Analysen zu ersetzen und ihn damit der öffentli­chen Diskussion zu entziehen. Wie SCHMID (1995) aufgezeigt hat, versuchten die empirische und die emanzipatorische Pädagogik in den 60er- und 70er- Jahren ihren Ansatz absolut zu setzen, um ihn da­durch dem Kampf geistiger Mächte zu entziehen. Ihre Erkenntnisse galten absolut, sie waren die neue Wahrheit:

"Sowohl empirische als auch emanzipatorische Pädagogik verkündeten die neue Wahrheit - und es kann mit einiger Plausibilität angenommen werden, dass sie sich auch darum auf breiter Basis durchsetzten, weil sie mit so absolutem Anspruch antraten. Der bis anhin vorherrschende Konsens war fragwürdig geworden, doch konnte er nicht durch eine 'stille Revolution' den veränderten Be­dingungen angepasst werden: Sollte etwas Neues an seine Stelle treten, so musste dieses Neue ab­solut gesetzt werden. ... Noch deutlicher wird die­ser Mechanismus (der Mechanismus des Ab­solutsetzens. Anm. D.K.) in der Ausprägung der emanzipatorischen Pädagogik: Der für sich ge­nommen kaum geklärte, erziehungstheoretisch nur vage fundierte Emanzipationsbegriff wurde zum obersten Bezugspunkt eines 'ideologiekritischen' Wissenschaftsschemas, das sehr viel versprach und doch im Endeffekt wenig halten konnte" (SCHMID 1993, 119/120).

Die Position der emanzipatorischen Pädagogik und deren Werte wurden nicht mehr als eine von vielen Mächten im Kampf der Bildungsmächte gesehen, sondern über die anderen Positionen gestellt. SCHMIDs Arbeit zeigt, wie problematisch es sein kann, wenn Gruppierungen ihre Wertvoraussetzun­gen nicht in einer gesprächsbereiten Haltung ver­treten, sondern versuchen, sie der öffentlichen Dis­kussion zu entziehen. Jeder Ansatz muss in einer of­fenen Gesellschaft seine Grundlagen der Diskussion stellen und in eine offene Auseinandersetzung dar­über treten, was in der staatlichen Volksschule ge­lernt werden soll. Dies gilt auch für eine von christli­chen Werten geleitete Position, wenn man sie im Blick auf die staatliche Bildung vertreten will.

Annäherung an die Begriffe 'christlich' und 'christliche Werte'

Das Label 'christlich' oder 'kirchlich' wird von ver­schiedenen Personen und Institutionen mit sehr unter­schiedlichem Inhalt gefüllt. Deshalb geht es mir in diesem Kapitel darum, präziser zu fassen, was unter einer christlichen Wertausrichtung oder dem Begriff 'christlich' verstanden werden kann.

"Ich verwende diesen Begriffjetzt mal sehr weit, ohne ihn scharf definieren zu wollen." Diese Aus­sage, letztmals gehört an einem universitären Wei­terbildungskurs, deutet an, wie vage viele Begriffe heute geworden sind. Man muss sie, so kann es schei­nen, bewusst vage verwenden, wenn man verhindern will, dass bei dem Versuch einer Definition sofort Widerspruch laut wird und so keine begriffliche Ba­sis für ein vernünftiges Gespräch mehr vorhanden ist. Das ist problematisch, da wir auf der einen Seite ge­wisse Begriffe als Verständigungsrahmen brauchen, um eine Argumentation führen zu können, und auf der anderen Seite die Gefahr besteht, dass mit nur scheinbar klaren Begriffen eine Einigkeit hergestellt wird, die gar nicht vorhanden ist. Dies gilt besonders auch für Begriffe aus dem religiösen Sprachgebrauch. Diese sind ausserdem oft moralisch aufgeladen und dürfen nicht mehr diskrimierend im Sinne von unter­scheidend verwendet werden. Wie unklar die Bedeu­tung des Begriffes 'christlich' ist, werden wir im Ka­pitel über die Befragung verschiedener christlicher Schulinstitutionen sehen. Aus einem Begriff mit ei­nem relativ klaren Bezug ist ein moralisierender Be­griff geworden, der sehr unterschiedlich gefüllt wer­den kann. 'Christlich' kann heute von 'anständig' bis 'dogmatisch' ein breites Spektrum an gegensätzlichen Bedeutungen haben. LEWIS (1977) greift das Pro­blem der Bestimmung des Begriffs 'Christ' auf und beschreibt, was verschiedene gegen seine Annähe­rung an den Begriff eingewendet haben: "'Wie kom­men Sie dazu', wurde ich gefragt, 'zu bestimmen, wer Christ ist und wer nicht?' Oder: 'Ist nicht mancher, der an diese Lehren nicht glauben kann, ein weit bes­serer Christ und dem Geist Christi viel näher als man­cher Gläubige?'" (LEWIS 1977, 13). LEWIS zeigt volles Verständnis für diesen Einwand, weist aber daraufhin, dass wir uns der Sprache nicht so bedie­nen können, ohne gleichzeitig Verwirrung zu stiften. Er illustriert das am Begriff'Gentleman':

"Das Wort 'Gentleman' bezeichnete ursprünglich etwas klar Definiertes, einen Mann, der ein Wap­pen führte und einigen Grundbesitz hatte. Wenn manjemanden einen Gentleman nannte, war das kein Kompliment, sondern die Feststellung einer Tatsache. Sagte man von einem anderen, er sei kein Gentleman, war das keine Beleidigung, son­dern lediglich eine Information. Es war kein Wi­derspruch zu sagen, Hans sei ein Gentleman und ein Lügner Doch dann kamenjene Leute, die so richtig, so nachsichtig, so geistlich und feinfühlig und doch so völlig nutzlos behaupteten: 'Aber zeichnet sich ein Gentleman nicht vielmehr durch sein Benehmen aus als durch Wappen oder Grundbesitz? Ist nicht erst der ein wahrer Gentle­man, der sich beträgt, wie es eines Gentlemans würdig ist?'" (ebd., 13f).

Dadurch wurde ein klar definierter Begriff mit einem klaren Aussagebereich zu einem schwammigen Be­griff:

"Wer heutejemanden in diesem neuen, vertieften Sinn einen Gentleman nennt, der gibt keine Aus­kunft über ihn, sondern erteilt ihm ein Lob; ...Wenn ein Wort aber aufhört, etwas konkret zu beschreiben, und statt dessen zu einem blossen Lobeswort wird, eignet es sich kaum mehr dazu, über Tatsachen Auskunft zu geben. Das Wort Gentleman, seiner ursprünglichen, groben, objek­tiven Bedeutung entkleidet, vergeistigt und verfei­nert, bezeichnet dann nur noch einen Mann, den man persönlich nett und anständig findet. Damit ist das Wort aber unbrauchbar geworden. Lobes­worte gibt es schon zur Genüge, ein neues wäre nicht nötig gewesen. Wenn esjemand heute in sei­nem ursprünglichen Sinn anwenden will (viel­leicht in einem geschichtlichen Werk), muss er es erst lange erklären. Es ist auch für diesen Zweck untauglich geworden" (ebd., 14).

Dieses Phänomen ist nicht neu und auch nicht ein­fach auf religiöse Begriffe beschränkt. Es taucht zum Beispiel auch in der ganzen Diskussion der interkul­turellen Pädagogik auf, was von LATHAM (1989) klar aufgezeigt wird. Der Begriff der 'interkulturellen Pädagogik' ist alles andere als klar definiert, was aber niemanden daran hindert, ihn weiter zu verwenden und die Forschung in dieser Richtung voranzutreiben. Das bestätigt auch FENTON (1989), wenn er seinen Beitrag relativ gelassen mit folgender Bemerkung ab- schliesst:

"Meine abschliessende Überlegung ist an diejeni­gen gerichtet, die auf dem Gebiet von 'was-auch- immer'-Erziehung direkt engagiert sind. Was die­ses 'was auch immer' nun eigentlich ist, lässt sich endlos diskutieren, wird sich aber schliesslich bei demjeweils gemeinten Schwerpunkt einpendeln, und in der Praxis unter der Rubrik 'passend und bequem'. ... Und über die Bedeutung dieser Be­griffe wird sowieso nicht in der Theorie, sondern in der Praxis entschieden" (FENTON 1989, 102f).

Wir sehen, dass bei gewissen Begriffen die Bedeu­tung offensichtlich so unklar geworden ist, dass sie keine diskriminierenden Aussagen mehr zulassen, während bei anderen die inhaltliche Breite offen­sichtlich nicht zu stören scheint. Auch NEUHOLD (1992) betont, dass Konkretisierungen von Werten immer Annäherungen sind, die nur bis zu einem be­stimmten Masse präzisiert werden können, ohne dass sie ihre Bedeutung verlieren. Das spricht nun aber nicht für unklare Begriffe, sondern zeigt auf, dass eine klare Abgrenzung und Bestimmung von Begrif­fen nicht unendlich weit getrieben werden kann, ohne dass der Inhalt dadurch wieder unklarer wird. Ich ver­mute, dass bei Werten, die man fördern will, begriff­liche Unklarheit weniger ins Gewicht fällt als bei sol­chen, die man z. B. als altmodisch empfindet. Immer wieder ist in Diskussionen um den Einfluss christli­cher Werte geltend gemacht worden, dass man gar nicht bestimmen könne, was man darunter vestehen soll. Ich möchte hier zeigen, dass man eine ausrei­chende Bestimmung finden kann.

Wenn man verschiedene Begriffsbestimmungen in ei­nigen Lexika betrachtet, merkt man, dass der Begriff 'christlich' vielerorts gar nicht vorkommt. Es gibt zwar christliche Philosophie, aber das Adjektiv selbst kommt nicht vor, während andere Adjektive sehr wohl beschrieben werden. Um einen knappen Über­blick zu erhalten, zitiere ich zunächst die Um­schreibung des Begriffs 'Christentum' aus der Brock­haus-Enzyklopädie, die folgende Konstanten anführt:

"Von den Anfängen an aber gibt es Konstanten: den Monotheismus, das Bekenntnis zu Jesus Christus, die Nachfolge Jesu und eine aus ihr re­sultierende Gemeinschaft (Gemeinde/Kirche), ei­nige zeichenhafte Vollzüge (Sakrament; v.a. Tau- fe, Eucharistie, Busse), spezifische ethische Nor­men (z. B. Nächstenliebe), die Hoffnung auf eine ohne Vorbedingungen geschenkte Erlösung" (Brockhaus 1987, Bd. 4, 545).

In dieser Aufzählung, die fast nur Konstanten, die mit der kirchlichen Praxis Zusammenhängen, enthält, feh­len meines Erachtens wesentliche Aspekte. Es wer­den ausschliesslich Konstanten aufgezählt, die zwar mit der religiösen oder kirchlichen, nicht aber mit der ethischen oder lebensgestaltenden Funktion des christlichen Glaubens zu tun haben. Was aber m. E. zum Kern des Christentums gehört, ist der explizite Bezug des ganzen Lebens zum christlichen Glauben und zu christlichen Werten. Christen haben immer auch, in mehr oder weniger ausgeprägter Form, zum Beispiel im Verhältnis des Menschen zu seiner Um­welt, die Verantwortung und Bewertung der Schöp­fung als Schöpfung Gottes betont. Christsein kann m. E. nie rein kirchliche Praxis sein und damit vom übrigen Leben vollständig getrennt werden. Wie die­ses Verhältnis bestimmt werden soll, wird uns noch eingehend beschäftigen; aber dass da gemäss dem Selbstverständnis des Christentums irgend ein Ver­hältnis bestehen muss, halte ich für zentral. Dies be­stätigt zum Beispiel das Selbstverständnis der Evan­gelisch- Reformierten Landeskirche, wie es in der Kirchenordnung (Auftrag der Kirche) festgehalten ist: "Sie bezeugt, dass das Wort Gottes für alle Berei­che des öffentlichen Lebens, wie Staat und Gesell­schaft, Wirtschaft und Kultur gilt; sie bekämpft alles Unrecht sowie jede leibliche und geistige Not und ihre Ursachen" (Verfassung der Evangelisch-Refor- mierten Landeskirche des Kantons Bern. 13. Oktober 1946. Art. 2 Abs. 4). Auch PANNENBERG (1986) betont diesen Aspekt in seinem Buch 'Christentum in einer säkularen Gesellschaft'. Er zeigt auf, welche Aufgabe sich dem Christentum in einer säkularen Ge­sellschaft stellt:

"Die Chance des Christentums ... ist vielmehr, das reduzierte Wirklichkeitsverständnis der säkularen Kultur und ihres Menschenbildes in ein grösseres Ganzes zu integrieren, der reduzierten Rationalität der säkularen Kultur gegenüber eine grössere Weite der Vernunft selbst offenzuhalten, zu der auch der Horizont der Gottesbindung des Men­schen gehört... So meine ich, dass es auch für die christliche Auseinandersetzung mit der säkularen Welt darauf ankommt, den Verkürzungen der sä­kularen Kultur gegenüber eine tiefere und weitere Vernunft zur Geltung zu bringen: Darin ist dann der scheinbare Gegensatz von Theonomie und Autonomie aufgehoben, darin sind die grossen Er­rungenschaften der säkularen Kultur wie der Tole­ranzgedanke und die politischen Freiheitsrechte bewahrt" (PANNENBERG 1988, 75f).

Gerade das Wirklichkeitsverständnis prägt den Rah­men, in den wir die Lehrinhalte der Schule stellen, und NEUHOLD (1992) betont, dass hier die Religion sich immer als 'Supercode' verstanden hat und nicht nur eine Nische der Gesellschaft ausfüllen wollte.

Eine weitere Annäherung ermöglicht der Begriff 'Christ', da in diesem Begriff auch Werthaltungen und Überzeugungen zum Ausdruck kommen, denen ge­genüber ein Christ verpflichtet ist. 'Christ' wird im Evangelischen Lexikon für Theologie und Gemeinde (1992) wie folgt umschrieben:

"Christ" als Bezeichung für die Anhänger Jesu kommt im NT nur dreimal vor. 1. Sprachliches. Der Begriff ist gebildet aus dem Wortstamm von 'christos' ('der Gesalbte') und der Endung 'ianos'. Im lateinischsprachigen Bereich bezeichnet sie die Zugehörigkeit zu bzw. die Anhängerschaft einer Person. ... Demnach sind die 'Christen' die Gruppe der Anhänger des von ihnen als Christus verehrten Jesus von Nazareth. 2. Geschichtliches. 'Christen' wurden Jesu Anhänger genannt, als sie begonnen hatten, ihn als erhöhten Weltherrn zu bezeugen.

Es war vermutlich eine polemisch-ausgrenzende Bezeichnung..., die voraussetzt, dass sie sich auch für Aussenstehende bereits deutlich von der sie entbindenden jüdischen Gemeinde unterschei­den 3. Inhaltliches. Das Wort wird im NT nicht eigens 'definiert', weil es keiner Definition bedarf. Die Zeitgenossen der frühen Gläubigen hatten ein gutes Gespür dafür, was die Christen zentral aus­machte: ihre Beziehung auf und zu Christus. Erst im 2. Jahrhundert gebrauchten die Apologeten es als Selbstbezeichnung" (NEUDORFER 1992, 365f).

Diese Einschätzung, dass die Zugehörigkeit vor allem eine Frage des Gespürs ist, stelle ich insofern in Fra­ge als sowohl in den Lehrbriefen des neuen Testa­ments, den Evangelien, als auch in sehr frühen Tex­ten der christlichen Tradition auf die ethische Dimen­sion des Christentums grosses Gewicht gelegt wird und das ganze Leben durch den Lebensstil als Chris­ten geprägt werden soll. Nur wer dazu bereit war, wurde getauft und damit in die Gemeinde aufgenom­men Somit war es von Anfang an klar, wer dazuge­hören kann und wer nicht. Getauft wurde jemand erst, wenn er sich der Notwendigkeit eines 'Werte­wandels' und der damit verbundenen Risiken bewusst war.

Zusammenfassend halte ich folgende Aspekte der Be­griffe 'Christ' und 'christlich' fest:

a) Wie bei der letzten Umschreibung deutlich wurde, muss ein Bezug zur Person Christi, zu seinem Le­ben oder seiner Lehre, wie sie in der Bibel darge­stellt wird, vorhanden oder zumindest herleitbar sein.
b) Das Christentum ist eine Buchreligion, so dass ich mir Christentum nicht ohne Bezug zur Bibel vor­stellen kann.
c) Das Christentum stellt Bezüge zur Gesamtheit des Lebens (zum Beispiel zur Beziehung Mensch­Schöpfung) her und betrifft nicht nur isoliert die religiöse Praxis. Christliche Werte haben einen Bezug zum ganzen Leben und nicht nur zum reli­giösen Ausdruck. Ich werde weiter hinten ausfüh­ren, wie dies konkret aussehen kann.

Wenn der Begriff 'christlich' sehr weit gefasst wird, kommt es vor, dassjemand damit irgend ein freund­liches oder angenehmes Verhalten meint, ohne dass es in irgendeinem Bezug zur Lehre oder Person Christi steht. Wenn aber der Begriff so weit ver­wendet wird, ist keine Inhaltsannäherung, geschweige denn eine Operationalisierung mehr möglich. Das aber betrachte ich als Verlust; zudem würde eine sol­che Bestimmung des Begriffs meine Arbeit verun­möglichen. Deshalb muss ich hier zwei ent­scheidende Abgrenzungen machen.

a) Verdeckter christlicher Bezug:

Eine christliche Ausrichtung und Lebensgestaltung kann nicht so weit gefasst werden, dass überhaupt kein Bezug zur christlichen Lehre oder Überlieferung oder zur Person Christi oder zur Bibel besteht. Wenn jemand nach christlichen Werten lebt, ohne sich des­sen bewusst zu sein oder ohne sie als christliche Wer­te zu betrachten, spreche ich nicht von Verhalten, das von christlichen Werten geleitet ist. Sonst kannjedes beliebige angenehme oder moralische Verhalten als christlich ausgegeben werden. LUCKMANN (1993) hat in seinem Buch 'Die unsichtbare Religion' diese unsichtbare 'Nachwirkung' der Religion in einer säku­laren Gesellschaft thematisiert. Christliche Werte können zwar nachwirken und weiterhin die Werthal­tungen der Menschen prägen, aber ich würde diese Werthaltungen nur dann als christlich bezeichnen, wenn sie sich durch irgend einen Bezug weiterhin als christliche Werte auszeichnen. Zum Beispiel ist denkbar, dass der Begriff der 'Nächstenliebe' durch den Begriff der 'Solidarität' oder 'Toleranz' abgelöst wird. 'Nächstenliebe' ist ein Begriff, der vor allem in christlichem Kontext verwendet wird. In einem säku­laren Kontext wird er deshalb entweder nicht mehr verwendet werden, oder erst dann wieder, wenn die­ser christliche Bezug verschwunden ist. Dies wurde zumindest in der Untersuchung des Schulmaterials klar deutlich. Wertbegriffe, die ursprünglich christ­lich geprägt waren, werden konsequent weggelassen oder dann nur aus Überzeugung verwendet.

b) Verengter christlicher Bezug:

Christliche Werte beschränken sich nie nur auf Hand­lungen, die innerhalb der Kirche oder im Namen der Kirche ausgeführt werden. Dies wäre zwar für meine Untersuchung eine praktische Einschränkung,jedoch würde meine Arbeit damit hinfällig, da die Schule in­stitutionell, ausser gewisse Privatschulen, schon lan­ge von der Kirche getrennt worden ist. Diese Haltung widerspricht aber vor allem einem reformierten Glau­bensverständnis, das das ganze Leben unter die Herr­schaft Gottes, aber nicht zwingend auch in den Herr­schaftsbereich der Kirche stellen will. Wenn deshalb - so mein Ansatzpunkt - die Kirche ihren gesell­schaftlichen Einfluss verliert, heisst das nicht zwin­gend, dass auch explizit christliche Werte ihren Ein­fluss verlieren. Gerade in den 50er-Jahren wurde im Kanton Bern der Zweck der schulischen Erziehung bewusst christlich, aber damit noch lange nicht als Aufgabe der Kirche verstanden. Auch dann, wenn die Schule nicht länger als Aufgabe der Kirche verstan­den wird, kann sie immer noch von christlichen Wer­ten geprägt sein. Diese Unterscheidung zwischen kirchlichem und christlichem Einfluss ist auch für das Verständnis des Säkularisierungsbegriffs, wie er heu­te verwendet wird, entscheidend. Das soll im nächs­ten Kapitel deutlich werden.

Wertewandel verstanden als Säkula risie rungs prozess

Für meine Untersuchung unterstelle ich eine Ver­änderung der Bedeutung christlicher Werte in der Volksschule des Kantons Bern. Man kann in dem Zu­sammenhang von 'Wertewandel' oder wertender von 'Werteverlust' sprechenjedoch sind beide Begriffe eher missverständlich. Der Begriff 'Werteverlust' - oder 'Wertezerfall' - drückt aus, dass gesellschaftli­che wie individuelle Entscheide nicht mehr von her­kömmlichen und damit aus konservativer Sicht wert­vollen Werten bestimmt sind, sondern aufgrund von mehr oder weniger willkürlichen Empfindungen ge­fällt werden23. Deshalb spricht man von einem Ver­lust oder Zerfall. Die Verwendung dieses Begriffs ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens ist der Begriff wertend und kulturpessimistisch, und zwei­tens hat zum Beispiel LUCKMANN (1993) nach­gewiesen, dass Entscheide auch heute noch aufgrund von Werten gefällt werden, dass sich aber sowohl die Umschreibung, d. h. der Inhalt der Werte, als auch die Bedeutung herkömmlicher Werte, d. h. deren Priorität im Gesamtsystem, gewandelt hat. Deshalb verwendet man heute meistens den Begriff'Werte­wandel'. Dieser Begriff ist aber insofern missver­ständlich, als Werte meistens nur in einem be­grenzten Mass inhaltlich neu definiert und in dem Sinne gewandelt werden können, ohne dass dafür nicht auch eine neue Bezeichnung verwendet wird. Man kann zwar versuchen, durch eine definitions- mässig unübliche Verwendungsweise Begriffe umzu- werten,jedoch muss man dann fastjedesmal die neue Definition mitnennen. Ein Beispiel dafür ist der Be­griff'Schöpfung', der gelegentlich sowohl verwendet wird, um auszudrüken, dass die Natur Schöpfung Gottes ist, als auch, um das Resultat des durch Zeit und Zufall bestimmten Evolutionsprozesses zu be­zeichnen. Wie aber gerade die Lehrplan- und Lehr-

23 Diese Bewertung des Wandels als 'Zerfall' ist ver­ständlich. NEUHOLD (1992) zeigtauf, dass Werte­wandel oft eine Art Protestcharakter hat und sich vom bestehenden konservativen Wertsystem abgren­zt und umgekehrt auch von diesem ausgegrenzt wird.

mittelanalyse zeigen wird, war das in den letzten fünfzig Jahren kaumje der Fall. Fast immer wurde der Begriff'Schöpfung' durch die Begriffe 'Natur' oder 'Lebendiges' ersetzt, die keinen Hinweis auf einen Schöpfer implizieren.

Das, was unter dem sogenannten 'Wertewandel' ver­standen wird, lässt sich vor allem als Wandel der Priorität bestimmter Werte beschreiben: Gewisse Werte werden zu Orientierungswerten erhoben, ande­re verlieren an Einfluss. Zum Beispiel hat sich die Priorität christlicher Themen (und damit auch christ­licher Werte) in der Gesellschaft verändert: Wenn 1951 noch von einer grösseren Anzahl Politiker in der Schulgesetzdiskussion auch auf biblische Werte und Aussagen Bezug genommen worden ist, ist das um 1991 nicht mehr der Fall. Das heisst nun aber nicht, dass biblische Werte um 1991 herum bedeu­tungslos geworden sind, aber ihre Priorität ist tiefer, und der Ort, an dem sie Bedeutung haben, ist entwe­der auf den Raum der Kirche oder den privaten Be­reich beschränkt. Nicht der Wert an sich hat sich ge­wandelt, sondern die Priorität des Wertes. Wenn ich deshalb von Wertewandel spreche, verstehe ich dar­unter vor allem einen Prioritätenwandel innerhalb des gesamten Wertesystems der Gesellschaft. Die Bedeu­tung gewisser Werte nimmt zu, die Bedeutung ande­rer ab. Meistens aber, so LUCKMANNs These, über­leben sie in irgendwelchen gesellschaftlichen Ni­schen.

Diesen als Hypothese unterstellten Wandel der Prio­rität von christlichen Wertvorstellungen möchte ich in dieser Arbeit untersuchen. Da ich als weitere Hy­pothese ein Abnehmen der Bedeutung christlicher Werte unterstelle, bietet sich zur Beschreibung das Konzept der Säkularisierung an. Der Bedeutungsver­lust christlicher oder kirchlicher Werte für die Gesell­schaft wird als 'Säkularisierung' umschrieben. Des­halb wende ich mich als nächstes dem Begriff der Sä­kularisierung zu, da es in der Diskussion der Säku­larisierung auch um die Priorität christlicher und kirchlicher Werte in der Gesellschaft geht.

Der Begriff 'Säkularisierung' steht für einen Vorgang, in dem sich die Gesellschaft von einem religiös­kirchlichen Zustand in einen nicht mehr religiös oder kirchlich gebundenen Zustand verwandelt. Wie KOERRENZ (1994) in einem Aufsatz mit dem Titel 'Ist eine säkulare Erziehung möglich? Eine christliche Perspektive.' aufzeigt, ist es wichtig, zwischen 'religi­ös' und 'christlich' zu unterscheiden, wenn man von 'Säkularisierung' spricht. Ich verwende in dieser Ar­beit immer die beiden Begriffe 'christlich' und 'säku­lar' als Gegenüber. Wenn ich von 'Religion' oder 'reli­giös' spreche, meine ich, wo nicht anders angegeben, die christliche Religion. Es geht mirja darum, den Einfluss christlicher Werte zu prüfen, von daher er­achte ich diese Einschränkung des Blickwinkels in dieser Arbeit für zulässig. Erst in der neueren Litera­tur wird auf diese Unterscheidung mehr Gewicht ge­legt, da wie KOERRENZ (1994) betont, eine säkula­re Erziehung im Sinne einer nicht-christlichen Erzie­hung durchaus denkbar ist, aber eine säkulare Erzie­hung im Sinne einer nicht-religiösen Erziehung schwerer vorstellbar ist. Diesbezüglich sind in neue­rer Zeit anthropologische Zweifel aufgetaucht, ob und wie das möglich sein soll.

Die Begriffe 'säkular' und 'christlich' stehen auf der gleichen Ebene und beschreiben beide einen mehr oder weniger zur Ruhe gekommenen Zustand. Säku­larisierung beschreibt den Wandel der Priorität christ­licher Werte in eine bestimmte Richtung. Ich verstehe unter Säkularisierung die Abnahme der Bedeutung ei­nes christlichen Bezuges auf Gott oder das Ver­schwinden einer christlichen Herleitung und Sinnstif­tung innerhalb der verschiedenen Lebensbereiche.

Was versteht man unter 'säku­lar' und 'Säkularisierung'?

Ich beginne mit einigen Umschreibungen und Annä­herungen an die beiden Begriffe aufgrund verschiede­ner Fachlexika. Nach GALLING (1986) kommt der Begriff von 'saeculum', was 'Geschlecht', 'Menschheit' oder 'Weltzeitalter' bedeutet, und er hat durch die Verwendung bei Paulus und Augustinus die Bedeu­tung von 'weltlich' oder 'diesseitig' angenommen. 'Sä­kularisierung' bedeutet allgemein 'Verweltlichung' im Sinne von 'Entlassung oder Heraustreten aus dem geistlichen Stand'. Das heisst die Lösung geistlicher oder kirchlicher Vorstellungen und Gedanken sowie die Lösung geistlicher Sachen und Personen aus ihrer göttlichen oder kirchlichen Bindung. FIGL (1985) be­schreibt zwei grundsätzlich verschiedene Verwen­dungsweisen des Begriffs, die gerade für das Ver­ständnis meines Säkularisierungsbegriffs entschei­dend wichtig sind.

a) 'Säkularisierung' bezeichnet den Prozess der Emanzipation praktisch aller Bereiche der mensch­lichen Lebenswelt aus dem Sinnkontext des christli­chen Glaubens. Die Folge waren 'Entzauberung' der Welt und die Autonomisierung und Ausdifferenzie­rung gesellschaftlicher Bereiche. Historisch betraf dies besonders den Staat, das Ethos, die ökonomi­schen Beziehungen und das wissenschaftliche Metho­denbewusstsein. Dieses säkulare Verständnis hat das Verhältnis des Menschen zu sich, zur Geschichte (Kritik der Tradition) und zur Natur (Erforschung und Beherrschung) zutiefst geformt.
b) 'Säkularisierung' bedeutet, dass ursprünglich reli­giöse und christliche Verhaltensweisen, Sprachfor- men und Vorstellungen ausserhalb des glaubens- mässigen Kontextes volle Eigengesetzlichkeit erhal­ten und ohne Bezug zur Religion verstanden wer­den.

Die politische Akzentuierung erhielt der Begriff im Zusammenhang mit dem Entzug der Besitztümer der Kirche durch den Staat. Im Zusammenhang mit den Verhandlungen um den Westfälischen Frieden ist 'sä­kular' erstmals im Sinne von 'verweltlicht' im Gegen­satz zu 'geistlich' verwendet worden. Das Phänomen selbst aber kam in der Geschichte immer wieder vor. In dem Sinne hat die Schulhoheit eine Säkularisie- rung erfahren, da sie bis ins 19. Jahrhundert hinein dem Kirchenrecht unterstellt war. Aus dem Grund, weil es um Enteignung von Kirchenbesitz ging, ist mit dem Begriff eine Kategorie der Illegitimität ver­bunden, was vor allem die Begriffsgeschichte und die thematische Bearbeitung von theologischer Seite her deutlich zeigt. Es gibt hier verschiedene Ein­schätzungen des säkularen Wertewandels, die den Wertewandel zum Teil positiv und zum Teil radikal als Glaubensabfall bewerten. Vor allem GOGAR- TEN und COX (1981), der sich weitgehend auf GOGARTEN stützt, verstehen Säkularisierung als Freigabe des Menschen in seine Mündigkeit, die ihm als Kind Gottes zusteht. Der Bereich der Vernunft und der Bereich des Glaubens dürfen nicht mitein­ander vermischt werden, und deshalb untersteht das tägliche Leben, das von zweckrationalen Überlegun­gen geleitet wird, der Vernunft. Dem Glauben kommt in diesem Modell eine Trostfunktion zu. Dem radikal entgegengesetzt ist zum Beispiel die Vorstellung von HEIM (1930), bei dem Säkularisierung ein Ausdruck des gefallenen Menschen gegen die Abhängigkeit von seinem Schöpfer ist. Säkularisierung wird hier als Emanzipation des Menschen von seiner Lebens­quelle verstanden, die, so MANN (1980), nur schei­tern kann. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass bereits der Anfangspunkt, wo man Säkularisie­rung historisch ansetzt, darüber entscheidet, wie sie bewertet wird. COX setzt den Beginn der Säkularisie­rung in der Reformation an und beschreibt sie des­halb als Prozess der beginnenden Mündigkeit der Söhne Gottes. HEIM dagegen sieht den Beginn der Säkularisierung in der Aufklärung und beschreibt die­se deshalb als Beginn der Emanzipation von Gott. Auch bei katholischen Vertretern, zum Beispiel ER­LINGHAGEN (1972), wird das deutlich; nur wird hier gerade der Reformation eine wichtige Funktion im Säkularisierungsprozess zugeordnet, der aber im Spätmittelalter beginnt. Bei all dieser unterschied­lichen Bewertung kann man doch einige Konstanten herausschälen, was den Prozess der Säkularisierung ausmacht. Ich halte folgende Differenzierungen des Begriffs Säkularisierung fest:

a) Es gibt Säkularisierung im Sinne eines Verlustes von materiellen Besitztümern der Kirche. Dies be­traf auch z. B. die Kirchenschulen,jedoch nicht in dem Abschnitt, den ich untersuchen werde. Oft ver­stehen aber gerade katholische Kreise unter Säku­larisierung der Schule immer noch den Verlust der 25 siehe SCHLEIFF (1980). kirchlich-rechtlichen Schulhoheit. Ich werde hier von Säkularisierung verstanden als Entkirchlichung sprechen.

b) Säkularisierung kann den Verlust der glaubens- mässigen, das heisst auch wertmässigen Zugehörig­keit verschiedener Lebensbereiche, zum Beispiel der Schule, zum christlichen Glauben bedeuten. Dies be­trifft die christliche Ausrichtung der Schule, wie sie z. B. 1972 von PETITJEAN (1972) noch klar gefor­dert wurde.

c) Am schwierigsten zu bestimmen ist vermutlich die Säkularisierung von Verhaltens-, Sprach und Denk­formen, die sich darin äussert, dass diese Formen aus dem glaubensmässigen Kontext herausgelöst wer­den. Dies ist am ersten z. B. am religiösen Bezug er­kennbar, der früher oft bewusst gesucht wurde. Man denke zum Beispiel an die Naturtheologie, wie sie im 18. Jahrhundert betrieben wurde.

Es gibt eine Reihe von Begriffen, die dem Begriff 'Säkularisierung' ähnlich sind, sich aber doch in ge­wisser Hinsicht von ihm unterscheiden. Nach SAND­KÜHLER (1990) werden die Begriffe 'Säkularisie­rung', 'Säkularisation' und 'Säkularismus' häufig syn­onym verwendet. Zwei Unterscheidungen scheinen mir aber zentral. GALLING (1986) unterscheidet Sä­kularismus von Säkularisierung wie folgt:

"Säkularismus entspringt einer Haltung, welche Menschen der Welt wie sich selbst gegenüber ein­nehmen, in der Meinung, dass man die Welt, wie sich selbst, nur abgesehen von dem Einreden der Religionen, Kirchen oder Glaubenssätzen ange­messen wie sachlich richtig erkennen könne. Aus dieser Haltung heraus vollzieht der Mensch die Trennung von Religion auf der einen, Kultur,

Wirtschaft, Staat, Wissenschaft auf der anderen Seite. Säkularismus bezeichnet den vollzogenen Zustand dieser Trennung; der Vorgang selbst wird als Säkularisierung und Säkularisation bezeichnet. Säkularisierung oder Säkularisation verhalten sich zum Säkularismus wie Akt zum Sein. Der Vor­gang der Säkularisierung als 'Verweltlichung' kennzeichnet den Übergang eines religiösen Gutes in die Eigenständigkeit seiner selbst" (GALLING 1986, 1287).

'Säkularisierung' und 'Säkularisation' werde auch ich synomym verwenden und meine damit den Prozess der Verweltlichung. 'Säkularismus' (die Endsilbe '-is­mus' deutet die Absolut-setzung an) stellt den Endzu­stand dar, wenn die Welt ganz verweltlicht ist und keinen Bezug zur Religion mehr besteht. Dieser Zu­stand wird aber m. E. nie erreicht, sondern, wie gera­de BERGER (1975) und andere gezeigt haben, nimmt Religion wieder in anderer Lorm an Bedeutung zu. Auch hier erachte ich ein zyklisches Verständnis dem historischen Befund genauer entsprechend.

Im Zusammenhang mit der Säkularisierungsdiskus­sion spielen die Begriffe 'profan' und 'Profanisierung' eine Rolle. Ich grenze sie dadurch von 'Säku­larisierung' ab, dass es bei der 'Profanisierung' meis­tens um Gegenstände geht, die im Bereich des Got­tesdienstes eine Rolle spielen, zum Beispiel die Kunst. Die Kunst hat eine Profanisierung erfahren, die Schule dagegen eine Säkularisierung, da sie nie innerhalb der gottesdienstlichen Praxis bedeutungs­voll war, sondern nur zum Wert- und Einflussbereich der Kirche gehörte.

Auch die Gegenwart setzt sich mit religiös-christli­chen Werten und mit religiösen Bezügen ausein­ander. Wir sind m. E. eben keine vollständig säkulari­sierte Gesellschaft. Das wird zum Beispiel gerade im Miteinander von Kirche und Staat im Kanton Bern, aber auch im Kanton Zürich, wie vor kurzem durch die Stimmbürger wieder bestätigt wurde, deutlich.

Aus dem Grund ist die Lrage nach christlichen und kirchlichen Werten nach wie vor ein Thema, das un­sere Zeit beschäftigt.

Christliches Wertbekennt­nis und die Wahrung der Glaubens- und Gewissens - freiheit

Im Zusammenhang mit der Diskussion der Bedeutung christlicher Werte in der Staatsschule gab es eine Lra­ge, die wie keine andere kontrovers diskutiert wurde. Es ist die Lrage, ob eine christliche oder eine nicht­christliche Wertausrichtung der Schule mit der Glau­bens- und Gewissensfreiheit in Konflikt steht. Gerade im Zusammenhang mit der Schulgesetzdiskussion, aber auch bei der Lehrplangestaltung, wurde diese Lrage immer wieder aufgegriffen. Vielleicht zu unse­rem Erstaunen gab es, seit Kirche und Staat über die Schulfrage stritten, immer zwei völlig gegensätzliche Positionen. Zum Beispiel hat bereits MEYER (1863) den Staat so verstanden, dass er die Religion aller in sich vereinen muss und somit nicht religionslos sein soll. BEWERSDORF (1968) steht dem gerade entge­gen und spitzt seine Aussage auf die These zu, dass Religionsfreiheit die Trennung von Kirche und Staat bedinge. CZERMAK (1972) folgert aus der Tren­nung von Kirche und Staat, dass die Schule keine re­ligiösen Handlungen vollziehen darf. FRIEDRICH (1958) betont wegen dieser Trennung das Erzie­hungsrecht der Eltern und das grosse Gewicht, das Privatschulen zukommen muss, da vielen Eltern eine christlich-kirchliche Erziehung am Herzen liegt. Nur an Privatschulen ist ein gemeinsamer Wertkonsens möglich. Alle diese Arbeiten beanspruchen, die Glau­bens- und Gewissensfreiheit zu wahren, jedoch auf sehr unterschiedliche Art. Die einen Vertreter be­trachten es als Verstoss gegen die Glaubens- und Ge­wissensfreiheit, wenn die Schule nicht bekennt­nishaft-christlich ausgerichtet ist und die anderen leh­nen gerade dies mit Verweis auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit strikte ab. Ich stelle deshalb zwei exemplarischejuristische Arbeiten von 1972 vor, die sich explizit mit dieser Lrage auseinandersetzen. Die­se Arbeiten geben einen Rahmen für die Betrachtung der nachfolgenden Diskussion der Schulgesetze im Grossen Rat. Die Argumente, die hier systematisch ausgeführt werden, spielen in den parlamentarischen Diskussionen immer wieder aspekthaft hinein.

1972 wurde von den beiden Juristen DEHNHARD (1972) und PETITJEAN (1972)je eine Dissertation veröffentlicht, die sich mit der Lrage beschäftigt, wie christlich, respektive wie weltanschaulich neutral die Schule sein soll. Die Arbeiten kommen, obschon sie von gleichen Voraussetzungen ausgehen, nämlich der Wahrung der Glaubens- und Gewissensfreiheit, zu ganz gegensätzlichen Schlussfolgerungen darüber, welche Rolle der christliche Glaube in der Schule spielen darf. Obschon DEHNHARD sich auf die Rechtslage in Deutschland bezieht, stellt er eine idea­le Gegenposition zu PETITJEAN dar, weshalb ich mir erlaube, ihn hier anzuführen. Vor allem die Ar­beit von PETITJEAN gibt Einblick in die Argumente und die öffentliche Stimmung in den frühen 70er Jah­ren in der Schweiz. Ich fasse die beiden Bücher hin­sichtlich meiner Fragestellung zusammen und mache dann eine Gegenüberstellung der beiden Positionen.

Wahrung der Glaubens- und Gewissensfreiheit bedingt eine christliche Ausrichtung der Schule

"Seit etwa zwanzig Jahren gehen mehr und mehr Kantone dazu über, eine christliche Schulgrund­legung sogar von Rechts wegen zu verlangen, so dass heute über die Hälfte aller Gliedstaaten in ir­gendwelchen Rechtserlassen daraufhinweisen, ihre Schulen müssten christlich fundiert sein" (PETITJEAN 1972, lf).

Gerald PETITJEAN (1972) untersucht in seinem Buch 'Die christliche Grundlegung der Schule' die Frage, ob und inwieweit die Schulen in der Schweiz auf einer christlichen Grundlage stehen dürfen, in­wiefern sie sogar christlich ausgerichtet sein müssen, wenn die bundesrechtlich garantierte Religions­freiheit allseitig gewahrt werden soll. Ausserdem will er abklären, ob die erwähnten kantonalrechtlichen Bestimmungen, welche sich in irgendeiner Weise für die Christlichkeit öffentlicher Schulen aussprechen, vor dem Bundesrecht standhalten und welche Bedeu­tung diesen kantonalen Schulzweckartikeln zukommt, falls sie bundesrechtlich zulässig sein sollten. Er geht von Art. 27 der Bundesverfassung aus, in dem gefor­dert wird, dass die öffentlichen Schulen von Ange­hörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ih­rer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können:

"3 Die öffentlichen Schulen sollen von den Ange­hörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können.

4 Gegen Kantone, welche diesen Verpflichtungen nicht nachkommen, wird der Bund die nötigen Verfügungen treffen" (Bundesverfassung 1983, Art. 27, Abs. 3 und 4).

Die Bundesbehörden versuchten, so PETITJEAN, im letzten und anfangs dieses Jahrhunderts aus Art. 27 BV herzuleiten, dass alle konfessionellen Schulen, d. h. alle, die nur von Anhängern einer Konfession be­sucht werden oder deren Geist konfessionell ist, als verfassungswidrig hinzustellen. PETITJEAN kom­mentiert eine solche Position mit den Worten: "Wer immer diese Ansichten der Bundesbehörde teilt, ist der Auffassung, der Unterricht in öffentlichen Schu­len lasse sich so gestalten, dass er gegenüber allen re­ligiösen und weltanschaulichen Meinungen neutral ist" (ebd., 79). Dies aberhält PETITJEAN nicht für möglich, und zwar auch aus dem Grund, weil an sol­chen neutralen Schulen, wenn es sie geben könnte,ja immer noch die Glaubens- und Gewissensfreiheit der bekennenden Kinder verletzt würde. PETITJEAN sieht diese Position gestützt von Ulrich LAMPERT (1918, 164), der behauptet, dass der Glaubens- und Gewissensfreiheit dort am besten Rechnung getragen werde, wo Schulen nach Konfessionen getrennt seien und auch von entsprechenden Lehrern geleitet wer­den. Die Lehrer selbst stehen seiner Meinung nach nicht unter dem Schutz der Glaubens- und Gewis­sensfreiheit:

"Diese Vorschrift (Art. 27, Abs. 3 BV; Anm. D.K.) bezieht sich nämlich unbestrittenermassen nur auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit der 'Besucher' öffentlicher Schulen, das heisst nur auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Schüler, nicht aber auf diejenige der Lehrer" (PETITJEAN 1972, 77).

Noch 1972 gab es in St. Gallen und den Kantonen Wallis, Freiburg und Graubünden nur konfessionelle öffentliche Schulen. In verschiedenen Kantonen war der Unterricht, nach PETITJEAN, zudem konfessio­nell geprägt, zum Beispiel im Kanton Bern. PETIT­JEAN folgert deshalb mit Hinweis auf den positiven Gehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit:

"Die Auffassung, dass öffentliche Konfessions­schulen mit Art. 27 Abs. 3 BV unvereinbar sind, scheint mir indessen nicht richtig. Wegen des po­sitiven Gehaltes der Religionsfreiheit ist der Staat meines Erachtens berechtigt und verpflichtet, öf­fentliche Bekenntnisschulen zu fuhren, wo dies von der Bevölkerung gewünscht wird und wo ein entsprechendes Bedürfnis offensichtlich besteht" (ebd., 86).

Niemand soll aber gegen seinen Willen in eine kon­fessionelle Schule gezwungen werden; deshalb müsse der Kanton neben konfessionellen Schulen staatliche Schulen betreiben, diejeder, der dies wünscht, besu­chen kann. Diese 'öffentlichen' Schulen müssen dann jeden, ungeachtet seiner religiösen oder weltanschau­lichen Auffassung, aufnehmen. Man könneja nicht fürjede Ansicht eine eigene Schule schaffen. PETIT­JEAN betont aber, dass die öffentlichen Schulen nie in einem absoluten Sinne konfessionell neutral sein dürfen:

"Art. 27 Abs. 3 BV bedeutet für die öffentlichen Gemeinschaftsschulen keineswegs, dass sie jeder­zeit ohne sich zu ändern von den Angehörigen al­ler Bekenntnisse müssen besucht werden können, sondern dass sie verpflichtet sind, sich in konfes­sioneller Beziehung der konkreten Situation anzu­passen und die Religionsfreiheit derjenigen zu re­spektieren, welche diese Schule gerade benützen. Soweit kein andersdenkender Insasse in seiner Re­ligionsfreiheit konkret verletzt wird, darf also auch eine öffentliche Gemeinschaftsschule religi­ös oder weltanschaulich ausgerichtet sein. (ebd., 89)

Er geht sogar noch weiter und legt die Glaubens- und Gewissensfreiheit positiv so aus, dass die Schule ver­pflichtet sei, die Entfaltung der religiösen Kräfte zu fördern. Auch diesen Aspekt schütze die Glaubens­und Gewissensfreiheit. Religiöse Abstinenz dürfe nie das Ziel sein, sonst würden die öffentlichen Schulen zum Spielball der öffentlichen Interessen:

"Denn die öffentlichen Gemeinschaftsschulen sind wegen des positiven Gehaltes der Religions­freiheit verpflichtet, sich injeder Beziehung der konkreten konfessionellen und weltanschaulichen Situation anzupassen, und es hängt von den inje­der einzelnen Schule vertretenen Auffasungen ab, wieweit der allgemeine Unterricht und die Erzie­hungstätigkeit konfessionell ausgerichtet werden darf und muss und inwieweit auch eine religiöse Betätigung zulässig ist, welche einzelne Schüler ablehnen" (ebd., 93).

Wir beschränken heute die positive Glaubens- und Gewissensfreiheit in dem Moment, in demjemand in seiner negativen Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt werden könnte. PETITJEAN betont, dass die Schule ja immer ein gewisses Bekenntnis vertritt und dass keine Neutralität in der Schule möglich sei, denn sie soll nicht bloss ein Nebeneinander von Werten, sondern eine Wertordnung vermitteln:

"Eine Lehranstalt kann - wie ich meine - nur dann eine Schule sein, ...wenn die Lehrer auf die Vermittlung einer Wertordnung hinwirken. Aller­dings wird diese Wertordnung keine geschlossene sein dürfen, wenn Schüler verschiedener Religio­nen und Weltanschauungen die betreffende Schu­le besuchen. Auch in diesem Fall kann die öffent­liche Gemeinschaftsschule aber nicht in einem ab­soluten Sinne konfessionell neutral sein" (ebd., 97f).

Hierbei bezieht er sich auf SCHINDLER (1944, 7), nach dem das Fehlen von konfessionellen Elementen am Erziehungsziel der Schule vorbeischiessen würde. Jede Erziehung bewege sich, gemäss RAMBOW (1966, 138), in einem Bereich, der auch die religiöse Sphäre umschliesse. Erziehung müsse deshalb auch die religiösen Grundlagen der zu erziehenden Men­schen aufnehmen und diese auch vermitteln:

"Somit können Religionen und Weltanschauungen im Erziehungswesen nicht ausgeklammert wer­den, und der Staat, der die Leitung des Schul- und Erziehungswesens für eine seiner Obliegenheiten hält, kann bei der Erfüllung dieser Aufgabe religi­ösen und weltanschaulichen Fragen nicht auswei­chen" (ebd.).

Ich fasse kurz zusammen: PETITJEAN unterscheidet zwischen einer positiven und einer negativen Glau­bens- und Gewissensfreiheit und begründet das Ver­bot religiöser Abstinenz vor allem mit der positiven Glaubens- und Gewissensfreiheit. Seiner Meinung nach widersprechen konfessionelle Schulen der Glau­bens- und Gewissensfreiheit nicht, solange es auch öffentliche Volksschulen gibt, in die alle, die keine konfessionell ausgerichtete Bildung wollen, ihre Kin­der schiken können. Aber, und das ist für diese Zeit eigenartig, auch die öffentlichen Schulen dürfen den Konfessionen gegenüber nicht neutral sein, sondern sollen eine Haltung haben, die den Konfessionen grundsätzlich bejahend gegenübersteht.

Weiter betont er, wie ERLINGHAGEN (1972), dass es nicht einfach um christliche Grundlagen, sondern um konfessionell gebundene Grundlagen gehe. Er­staunlich ist, dass religiöse und weltanschauliche Fra­gen beide unter die Glaubens- und Gewissensfreiheit fallen und in einem Atemzug erwähnt werden. Wenn man sich überlegt, wie weitreichend weltan­schauliche Unterschiede im Vergleich zu religiösen sein können, lässt sich vermuten, dass ein noch be­deutend kleineres Bewusstsein der Pluralität der Ge­sellschaft vorhanden war. Das bestätigen auch seine Einleitungsworte.

PETITJEAN fasst im hinteren Teil des Buches die Diskussion um eine gemeinsame Verfassung der bei­den Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Land zusam­men, die aufgrund einer Initiative, die die beiden Halbkantone zu einem Kanton Basel wiedervereinen sollte, erarbeitet wurde29. Gerade in dieser Diskussion wurde die Frage, welche Ausrichtung die Schule ha­ben darf, eingehend diskutiert. Einige Ausschnitte aus dieser Diskussion möchte ich hier wiedergeben, da sie aufzeigen, wie stark PETITJEANs Position dem damaligen gesellschaftlichen Wertempfinden in der Schweiz entsprach. Die Art der Argumente ist den Argumenten, wie sie 1951 im Grossen Rat des Kantons Bern vorgebracht wurden, sehr ähnlich.

Auch hier geht es um die Bestimmung des Begriffes 'christlich', der eine entscheidende Rolle spielt. Ich betrachte vor allem einige Extrempositionen.

Professor Fuchs, ein Verfassungsratsmitglied, betont, das Christentum sei nichts Ideales oder etwas, das ausserhalbjeder Normierung stehe, sondern etwas höchst Konkretes. Gegen den Einwand, dass man 'christlich' nicht definieren könne, sagt er:

"Ich glaube,jeder der Anwesenden weiss, was im Grunde damit gemeint ist. Es geht nicht um Dog­matik, nicht um Konfessionalisierung, sondern um die Grundsätze des menschlichen Zu­sammenlebens, um die Achtung des Mitmen­schen, die soziale Verantwortlichkeit, vor allem auch um die Achtung der religiösen Überzeugung des anderen. Gerade hier scheint die christliche Grundlegung der beste Weg zu sein, umjene Pos­tulate zu verwirklichen. Was wäre unser Gemein­wesen mit all seinen sozialen Einrichtungen, wenn nicht das christliche Denken unseren Vorfahren eingepflanzt worden wäre? Rechtsgleichheit, Freiheitsrechte, Toleranz sindja weitgehend profa­niertes christliches Denken" (Verfassungs­ratsprotokoll VRPr, 619. Hier: ebd., 148f).

Zu einem ganz entgegengesetzten Schluss kommt Dr. Stofer in einem Gutachten, das erarbeitet wurde, weil sich die jüdische Gemeinde in Basel besorgt darüber geäussert hatte, dass der Kanton Basel eine christli­che Grundlage erhalten sollte. Die zentrale Frage sei vor allem, worin die christliche Grundlage bestehen solle:

"Soll die christliche Grundlage für den profanen Unterricht sich nicht in einigen Allgemeinheiten erschöpfen, was nicht vorausgesetzt und garantiert werden kann, so wird sie sich darin äussern, dass der christliche Glaube den letzten Massstab bildet für die Bewertung aller Lebenserscheinungen und unserer gesamten Kultur, und dass die christliche Weltanschauungjeder anderen Unterrichtsform vorgezogen wird. So muss ein auf christlicher Grundlage erteilter Geschichtsunterricht, der Auf­stieg und Niedergang der Völker und Kulturen be­handelt, notgedrungen in Zusammenhang gebracht werden mit der christlichen Ethik und mit der vom Christentum vertretenen Heilsgeschichte. Auch muss das Naturgeschehen als im Einklang stehend mit der christlichen Weltsicht dargestellt werden. Zwischen Religion und Wissenschaft darf kein Widerspruch geduldet werden. Im Zweifel hat die Wissenschaft unrecht" (VRB Nr. 20, S. 17f. Hier: ebd., 164).

Zwischen einem Religionsunterricht im herkömm­lichen Sinne und einem derartigen auf christlicher Grundlage erteilten Unterricht in den profanen Fä­chern bestehe nur ein gradueller Unterschied. Ein auf christlicher Grundlage erteilter Unterricht müsse auf die Anhänger anderer Bekenntnisse genau so wirken wie ein Religionsunterricht. Christlich fundierte öf­fentliche Schulen seien daher verfassungswidrig.

In die gleiche Richtung geht auch eine Stellungnah­me, die das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepar­tement am 21.10.1940 erarbeitete. Sie behandelte die Frage einer kantonalen Erziehungsdirektion, die sich über die Zulässigkeit einer christlichen Schul­grundlegung erkundigte. Diese Stellungnahme sagt, dass jede Beeinflussung eines Kindes, sei es positiv durch religiösen Unterricht, sei es negativ durch An­griffe auf religiöse Ansichten, eine Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit darstelle, sofern der Inhaber der elterlichen Gewalt damit nicht einver­standen sei. Art. 27 BV bestehe nicht nur zu Gunsten der christlichen Konfessionen, sondern alle sollen ge­mäss dieser Verfassungsbestimmung vor der Beein­flussung ihrer Kinder geschützt sein.

Die Mehrheit im Rat war aber der Auffassung, dass die Schweiz durch und durch im christlichen Gedan­kengut verwurzelt sei und faktisch ein christliches Staatswesen sei. Wegen der Verbundenheit unseres Volkes und unseres Staates mit der christlichen Ethik sei eine christliche Schulgrundlegung - im Gegensatz zu einer atheistischen, welche verfassungswidrig wäre - zweifellos zulässig. Die Gegner seien von ih­rer eigenen Überzeugung geleitet gewesen bei ihrem Gutachten. PETITJEAN fasst die Begründung des Rates wie folgt zusammen:

"In einem Staat, dessen Grundordnung entschei­dend vom Christentum geprägt sei, könne die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht losgelöst von den vertrauten und anerkannten Anschau­ungen verstanden und ausgelegt werden. Mit der Einführung der Glaubens- und Gewissensfreiheit sei keinesfalls die Lösung der Schule von ihrer ideellen Zwecksetzung beabsichtigt, sondern le­diglich die Unzulässigkeit irgendwelchen Glau­benszwanges ausgesprochen worden" (ebd., 170).

Folgender Zweckartikel wurde für das Schulgesetz vorgeschlagen:

"Die Schulen fördern in Ehrfurcht vor Gott, in christlicher Nächstenliebe und in Achtung vor der Überzeugung des Mitmenschen die harmonische Entwicklung der geistigen, seelischen und körper­lichen Kräfte der Jugend und erziehen die Schüler zu selbständigem Arbeiten und Denken. Sie unter­stützen das Elternhaus in der Charakterbildung.

Sie vertiefen und fördern die Verbundenheit der Schüler mit der Heimat und ihre Erziehung zur Mitverantwortung im schweizerischen demokrati­schen Staat" (ebd., 171).

Andersdenkende sollen nicht nur toleriert, sondern in ihrer Überzeugung geachtet werden. Diese drei Ele­mente, nämlich Ehrfurcht vor Gott, christliche Nächs­tenliebe und Achtung vor der Überzeugung des Mit­menschen als sich bedingende und bestimmende Bil­dungsziele gewährten der Schule die notwendige sitt­liche Verankerung und machten so die Glaubens- und Gewissensfreiheit erst richtig verständlich. Niemand bestreite im übrigen, dassjedes Erziehen auf einer ethischen Grundlage erfolgen müsse. Einem christli­chen Volk müsse es die christliche Ethik sein. Unser Recht dürfe nicht einfach neutral den verschiedenen Weltanschauungen gegenüberstehen, als ob alle Weltanschauungen gleichbedeutend wären. Das Recht müsse sich beständig nach seinen ethischen Grundlagen ausrichten, sei also nicht im Stande, sei­ne Kraft aus sich selber zu schöpfen, ohne zu einer eitlen Zwangsordnung zu werden.

PETITJEAN fasst folgende Richtlinien in seiner Ar­beit zusammen:

a) christliche Sittenvorstellungen, welche keinen spe­zifisch-konfessionellen Charakter haben, dürfen auch an öffentlichen Schulen gelehrt werden. Dies wird durch den positiven Gehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit begründet. Die ethische Grundlage der Gemeinschaftsschulen muss bei der heutigen Be­völkerungsstruktur faktisch sicher irgendwie christ­lich sein. Das heisst indessen nicht, dass die Ge­meinschaftsschulen anderen Bekenntnissen und Weltanschauungen ablehend gegenüberstehen dürfen. Im Gegenteil, gerade ihrer christlichen Ausrichtung wegen ist es ihnen verboten, beispielsweise Juden oder Atheisten zu kompromittieren.

b) Eine spezifisch konfessionelle Ausrichtung darf nur dann gegeben sein, wenn alle vertretenen Glau­bensansichten der Schüler übereinstimmen und zufäl­lig eine situative Einheit besteht.

Dürfen die Kantone nun religiöse-konfessionelle Zweckartikel formulieren? Ja, weil sie sich auf die positive Kraft der Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen können. Sie müssen aber darauf achten, dass die Schulen von einer religionsfreundlichen sowie to­leranten Haltung geprägt sind. Ich werde diese Schlussfolgerungen weiter unten aufgreifen und dis­kutieren.

Wahrung der Glaubens- und Gewissensfreiheit bedingt eine weltanschaulich freie Haltung der Schule

DEHNHARD (1972) setzt sich in seiner Dissertation mit dem Titel 'Die Weltanschauungsfreiheit als Strukturprinzip des öffentlichen Schulwesens' mit ei­ner Frage auseinander, die der von PETITJEAN sehr änlich ist:

"Die Frage, ob und in welchem Umfang in den öf­fentlichen Schulen religiöse Ideen und Lebens­formen zur Geltung kommen dürfen, hat die schulpolitische Diskussion beschäftigt, seit der Staat - im 18. Jahrhundert - die Verantwortung für die Schulen übernommen hat. In jüngster Zeit ist das Problem der Vereinbarkeit der Konfes­sionsschule, der christlichen Gemeinschaftsschule und des Schulgebetes mit dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) Gegenstand der Auseinandersetzung gewesen. Dabei ist wenig beachtet worden, dass dieser Grundgesetzartikel nicht nur religiöse, sondern auch weltanschauliche 'Bekenntnisse' schützt" (DEHNHARD 1972, 5).

Bereits hier wird eine erweiterte Betrachtung gegen­über PETITJEAN sichtbar. In der Arbeit von DEHN­HARD wird der Gedanke der weltanschaulichen und nicht nur der religiösen Bekenntnisse klar ein­bezogen. Glaubensfreiheit ist nicht nur Religionsfrei­heit! Nicht nur der Einfluss religiöser Lehrkräfte ist umstritten, sondern auch zum Beispiel der von mar­xistischen Lehrkräften. Es geht deshalb nicht einfach um Schule und Religion, sondern umfassend um weltanschauliche Anliegen in der Schule. Welt­anschauung definiert er wie folgt:

"jede Lehre, ...welche das Weltganze universell zu begreifen und die Stellung des Menschen in der Welt zu erkennen und bewerten sucht". (ebd., 6f)

Hier stellen sich aber in einer zunehmend pluralisti­schen Gesellschaft - und als das versteht DEHN­HARD die deutsche Gesellschaft im Gegensatz zu PETITJEAN die schweizerische - Probleme, da kaumjemand mehr einer in sich konsistenten Weltan­schauung angehört, sondern die meisten haben sich eine Weltanschauung aus verschiedenen grossen Leh­ren zusammengestellt:

"Verstünde man unter 'Weltanschauung' im Sinne Art. 4 GG ein vorgegebenes theoretisches System, würde die Weltanschauungsfreiheit dem Bürger das Recht geben, sich einer der bestehenden Rich­tungen anzuschliessen und die betreffende Lehre zu übernehmen und zu vertreten. Eine Pluralis­muskonzeption, nach der die weltanschaulichen Konzeptionen in deutlich voneinander ab­zugrenzenden Systemen und entsprechenden ge­sellschaftlichen Gruppen in Erscheinung treten, wirdjedoch der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gerecht. Bei der gegenwärtigen Bewusst­seinslage kommt die Weltanschauung der meisten Menschen durch eine Vermischung unzähliger Meinungen, Lebensformen und Ideologiefetzen zustande. Die Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Weltanschauungsgemeinschaft besagt wenig über die tatsächliche Weltanschauung des Betreffen­den. Eine Interpretation des Art. 4 GG, nach dem dieser nur das Recht zur Übernahme bestehender weltanschaulicher Systeme schützt, wäre daher unbefriedigend. Dem freiheitlichen Grundcharak­ter des Grundgesetzes entsprechend ist vielmehr dem Bürger das Recht zuzugestehen, auch kriti­sche Positionen zu beziehen und Alternativen ge­genüber tradierten Vorstellungen zu entwickeln. Nicht nur die durchreflektierten weltanschauli­chen Systeme, sondern auch die nur ansatzweise reflektierten Versuche, sich des Verhältnisses zur Welt zu vergewissern, sind daher als Weltan­schauung im Sinne Art. 4 GG zu verstehen" (ebd., 7f).

Es sind also nicht nur Bekenntnisse geschützt, son­dern auch zum Beispiel a) die Kritik von bestehenden Weltanschauungen, sowie b) unsystematische an­satzweise Versuche sich Vorstellungen zu machen. Dann auch c) internalisierte bewusste, aber auch un­bewusste Wertvorstellungen, sowie allgemein d) die Gesamtheit der bewussten und unbewussten Vorstel­lungen, mit denen der Mensch die Gesamtheit der Le­benserfahrungen ordnen, deuten und bewerten will. Das beinhaltet auch religiöse Vorstellungen, auch sie fallen bei ihm unter den Begriff der Weltanschauung. Es fällt auf, dass DEHNAHRD hier den Begriff Weltanschauung sehr weit fasst, was aber für eine konkrete Auslegung des Gesetzes in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft auch wichtig ist.

Die Frage stellt sich nun, welche weltanschaulichen Vorstellungen im Schulwesen vertreten werden sol­len. Alle pädagogischen Bemühungen sind seines Er­achtens weltanschaulich motiviert. Deshalb fragt er, wie in einem staatlichen Schulsystem darüber ent­schieden werden kann, was unterrichtet werden soll. DEHNHARD versteht den Staat als zusammengesetzt aus der Gesamtheit der öffentlichen Meinungen, und deshalb darf er keine der vertretenen gesellschaftli­chen Meinungen begünstigen:

"Durch die Weltanschauungsfreiheit ist dem Staat die Entscheidung über weltanschauliche Fragen entzogen. Er darf keine weltanschaulichen Kon­zeptionen propagieren oder auch nur einzelne weltanschauliche Richtungen begünstigen oder benachteiligen. Staatliches Handeln muss welt­anschaulich neutral sein. Die Weltanschauungs­freiheit bejaht die Pluralität der weltanschaulichen Richtungen, die Individualität der weltanschauli­chen Haltungen und die freie Auseinandersetzung zwischen ihnen. Der Staat kann sich nicht auf eine vorgegebene weltanschauliche Uniformität stüt­zen und darf nicht versuchen, diese durch seine Politik herzustellen" (ebd., 12).

Der Staat hat nach Meinung DEHNHARDs, im Ge­gensatz zur Auffassung von STEPHANY (1964), kein Recht, die Staatsideologie durch die Schule zu verbreiten. Welche weltanschaulichen Vorstellungen für das Handeln des Staatsbürgers leitend sein sollen, darf nicht von staatlichen Instanzen entschieden wer­den. Die Weltanschauungsfreiheit geht in beide Rich­tungen: Sie betrifft auf der einen Seite den Schutz vor staatlichen Übergriffen und auf der anderen Seite das Recht, die staatliche Meinung mitbestimmen zu kön­nen. Das beinhaltet auch, dass man zum Beispiel die Grundrechte nicht, um Konflikten aus dem Weg zu gehen, einfach auf den ausserstaatlichen Bereich be­schränken darf; vor allem auch deshalb nicht, weil der Staat immer mehr Bereiche auch des privaten Le­bens regelt. Die weltanschauliche Reflexion und Kommunikation und die damit verbundene Glaubens­und Gewissensfreiheit gilt nicht nur für das private, sondern auch für das politische Leben. Das ganze Le­ben wird, so DEHNHARD, von weltanschaulichen Gegensätzen geprägt, der Staat ist davon nicht ausge­nommen: "Besonders die These, der moderne Staat stehe jenseits der weltanschaulichen Gegensätze, lässt sich nicht aufrechterhalten" (ebd., 179).

Wie aber soll die weltanschauliche Neutralität des Staates verstanden werden? DEHNHARD versteht sie als Offenheit des Staates für alle weltanschauli­chen Richtungen. Der Staat hat die Schulaufsicht, aber die damit verbundenen Kompetenzen beschrän­ken sich auf die Organisation und Förderung des Schulwesens. Er schliesst die in den Grundrechten garantierten Teinahmerechte nicht aus, sondern ver­pflichtet den Staat, das Schulwesen so zu organi- siseren, dass es einem freien gesellschaftlichen Le­bensprozess offensteht. Dieser Gedanke sei neu, denn erst im 19. Jh. wurde die volle Kultusfreiheit in Deutschland eingeführt. DEHNHARD behauptet, dass der Staat dies zugelassen habe, weil er glaubte, in der Schule ein genügend wirkungsvolles System zu haben, das ihm die Kontrolle über die Gesellschaft ermöglichen würde. Dass dies so nicht geht, will DEHNHARD aufzeigen. Er vergleicht mehrere Mo­delle, die zeigen, was getan werden muss, damit das öffentliche Schulwesen den Intentionen und dem Prinzip der Weltanschauungsfreiheit gerecht wird.

Die zentrale Frage dabei ist, wie die Weltanschau­ungsfreiheit von Schülern, Lehrern und Eltern ge­schützt werden kann. Nur das von ihm entworfene Modell erfüllt alle von ihm genannten Bedingungen.

1. Eine erste Konzeption geht davon aus, dass in der Schule nur das allen Gemeinsame unterrichtet wird. Diese Konzeption hat folgende Mängel: Die Schule wird der weltanschaulichen Auseinandersetzung ent­zogen, da der Staat regelt, was allen gemeinsam ist. Damit aber trifft er weltanschauliche Entschei­dungen. Nach DEHNHARD ist die öffentliche Aus­einandersetzung notwendig, um die weltanschau­lichen Prämissen der pädagogischen Arbeit bewusst zu machen. Vor allem aber soll bereits die Schule ge­wisse weltanschauliche Gegensätze unbedingt zulas­sen und so der Vorbereitung für das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft dienen.

2. Eine zweite Konzeption, die zum Teil der Kon­zeption von PETITJEAN entspricht, beinhaltet, dass sich die Schule an den kirchlichen Lehren und Be­kenntnissen ausrichtet und dies damit begründet, dass ein Grossteil der Bevölkerung christlich ist. Auf­gabe des Staates sei es, Konfessionsschulen oder christliche Gemeinschaftsschulen einzurichten.

Wichtig sei es dabei, Minderheiten tolerant zu behan­deln. Diese Konzeption benachteiligt nach DEHN- HARD alle Minderheiten und ist mit den Grund­rechten nicht vereinbar! Die Mitgliedschaft in einer Kirche sage zudem wenig über die faktischen Interes­sen an den kirchlich orientierten Schulen und es gebe keine einheitlichen Vorstellungen von einer christli­chen Schule. Auch bei diesem Ansatz kritisiert DEHNHARD, dass der Staat kein Recht habe, die weltanschauliche Basis der Schule zu bestimmen:

"Die Forderung, die Schulen sollten sich an den kirchlichen Lehren orientieren, verkennt, dass der Staat nicht in der Lage ist, wirksam die Orientie­rung an einer bestimmten weltanschaulichen Kon­zeption vorzuschreiben und deren Verwirklichung zu kontrollieren. Besondere Probleme entstehen bei der Anstellung der Lehrer, da nach Art. 33 III GG der Zugang zu öffentlichen Ämtern von der weltanschaulichen Haltung unabhängig sein muss" (ebd., 182).

3. Die dritte Konzeption fordert, dass die Schule von den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen organisi- sert werden soll und sie vom Staat finanziert werden. Er soll auch gewisse Mindestanforderungen aufstel­len, die sich aus dem Gemeinwohl ergeben, und de­ren Einhalten überwachen. Staatliche Schulen seien nur zulässig, wenn nicht genügend Schulen von den verschiedenen gesellschaftlichen Gemeinschaften ge­gründet werden. An dieser Konzeption bemängelt DEHNHARD, dass sie versuche, die Konfes­sionsschulen zu retten und den Staat und die Gesell­schaft als zwei sich gegenüberstehende Bereiche zu sehen. Seiner Auffassung nach könne die Weltan­schauungsfreiheit auch in der Staatsschule verwirk­licht werden. Kirchliche Schulen könnten dies nur schlecht. Zudem sei zu bezweifeln, dass auf freiwilli­ger Basis genügend Schulen gegründet würden. Hier wird sichtbar, wie ich in der Diskussion der beiden Ansätze noch zeigen werde, dass DEHNHARD Welt­anschauungsfreiheit normativ versteht und deshalb nicht bereit ist, die Schule einer weltanschaulichen Gruppe der Gesellschaft zu übergeben.

4. Die vierte Konzeption entspricht in etwa dem An­satz von WENIGER. Er fordert, dass die Bil­dungsziele des Lehrplanes in einem gesellschaftli­chen Diskurs festgelegt werden müssen. Verwaltung, Wissenschaft, gesellschaftliche Gruppen sowie die Bildungsinstitutionen müssten sie aushandeln. Die abschliessende Entscheidung, welche Inhalte gewählt werden, habe durch das Parlament zu erfolgen. So habejede Gruppe die Möglichkeit, ihre Interessen einzubringen. An dieser Konzeption bemängelt er, dass das bedeuten würde, dass letztlich doch wieder der Staat die weltanschaulichen Vorstellungen der Schule vorschreibt. Die Schule müsse aber gerade Weltanschauungsfreiheit ermöglichen. Politische Aufgaben seien rein staatliche Aufgaben, auch wenn sie durch ein öffentlich gewähltes Parlament erfol­gen. Die staatlichen Instanzen seien zudem zu schwerfällig, den soziokulturellen Wandel genügend rasch zu berücksichtigen.

Als Alternative entwirft er folgenden Entwurf. Er geht davon aus, ganz im Sinne von PETITJEANS po­sitivem Gehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit, dass Weltanschauungsfreiheit auch bedeutet, aktiv Einfluss nehmen zu können. Was das konkret bedeu­tet, diskutiert er nun für die drei Personengruppen Schüler, Eltern und Lehrer.

a) Auf der Ebene der Schüler bedeutet die Glaubens­und Gewissensfreiheit, dass der Staat die Schule so organisieren muss, dass die Grundrechte der Schüler ausgeübt werden können und sie auf das Ausüben der Grundrechte in der Gesellschaft vorbereitet werden. Die Weltanschauungsfreiheit gibt den Schülern das Recht, ihre weltanschaulichen Vorstellungen im Un­terricht zu äussern. Die Schule muss die Schüler im Bilden weltanschaulicher Vorstellungen fördern.

b) Auf der Ebene der Lehrer bedeutet es, dass sie so­wohl von ihrer Weltanschauungsfreiheit Gebrauch machen dürfen, aber gleichzeitig auf die noch nicht voll augebildete Kritikfähigkeit der Schüler Rück­sicht nehmen müssen. Die Lehrer sollen sehr wohl am öffentlichen, weltanschaulichen und politischen Diskurs teilnehmen können.

c) Auf der Ebene der Eltern heisst das, dass sie im Schulwesen mitbestimmen können und dieses Recht nicht nur in der Schulwahl bestehen darf. Sie müssen an der weltanschaulichen Grundlage der Schule mit­bestimmen können. Das erfordert die kontinuierliche, institutionalisierte Kommunikation zwischen Lehrern und Eltern.

Weltanschauungsfreiheit ist zusammenfassend dann gegeben, wenn auf der Ebene der einzelnen Schule die Frage, welche weltanschaulichen Vorstellungen in der pädagogischen Arbeit zur Geltung kommen sollen, Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung ist. Die Organisation davon ist zwar vermutlich nicht leicht und darf auch nicht die herkömmlichen Formen des Verwaltungsrechtes haben, da diese zu kompli­ziert sind, aber diese Art, das öffentliche Bildungswe­sen zu organisieren, ist seiner Meinung nach die ein­zige, die einer pluralistischen Gesellschaft gerecht wird.

Diskussion der beiden Beiträ­ge Das Hauptthema, um das sich beide Dissertationen drehen, ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit und dabei vor allem der Aspekt der positiven Glaubens­und Gewissensfreiheit. Die beiden Autoren kommen in der Interpretation des Verhältnisses von Schule, Glaube und Staat zu völlig unterschiedlichen Positio­nen. Beiden gemeinsam ist, dass sie die positive Glaubens- und Gewissensfreiheit verwirklicht wissen wollen.

Dies bedeutet bei PETITJEAN, dass er dafür eintritt, dass der Staat durch die Präambel der Bundes­verfassung, und weil ein Grossteil der Bevölkerung sich als christlich ausgerichtet versteht, verpflichtet ist, Bekenntnisschulen zu führen. Durch die christli­che Ausrichtung des Volkes müsse der Staat solche Schulen anbieten, wenngleich daneben auch öffentli­che Gemeinschaftsschulen angeboten werden müs­sen, damit diejenigen, die sich nicht der christlichen Religion verpflichtet sehen, eine Alternative haben. PETITJEAN versteht die Gesellschaft als christliche, ja sogar als entweder katholische oder reformierte Gesellschaft. DEHNHARD dagegen versteht die Ge­sellschaft als pluralistische Gesellschaft, die keiner gemeinsamen Weltanschauung gegenüber ver­pflichtet ist. Es stehen sich aber nicht einmal mehr Weltanschauungen gegenüber, sondernjeder setzt sich seine Weltanschauung im Baukastensystem frei zusammen. Aus dem Grund bedeutet die Verwirkli­chung der Glaubens- und Gewissensfreiheit, dass je­der Anrecht auf Schutz seiner Weltanschauung hat und zudem mitbestimmen kann, wie die Schule ge­staltet werden soll, da DEHNHARD nicht bereit ist, die Schule aus dem staatlichen Einfluss zu entlassen. Der Staat darf aber nicht beeinflussend auf die Inhal­te der Schule einwirken, sondern die Schule muss Plattform der daran Beteiligten (Eltern, Lehrer, Kin­der) und ihrerjeweiligen Weltanschauungen sein. Wenn PETITJEAN eine christliche Schule will, will DEHNHARD gerade keine inhaltlich bestimmte Aus­richtung der Schule. Beide stützen sich dabei auf die positive Glaubens- und Gewissensfreiheit, daja, zu­mindest bei DEHNHARD, alle ihr Bekenntnis in die Institution hineintragen können. Es fällt auf, dass PE­TITJEAN die Glaubens- und Gewissensfreiheit vor allem auf katholische und reformierte Inhalte bezieht. DEHNHARD dagegen bezieht sie aufjeden welt­anschaulichen Gedanken. PETITJEAN will zwar kei­ne christliche Schule in dem Sinne, dassjedes Fach­gebiet aus einer christlichen Optik heraus betrachtet wird, sondern das Christliche soll eine Art Rahmen darstellen, den er aber nicht weiter bestimmt. Sogar die öffentliche Gemeinschaftsschule soll in diesem allgemeinen, historisch verstandenen Sinne christlich ausgerichtet sein.

Man könnte auf den Gedanken kommen, dass beide versuchen, dieje prägenden Verhältnisse in ihrem Land juristisch zu rechtfertigen. PETITJEAN beur­teilt die Schweiz zu dem Zeitpunkt als weitgehend christlich und sagt zu Beginn auch klar, dass es um die Frage geht, ob eine christliche Ausrichtung der Schule nicht von der Verfassung her gefordert sei. DEHNHARD sieht die deutsche Gesellschaft als zu­nehmend pluralistisch und versucht daraus zu bestim­men, wie eine Schule in einer pluralistischen Gesell­schaft aussehen muss. Pluralismus versteht er dabei aber nicht liberal, sondern normativ. Die Schule muss pluralistisch ausgerichtet sein und die Schüler auf Pluralismus verpflichten oder zumindest damit konfrontieren. Der Prozess, in dem eine Ausrichtung der Schule gefunden werden soll, ist ein Ge­sprächsprozess, an dem alle Beteiligten teilnehmen sollen, um so ihre Ideen einzubringen.

Es fällt auf, dass vor allem der positive Aspekt der Glaubens- und Gewissensfreiheit zu verschiedenen Konflikten führt. Bei PETITJEAN erstaunt der redu­zierte Blick, der die Glaubens- und Gewissensfreiheit vor allem auf katholische und reformierte Vor­stellungen bezieht. Bei DEHNHARD bezweifle ich, dass Schule, wenn wirklich alle ihre Weltanschauung einbringen sollen, noch funktionieren kann. Sie ist dann sicher plural, aber ob man dort noch lehren und vor allem lernen kann, bezweifle ich, denn wie sollen die Inhalte bestimmt werden33? In den vergangenen zwanzig Jahren hat man deshalb, wie GASSER (1991, 10-16) aufzeigt, vor allem noch den negativen 33 Ich verweise hier noch einmal auf den Aufsatz von HENSEL (1981), in dem er zeigt, wie zentral ein Wertkonsens und nicht bloss ein Wertkompromiss für die Erziehungsarbeit ist.

Aspekt der Glaubens- und Gewissensfreiheit themati­siert. Dies bedeutet, dass alles rausfallt, was irgend jemanden verletzen könnte. Das geht, wie GASSER zu Recht aufzeigt, eigentlich immer auf Kosten der bekennenden Gruppen. Hier stellt sich die Frage, wie weit das gehen kann, besonders dann, wenn auch weltanschauliche Inhalte im weiten Verständnis von DEHNHARD gemeint sind! DEHNHARD hat den Aspekt der Pluralität in seinem Konzept klar an erste Stelle gesetzt. Pluralität ist die Norm, die bestimmt, wie die Schule, sogar die Privatschule, gestaltet wer­den muss. Auch Privatschulen müssen Weltanschau­ungsfreiheit, verstanden als völliges Offensein, ga­rantieren. Dies wird in dem Teil deutlich, in dem er die Privatisierung der Schule durch Weltanschau­ungsgemeinschaften diskutiert. Er kritisiert hier ka­tholische Vertreter, dass sie in ihren Schulen nicht bereit wären,jede Ansicht gleichberechtigt neben an­deren Ansichten stehen zu lassen. Gerade wenn es zum Beispiel um Kritik an der katholischen Kirche geht:

"Injedem Fall würde aber die Weltanschauungs­freiheit dadurch beeinträchtigt, dass der Unterricht in kirchlichen Konfessionsschulen aus der Sicht einer bestimmten Weltanschauung erteilt werden soll. ...als Voraussetzung der Auseinandersetzung mit der pluralistischen Wirklichkeit soll der Schü­ler zunächst einen festen Standpunkt gewinnen, soll er das 'Rüstzeug für das turbulente Leben des Geistes' erhalten. Eine Schule dieser Art geht also von bestimmten weltanschaulichen Positionen aus, die in dieser Schule nicht in Frage gestellt werden dürfen. Es ist daher nur eine beschränkte Offenheit für die Auseinandersetzung mit anderen Richtungen möglich. Kritische Anfragen an den Katholizismus, sowie sie dessen Grundlagen be­rühren, werdenjedenfalls nicht mit unvoreinge­nommenem Verständnis rechnen können" (DEHNHARD 1972, 99).

Interessant finde ich, dass gerade darin, dass auch DEHNHARD Pluralismus als Norm versteht, deut­lich wird, dass beide Konzeptionen selbst welt­anschaulich gebunden und deshalb keine von beiden wirklich neutral oder liberal, ja, ich würde sogar sa­gen, auch nicht wirklich pluralistisch ist. Die span­nende Frage ist doch, ob in einer pluralistischen Ge­sellschaft Pluralismus zur Norm gemacht werden darf. Mit gleicher Begründung machtjemand, wie PETITJEAN es vorschlägt, in einer christlichen Ge­sellschaft das Christentum zur grundsätzlichen Norm.

DEHNHARD hat bei seiner Schulkonzeption zwar den Aspekt des Pluralismus in den Vordergrund ge­rückt, andere Aspekte, zum Beispiel die Ver- mittelbarkeit des Wissens, die an ein mehr oder weni­ger kohärentes Weltbild gebunden ist, aber offen­sichtlich nicht berücksichtigt. Wir werden sehen, wie sich die Diskussion im Grossen Rat des Kantons Bern zwischen diesen zwei Polen von PETITJEAN und DEHNHARD hin- und herbewegt.

Untersuchungsinstrument, um den Wandel der Priori­tät christlicher Werte nachweisen zu können

Wie kann man, in den von mir untersuchten Mate­rialien, christliche Werte und deren Prioritätenwandel nachweisen? Anfänglich wollte ich einen Katalog christlicher Werte zusammenstellen und dann unter­suchen, welche Werte dieses Katalogs welche Stel­lung einnehmen. Gerade diese Bestimmung hat sich aber als recht schwierig erwiesen. Verschiedene Be­griffe werden zum Beispiel dezidiert der Aufklärung oder ebenso dezidiert dem Christentum zugeordnet. Das Erstellen eines Katalogs von christlichen Werten kann nicht genügend trennscharf gemacht werden.

Ich versuche deshalb christliche Werte an ihren Aus­wirkungen nachzuweisen. Dies geschieht anhand von zwei Aspekten, und das Vorgehen ist vergleichbar mit dem Vorgehen zum Beispiel der interkulturellen Pädagogik, in der gewisse Werte auch bis in die Fachbereiche hinein (sogar bis in die Mathematik) umgesetzt werden sollen. Ideen, die uns überzeugen, setzen wir im ganzen Leben um, alles soll davon ge­prägt werden. Ich gehe davon aus, dass das auch für christliche Werte gilt. Das Schwergewicht der Unter­suchung liegt vor allem auf diesen beiden Aspekten:

a) Wie wird das Wissen präsentiert? Hier frage ich nach dem Bedeutungs- oder Bezugsrahmen, in den das Wissen gestellt wird. Gibt es dabei christliche Bezüge und spielen dadurch christliche Werte eine Rolle?

Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Im Naturkun­deunterricht ist um I960 herum klar, dass das, was in der Natur beobachtet und beschrieben werden kann, Schöpfung Gottes ist, und deshalb spielt die Entste- hungs- oder Herkunftsfrage hier keine Rolle. Ganz anders ist das um 1980 herum. Hier wird das, was be­obachtet und beschrieben werden kann, in einen evo­lutionären Kontext gestellt und die Ent­wicklungsdimension in den Vordergrund gerückt. Die Annäherung über den Bedeutungsrahmen ermöglicht es, besser zwischen den Fakten und der Bewertung dieser Fakten zu unterscheiden. Die Schädelformen von Affen und Menschen sind im Lehrmittel von 1960 ein Faktum und werden nicht in einen bestimm­ten Deutungskontext gestellt, respektive sind sie es durch den Schöpfungsglauben, der dem ganzen Un­terricht unterlegt ist. Im Lehrmittel von 1980 werden die gleichen Fakten präsentiert, aber es wird explizit ein Deutungskontext dazu angegeben: der phylogene­tische Zusammenhang der beiden Schädelformen in­nerhalb der Evolutionstheorie.

Gerade dieser Deutungskontext sagt sehr viel über die zugrundegelegten Werte aus, die das Erzie­hungsgeschehen leiten sollen. Auch bei den Leitideen oder den allgemeinen Überlegungen zur Erziehungs­arbeit wird dies in den untersuchten Lehrplänen deut­lich. Dieser Kontext wird zum Beispiel oft schon durch die Wortwahl sichtbar. Wenn bei der Erzie­hungsaufgabe der Schule von 'Gottesfurcht' gespro­chen wird, verweist das auf einen christlichen oder zumindest religiösen Deutungsrahmen moralischen Verhaltens. Wenn dagegen von 'Toleranz' gesprochen wird, ist der Deutungsrahmen zumindest nicht spezi­fisch christlich.

b) Welche Inhalte wurden ausgewählt, respektive nicht ausgewählt?

Der Auswahl von Inhalten liegen Wertentscheide zu­grunde, da durch die Inhalte bestimmtes Wissen und damit bestimmte Werte vermittelt werden sollen.

Hier war vor allem entscheidend, welche Inhalte im Verlauf der Zeit wegfallen, obschon sie vom Fach oder vom Thema her durchaus angebracht wären. In verschiedenen Fächern, zum Beispiel den Sprachfä- chern, werden Ausschnitte aus dem täglichen Leben thematisiert, um daran die sprachlichen Fähigkeiten zu trainieren. Welches Bild des täglichen Lebens wird dabei vermittelt? Kommen darin die christliche Religion, die Kirche oder christliche Wertbezüge vor oder nicht? Diese Frage ist sehr ergiebig, da sie viel darüber aussagt, was als 'normales Leben' oder als 'normale Themen' betrachtet werden. Was aber 'nor­mal' ist, kann prioritär im Wertsystem der Gesell­schaft nicht unbedeutend sein, vorausgesetzt, es wird durch die Art der Darstellung nicht eine andere Wer­tung unterlegt. Zum Beispiel kann der Ablasshandel der Kirche im Mittelalter durchaus auch heute noch dargestellt werden, doch wird der Darstellung meis­tens eine bestimmte Wertung unterlegt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 154 Seiten

Details

Titel
Schule und christliche Werte
Untertitel
Christliche Werte und ihr Einfluss auf das deutschsprachige Volksschulsystem des Kantons Bern zwischen 1950 und 1995
Hochschule
Universität Bern
Note
5.5
Autor
Jahr
1996
Seiten
154
Katalognummer
V138224
ISBN (eBook)
9783640470792
ISBN (Buch)
9783640470778
Dateigröße
2255 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
3. verbesserte Auflage
Schlagworte
Schule, Werte, Christliche, Werte, Einfluss, Volksschulsystem, Kantons, Bern
Arbeit zitieren
lic.päd. Daniel Kummer (Autor:in), 1996, Schule und christliche Werte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138224

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Schule und christliche Werte



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden